Diagnose: Gier

Gewinnsucht gehört zum Wesen des Kapitalismus – und des Menschen. Ist die Raffgier deshalb gut? Oder der Kapitalismus schlecht? Vielleicht sind das die falschen Fragen. Falter, 5. November 2008

 

Ein paar Zahlen gefällig? 2.000.000.000.000 $, also 2000 Milliarden Dollar, das ist – vorsichtig geschätzt -, der zusätzliche Kapitalbedarf amerikanischer und europäischer Banken, damit das Finanzsystem wieder liquide und die bisher sehr dünne Kapitaldecke der Institute etwas stabiler wird. 8.200.000.000 $ – 8,2 Milliarden – soviel haben die Banker von Lehman Brothers in den vergangenen zwei Jahren allein an Bonus-Zahlungen kassiert. Wahrscheinlich für ihre genialen Geldanlageideen, die die Bank in den Bankrott gestürzt haben. Der Zusammenbruch von Lehman Brothers war der größte Kollaps, die Hilfe für den Versicherungsriesen AIG Tags darauf die größte staatliche Rettungsaktion der Geschichte. Die bisher fünf größten Investmentbanken der Wall Street – Bear Stearn, Merill Lynch, Lehman Brothers, Goldman Sachs und Morgan Stanley – sind entweder überhaupt untergegangen oder haben aufgehört, Investmenthäuser zu sein. In Großbritannien steigt der Staat gewissermaßen als „Aktionär“ in den Banken ein, die Notenbanken pumpen hunderte Milliarden frisches Geld in den Markt. Die deutsche Regierung legt einen 480-Milliarden-Euro-Rettungsfonds auf. Wir erleben die größte Verstaatlichungswelle seit der Oktoberrevolution. Wohlgemerkt: Nur, damit das System überhaupt noch funktioniert. Damit überhaupt noch irgendjemand irgendwem etwas leiht. Damit es so etwas wie einen Kreditmarkt gibt, sodass Firmen überhaupt noch Geld bekommen können, wenn sie investieren wollen. Auch Österreich hat ein 100 Milliarden Euro Hilfspaket geschnürt. Als erste hat sich die Erste Bank vergangene Woche gemeldet, sie wolle 2,7 Milliarden staatliches „Partizipationskapital“.

 

Weil die amerikanischen Immobilienbanken Milliarden fauler Kredite gebündelt und global verkauft – also regelrecht die Welt infiziert – haben, steht die ganze Architektur des globalen Kapitalismus vor dem Zusammenbruch. Kollapsphantasien? Nun, der Kapitalismus wird überleben, weil der Staat ihn gerettet hat. Eine schöne Pointe auf die „Weniger Staat, mehr Privat“-Irrlehre, die da gleich mit in den Orkus geht. Freilich, die Konjunktur schmiert längst ab. Dass es eine schmerzhafte Rezession geben wird, ist unausweichlich. Gehofft werden kann allenfalls, dass eine tiefe Depression vermieden wird.

 

Was hat uns soweit gebracht? „Der“ Kapitalismus schlechthin? Fehlkonstruktionen im System? Falsche Anreizsysteme? „Der Staat“ gar, weil die US-Regierung Immobilienkredite an arme Leute förderte? Oder schlicht und einfach ein menschlicher Wesenszug – die Gier nämlich?

 

Man solle bitte nicht die Banker anklagen, es hätten doch alle mitgemacht, kommentierte die „Financial Times Deutschland“ vergangene Woche unter dem schönen Titel „Wir sind Gier“. Schließlich: Wer ist denn nicht angesteckt von der Lust am Schnäppchen und der Jagd auf das schnelle Geld? Wer da sagt: „Ich war’s nicht, der Kapitalismus ist es gewesen“, der mache es sich doch viel zu leicht. Einen Schritt weiter geht der Essayist Alan Posener in der „Welt“: „Wer die Gier verurteilt, verurteilt den Kapitalismus“. Denn der Wunsch der Leute, mehr zu haben, hat uns den Wohlstand beschert. Gäbe es keine Gier, würden wir noch im Wald sitzen und Eicheln essen. Schließlich sei der Kapitalismus jenes System, das nachgerade „private Laster“ – wie etwa Eigennutz, Vorteilssucht, Egoismus – in „öffentliche Vorteile“ verwandelt. Posener: „Daran ändert auch die überall gegenwärtige Finanzkrise nichts: Gier ist geil.“

 

