Richtig leben, richtig sterben

David Rieff beschreibt das qualvolle Sterben seine Mutter, der berühmten Autorin Susan Sontag. Berliner Zeitung, März 2009

 

Die Frau auf dem Foto ist tot. Ihre Haare, zu Lebzeiten trug sie sie schwarz, lang und wallend mit einer charakteristischen weißen Strähne von der Stirn abwärts, sind kurz und weiß. Aufgebahrt liegt sie hier. Gezeichnet vom Todeskampf. Das Bild von der toten Susan Sontag ist eines aus hunderten Dokumenten, die in der Ausstellung „A Photographers’s Life“ von Annie Leibovitz zu sehen sind – bis Mai noch im alten Postfuhramt in der Oranienburger Straße. Vom Tod der Susan Sontag handelt auch das Buch „Tod einer Untröstlichen“. Geschrieben hat es ihr Sohn David Rieff. „Sie liebte das Leben, und ihre Lust auf Erfahrung hatten sich mit zunehmendem Alter eher noch vergrößert“, schreibt Rieff. „Wenn ich ihre Haltung gegenüber der Welt mit einem Wort beschreiben sollte, dann mit dem Wort ‚Gier'“.

 

Diese Lebensgier seiner Mutter Susan Sontag hat Rieff, heute Autor führender amerikanischer Zeitungen wie der New York Times, sein eigenes Leben nicht immer leicht gemacht. Er entstammt der Ehe von Susan Sontag mit dem Soziologen Philipp Rieff, in die sich Sontag als junge Studentin halb geflüchtet, halb eingekerkert hat. Als sie akzeptierte, dass sie eigentlich lesbisch ist und von ihrem Leben mehr erwartete als eine Ehe mit einem langweiligen Professor, ging sie erst nach London, dann nach Paris, stürzte sich ins Autoren- und Bohemeleben und später in die aufsteigende Gegenkultur des New Yorker Greenwich Village. Voller Lebensappetit. Der kleine David blieb, hin und her geschoben, zurück. Dennoch haben die beiden eine Beziehung erhalten und entwickelt, die zwar nicht unschwierig ist, aber offenkundig auch nicht schwieriger, als Mutter-Sohn-Beziehungen in aller Regel sind.

 

Sontags Lebensgier musste schon früh in Überlebenswillen umschlagen. In ihren frühen Vierzigern wurde ihr, die damals bereits eine Kultautorin war, ein praktisch unheilbarer Brustkrebs attestiert, den sie mit den härtesten und schmerzhaftesten Behandlungsmethoden gegen alle Prognosen besiegte. In den neunziger Jahren erfolgte eine weitere Krebserkrankung, die sie wieder niederrang. Als 2004 bei Sontag ein besonders heimtückische Form der Leukämie diagnostiziert wurde, sagte sie erst einmal „Wow“, um dann auf ihre Art zu reagieren: „Überleben unter allen Umständen“. Wieder nahm sie die qualvollsten Therapien auf sich, diesmal ohne Erfolg. Vielleicht, sagt Rieff, „war dieses Weiterlebenwollen ihre Art zu sterben“. Sie schart ihre Freunde um sich, alle recherchieren für sie die neuesten Erkenntnisse über ihre aggressive Blutkrebsart. Da es kaum positive Nachrichten gibt, klammert man sich an Unwahrscheinlichkeiten. Sie will die Wahrheit nicht hören, ihre Freunde und ihr Sohn wollen sie ihr nicht sagen. All das mit der „erstaunlichen Mischung aus Tapferkeit und Pedanterie, die Zeit ihres Lebens typisch für sie war“.

 

Sie, die Autorin von gefeierten Essays wie „Against Interpretation“ oder „Krankheit als Metapher“ – letzteres schon ein Resultat ihrer ersten Krebserkrankung – wollte weiter „sein“, um jeden Preis. Rieffs Buch handelt vom Tod einer schriftstellerischen Celebrity, die Lektüre ist insofern nicht völlig frei von Voyeurismus, aber es ist auch im weiten Sinn ein Buch über das Sterben. Über das sich ans Leben klammern. Und über die Traumatisierung von Hinterbliebenen. Rieff hegt offenkundige Ressentiments gegen manche Ärzte, ebenso gegen die Starfotografin Annie Leibovitz, Sontags‘ frühere Lebensgefährtin. Sontag war, das zeigt auch die Lektüre ihrer jüngst in den USA veröffentlichten Tagebücher aus den fünfziger und sechziger Jahren, schier besessen von der Suche nach dem „richtigen“ Leben, davon, sich frei zu machen, um „echt“, also ihrem Ich entsprechend, zu leben, stets getrieben, sich neu zu erfinden – „Wiedergeburt“ nannte sie das.

 

Der Großessay ihres Sohnes David, vom Tod seiner Mutter selbst schwer verwundet, erinnert uns daran: Mindestens so schwierig, wie richtig zu leben, kann auch richtig zu sterben sein, sofern man nicht das Glück hat, von einem Augenblick zum nächsten Tod umzufallen.

 

David Rieff: Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage der Susan Sontag. Hanser Verlag, 2009, 160 Seiten, 17,90 Euro

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