Man kann sagen: Das ist nicht ganz unrichtig, aber auch ziemlich falsch. Mag für die kapitalistische Marktwirtschaft, wie das Peter Sloterdijk auf die ihm eigene Art formulierte, „ein gewisses Maß an gierdynamischen Grundentscheidungen unverzichtbar“ sein, so folgt daraus nicht automatisch ein „Menschenrecht auf Gierverhalten ohne Grenzen“. Klar: auch der Rentner, der Telekomaktien kauft oder der kleine Angestellte, der in private Rentenversicherungen einzahlt, sitzt dem Glücksversprechen der Geldvermehrung auf, aber er reagiert schließlich auf ein Propaganda-Trommelfeuer, das seit Jahren auf ihn niedergeht und folgt Anreizsystemen, die er nicht selbst gemacht hat. In anderen Zeiten legte er sein Geld auf’s Sparbuch und vertraute ansonsten auf die Pensionsversicherungsanstalt. Es waren die großen Zampanos der Finanzmärkte, die die Propagandatrommel von der Eigenvorsorge durch Börsengezocke gerührt und auch die Regierungen dazu gebracht haben, dabei mitzutun. Und sie haben sich die Anreizstrukturen, die ihnen Hundert-Millionen-Dollar-Einkommen bescherten, meist selbst entworfen. Soll heißen: Sie haben ein Entlohnungssystem für sich geschaffen, das ihnen Phantasiegehälter bescherte, aber gleichzeitig den Systemkollaps herbeiführte.

 

Diesen kleinen Unterschied zwischen dem Mindestrentner und dem Investmentbanker sollte man nicht ganz aus den Augen verlieren.

 

Liegt die „Gier“ im Wesen des Kapitalismus – oder gar im Wesen des Menschen? Eher letzteres, sagt eine neue Wissenschaft, die Neuroökonomie – Joint Venture der Wirtschaftswissenschaften und der Gehirnforschung. Wissenschaftler haben das in den vergangenen Jahren mit naturwissenschaftlicher Exaktheit durch Gehirnscans und Messungen der Neuronenaktivität bei Geldsachen nachgewiesen. „Nach zwei Wiederholungen eines Reizes – etwa dem Ansteigen eines Aktienkurses um einen Cent zweimal in Folge – erwartet das menschliche Gehirn automatisch, unbewusst und unkontrollierbar eine dritte Wiederholung“, schreibt der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jason Zweig in seinem Buch „Gier. Neuroökonomie – wie wir ticken, wenn es ums Geld geht“. Noch etwas haben die Wissenschaftler festgestellt: „Die neuronalen Aktivitäten eines Anlegers, der mit seinen Investitionen Geld verdient, sind nicht zu unterscheiden von denjenigen einer Person im Kokain- oder Morphiumrausch.“ Risikoverhalten auf Börsen und sexuelle Erregung sind sich sehr ähnlich – die Neuronen feuern in den gleichen Hirnpartien -, was übrigens dazu führt, dass Männer, denen man Bilder nackter Frauen zeigt, zu deutlich waghalsigerem Anlageverhalten neigen als jene, denen man den pornographischen Stimulus vorenthält. Das heißt aber: Die Gier ist irrational. Die Grundidee der klassischen Ökonomie, dass der Mensch als Wirtschaftssubjekt ein rational nach Eigennutz entscheidender Homo Oeconomicus ist, können wir getrost ins Museum der großen Irrtümer stellen. Geht es um Geld, ist der Mensch wie auf Drogen, zeigt man dem smarten Broker nackte Frauen, dreht er durch. „Das Gehirn ist einfach nicht für die modernen Finanzmärkte gemacht“, schrieb die „Financial Times“ mit leiser Ironie.

 

Aber zurück zu den Bankmanagern. Sind die nun auch nur Akteure eines anonymen Systems, nicht mehr und nicht weniger gierig als alle anderen? Sie seien die neuen Sündenböcke, sagte Deutschlands führender Neoliberalismus-Propagandist Hans-Werner Sinn jüngst, und brachte einen Vergleich, der seinem Spitznamen – „Professor Unsinn“ – alle Ehre machte: „Damals hat es in Deutschland die Juden getroffen, heute sind es die Manager“. Nun, ein System prozessiert nicht einfach so vor sich hin, es wird auch von Akteuren geschaffen. Das Anreizsystem, das Bankern neben ihrem Grundgehalt exorbitante Bonuszahlungen verspricht, je mehr Wertpapiere sie handeln, führte schließlich dazu, dass sie Anlegern noch die riskantesten oder wertlosesten Titel aufschwatzten. Hinzu kommt: Die Erfindung immer neuer Derivate zog Verantwortungslosigkeit nach sich. Dass man Kredite bündeln und weiter verkaufen kann, galt als gutes Instrument zur Risikostreuung. Freilich führte es auch dazu, dass dem Kreditgeber die Bonität seines Kreditnehmers ziemlich egal sein konnte. Er bunkerte das Risiko ja nicht im eigenen Keller, er verkaufte es weiter. All das hat „das System“ aber nicht von selbst entwickelt. Es waren Banker, die das im Eigeninteresse taten. Wenn man so will: aus Gier. Wobei das so eine unpräzise Hilfsvokabel ist.

 

Der Broker, der coole Investmentbanker, der war über Jahre so etwas wie eine Leitfigur, der paradigmatische Typ eines halben Zeitalters. Die Banker haben ja nicht nur kräftig verdient, sie hatten auch eine Rolle, ihnen wurde gesellschaftliche Bedeutung zugeschrieben, wie der in Wien lehrende deutsche Soziologe Sighard Neckel formuliert: „Sie waren die ‚masters of the universe'“, und weil sie sich den dazugehörigen Habitus arroganter Lässigkeit zulegten, kriegen sie jetzt eben Schadenfreude zu spüren. Wenn man von „Gier“ spricht, geht es nicht nur um Geld, sondern auch um Status und symbolische Macht. Das Geld hat, mit einem schönen Wort des Literaturprofessors Fritz Breithaupt, einen „Ich-Effekt“. Reiche Menschen bekommen mehr Aufmerksamkeit, es gibt eine Verbindung von Vermögen und Wichtigkeit. In der Welt der Investmentbanker schoss dieser „Ich-Effekt“ über: Risiko wird mit Individualität verbunden, „man ist etwas Besonders, wenn man mit hohen Summen zockt“ (Breithaupt). Es geht da immer auch um Statuskonkurrenz: „Wer macht den wildesten Deal?“

 

Dass Ökonomie ohne Psychologie nicht auskommt, das wusste schon John Maynard Keynes. Vor allem die „organisierten Investment-Märkte“ tragen daher zur Instabilität des Systems bei, erklärte der britische Jahrhundert-Ökonom. Hier herrsche die „Massenpsychologie einer großen Zahl ignoranter Individuen“, die von „animalischen Instinkten“ getrieben sind, hier herrscht „Herdentrieb“, „Nervosität“, „Panik“, „Hysterie“. Profis auf diesen Märkten wetten auf diese Triebe, weshalb Keynes die Börse mit einem Schönheitswettbewerb verglich, bei dem es nicht darum ginge, „diejenigen auszuwählen, die man für die Schönsten hält, ja nicht einmal darum, diejenigen auszuwählen, die der Durchschnittsgeschmack am schönsten findet. Wir haben die dritte Stufe erreicht, wo wir unseren Grips bemühen müssen, um vorauszusagen, was der Durchschnittsgeschmack für den Durchschnittsgeschmack halten wird.“ Eine organisierte Irrationalität, deren gefährliches Potential durch die Unsummen, die verdient werden können, noch steigt: Angesichts des Jackpots ist die Bereitschaft, unvernünftige Risiken einzugehen, besonders hoch.

 

Klar, der Staat ist schuld, wenn er keine Regeln setzt. Aber es ist auch kein Wunder, dass er sie nicht setzt, wenn ein ideologisches Klima geschaffen wird, in der die Welt der brummenden Finanz mit ihren astronomischen Renditen als Verkörperung des Fortschritts gesehen wird und die abstrakte Derivaten-Welt der Finanzinstrumente, deren exaktes Funktionieren auch Profis nicht verstehen, als Ausgeburt der Genialität. Ganz abgesehen davon, dass „der Staat“ die entsprechenden Ämter gerne mit „Experten“ besetzt, also mit Bankern. US-Finanzminister Henry Paulson war früher Chairman von Goldman Sachs. Zwischen Wall Street, US-Regierung, Weltbank- und Währungsfonds-Direktorat gibt es ein flottes hin und her. Wer hat da bisher schon von „Interessenskollission“ gesprochen?

 

Die Menschen sind in der Ökonomie von Emotionen getrieben. Gier ist eine dieser Emotionen – das ist die schlechte Nachricht. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wie exakt sich diese „Gierdynamik“ äußert, hängt vom regulativen Rahmen ab, den der Staat setzt. Eine Lehre aus dem Finanzcrash ist: Man lasse besser nicht jene den Rahmen diktieren, die von möglichst laxer Regelsetzung profitieren. Und noch eine gute Nachricht gibt es, die wir ebenfalls der „Neuroökonomie“ verdanken: Wenn Emotionen auch das ökonomische Verhalten der Menschen bestimmen, dann ist Gier eben nicht das einzige solche Gefühl. Menschen verhalten sich nicht nur eigennützig, sondern auch altruistisch, und manchmal wird ihr Handeln dadurch bestimmt, dass sie vor ihren Freunden nicht als unfaire Schweine dastehen wollen. Er hat schon Vorteile, „der Kapitalismus“ (der ja nicht im Singular, sondern nur im Plural existiert), wie Adam Smith vor 200 Jahren formulierte: Wenn es um mein täglich Brot geht, verlasse ich mich nicht auf die Menschenliebe des Bäckers, sondern auf die Gewinnsucht des Bäckers.

 

Aber daraus folgt noch nicht, dass der Bäcker unbedingt 25-Prozent-Renditen erzielen muss. Und dass wir unbedingt Finanzinstrumente benötigen, mit Hilfe derer man viel Geld verdienen kann, wenn man auf den Bankrott des Bäckers wettet.

Ein Gedanke zu „Diagnose: Gier“

  1. Da ist schon viel wahres dran. Ein paar Anmerkungen möchte ich aber machen, da das Problem weit über die Banker selbst hinausgeht und das Wort „Gier“ am eigentlichen Problem verbeigeht:
    Es geht nicht „auch um Statuskonkurrenz“, sondern VOR ALLEM um Statuskonkurrenz – zumindest bei Männern. Wie ökonomische Spiele mit männlichen Probanden im Kernspintomographen zeigten, ist für die Aktivierung des ventralen Striatums (eine Art Belohnungszentrum) weit weniger von Bedeutung, wie viel wir erspielen, sondern vor allem, wie wir uns im Vergleich mit unseren jeweiligen Mitbewerber schlagen. Dies zu verstehen ist essenziell, weil sich gesetzliche Schritte gegen den „Raubtierkapitalismus“ sonst schnell als kontraproduktiv erweisen können, wie etwa die Geschichte in Sachen Managergehälter lehrt.
    Um die stark steigenden Managereinkommen zu zügeln, zwang die amerikanische Börsenaufsicht 1993 erstmals Unternehmen, Einzelheiten über Gehälter und Bonifikationen ihrer Topmanager zu veröffentlichen. Doch die Folgen dieser Transparenz waren ganz und gar nicht im Sinne des Erfinders: Sobald die Gehälter öffentlich wurden, erstellten die Medien Ranglisten der Topverdiener – und stachelten somit deren Neid an. Die Folge waren bekanntlich geradezu explodierende Managergehälter. Gut gemeint ist eben das Gegenteil von gut gemacht.
    Kern des Problems ist jedoch, dass durch Bonifikationen und gewinnorientierte Entlohnung soziale Normen in den letzten Jahrzenten konsequent von Marktnormen verdrängt worden sind, und zwar bis hinunter auf die Ebene von Kleinstverdienern – ein Effekt, der längst unter dem Begriff „Überbelohnungsthese“ in die Lehrbücher der Sozialpsychologie Einzug gefunden hat. Deren Kern ist schnell erklärt: Je mehr wir etwas aufgrund des Geldes wegen tun, desto abgeneigter sind wir der Sache selbst. Die Folge sind frustrierte, egoistische und im Grunde demotivierte Menschen zum Schaden nicht nur der Gesellschaft, sondern auch der Unternehmen selbst.
    Der Mensch ist nicht an sich gierig, sondern wurde gierig gemacht – teilweise aber auch von Strömungen, die dies gar nicht beabsichtigt hatten, wie etwa im Zuge der Individualisierung und gesellschaftlichen Öffnung der 68er, wie der linksliberale Verhaltensökonom Dan Ariely schildert. Die Materie ist also weitaus komplexer, als viele denken mögen, und mit traditionellen Rezepten nicht beizukommen.
    Straffe Regulierungen werden nichts nützen, wenn es nicht gelingt ein System zu etablieren, das die Menschen innerlich von der Sinnhaftigkeit ethischer und sozialer Grundprinzipien überzeugt. Solange eine diesbezüglich strenge Gesetzgebung bloß als externe Rechtfertigung herhält, die es nach Möglichkeit lediglich zu umgehen gilt, wird sich auch nichts ändern.

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