Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn

Utopie heißt nicht so sehr, sich eine andere Welt auszudenken, utopisches Bewußtsein ist vielmehr ein spezifisches Zeiterleben.  Text für Shangri-La – Projektionen für Utopia im Rahmen von Linz 09

 

Schön ist die Utopie und doch das Kind des Hässlichen. Seit jeher sind es Verhältnisse, die als unbefriedigend erlebt werden, in denen utopische Sehnsüchte sprießen. Was genau „unbefriedigend“ in diesem Zusammenhang bedeuten kann, ist variantenreich: Unterdrückung, existentielle Fremdbestimmung, elementare materielle Not oder „nur“ unbestimmte Entfremdungsgefühle, ein leises Unbehagen, dass „das“ doch nicht das echte, erfüllte Leben sein kann. So kann die Not der Treibstoff des Utopischen sein, aber auch der Wohlstand. Für die verschleppten Juden im babylonischen Exil war „Jerusalem“ die Utopie, für heutige Mittelstandskinder, die die Verdinglichung als beklagenswert empfinden, ist es vielleicht die Ausgeglichenheit indischer Yogis, für gestresste Manager die Ruhe der Mönchsklause. Die kolossalste Utopie war natürlich immer die Religion: Gelobtes Land, Land in dem Milch und Honig fließen, Himmelreich.

 

Später dann wurde die Utopie etwas bodenständiger, und als „Himmelreich auf Erden“ in die reale Geschichte gespiegelt. Meist als Idealstaaten, die man sich ausmalte, um sie der unerfreulichen Realität entgegen zu stellen. Dies hatte natürlich subversive Kraft, weil es eine bessere Welt einer schlechten Wirklichkeit gegenüber stellte, hatte aber doch auch den Hautgout der realitätsfremden Kopfgeburt vom Schlage der „Träume von einem Himmel, der niemals auf der Erde existieren“ kann, wie das Immanuel Wallerstein nannte. Der Beginn und schon der erste Höhepunkt dieses literarischen Genres war natürlich Thomas Morus‘ „Utopia“ aus dem Jahre 1516, in dem der Autor vom Leben der Utopier berichtet, von einem Land, in dem Gerechtigkeit herrscht, das auf rationalen Grundsätzen beruht, in dem die Gleichheit der Bürger garantiert und das Privateigentum abgeschafft ist. Noch in Ernest Callenbachs „Ökotopia“ aus dem Jahr 1975 findet das einen späten Widerhall, jener Beschreibung einer ökologischen Utopie, in der die Menschen glücklich, unentfremdet und im Einklang mit Natur und Ressourcen leben. All diese Utopien hatten auch etwas von aseptischen Phantasien, sie malten sich eine vernünftige, widerspruchsfreie und etwas zu gut aufgeräumte Welt aus. Konflikte gab es in ihnen nicht mehr, alles war reinste Harmonie, und doch sollte man sich als Leser fragen, ob man in einer solchen Welt überhaupt leben würde wollen. Denn mit den Konflikten, den Brüchen, den Härten ist auch alles Leben aus diesen Phantasiewelten verbannt, alles was die Welt bunt und spannend macht. In einer solchen schönen Welt würde man wahrscheinlich an Langeweile sterben.

 

Utopien dieser Art, also am Reißbrett skizzierte Idealgesellschaften sind freilich selbst gewissermaßen Produkte des „Utopieverlustes“, insofern, als sie besonders gut in einem Klima gedeihen, in dem man sich eine Verbesserung der Welt im konkreten historischen Prozess nicht vorstellen kann. In einer solchen Lage flüchtet man gleichsam aus der Geschichte in die Phantasie. Deshalb hatte auch Karl Marx, den man ironischerweise heute selbst etwas ungenau einen „Utopisten“ nennt, für solche Utopien nur Spott übrig. Denn die utopischen Kopfgeburten konnten ja keine plausible Verbindung zwischen den schlechten „Realstaaten“ und den guten „Idealstaaten“ bieten. Für Marx war Weltverbesserung aber nur dann möglich, wenn man in der schlechten Realität schon Tendenzen oder gesellschaftliche Kräfte ausmachen könnte, die den Idealen günstig sind, oder, simpler ausgedrückt, wenn Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn in einer vernünftigen Balance stünden. Gibt es nichts in der Wirklichkeit, das dem möglichen Besseren günstig ist, dann wird schließlich auch alles Wünschen nichts helfen. Marx war letztlich überzeugt, dass solche „wirkliche“ Tendenzen existieren, sodass man den Marxismus mit einigem Recht als „antiutopische Utopie“ bezeichnen kann.

 

Der Marxismus und die mit ihm verwandten Theorien bis hin etwa zu den heutigen Schwundformen der „Kritischen Theorie“ kann man nur begreifen, wenn man sie als polemische Einreden in zwei Richtungen versteht: Einerseits gegen den abgeklärten Realismus, der sich nicht vorstellen kann, dass irgendetwas anders sein könnte, als es ist, andererseits gegen den idealistischen Utopismus, der glaubt, es wäre schon etwas gewonnen, wenn man sich eine bessere Welt nur stark genug wünschte. Diese doppelte kritische Bewegung kulminierte in den heute beinahe vergessenen Begriff der „konkreten Utopie“, den der Philosoph Ernst Bloch prägte: „Früher sagte man von einer Sache, um sie herabzusetzen: ‚Das ist nur eine Utopie‘, ‚das ist utopisch‘. Heute ist die Utopie zu einer bedeutenden philosophischen und marxistischen Kategorie geworden. Jeder spricht von ihr, als läge sie klar auf der Hand, und vergisst dabei, dass ich der erste war, der ihr wieder einen Sinn verliehen hat. Als ich von einer ‚konkreten Utopie‘ gesprochen habe, haben die Menschen gelacht. Das erschien ihnen ebenso absurd wie ein viereckiger Kreis.“ Konkrete Utopie, das beschreibt nicht das irreal Erstrebenswerte, sondern das real mögliche Bessere, das entstehen könnte, aber nicht von selbst entsteht, sondern nur dann, wenn sich die Menschen dafür einsetzen.

 

Heute steht auch dieses schwach Utopische nicht sehr hoch im Kurs. Gewiss gibt es viele Leute, die für sich ein schöneres Leben ersehnen. Die sich sicher sind, irgendwann etwas „ganz anderes“ zu machen, die rausspringen wollen aus dem Hamsterrad, vielleicht aussteigen. Fünfzigjährige Starbanker, die genug Geld verdient haben, ihren Job an den Nagel hängen und über die Alpen wandern; die nach Jahren der Hektik ein neues Zeitmaß in ihr Leben einführen wollen. Aber solche Privatutopien sind keine Utopien. Utopien, die den Namen verdienen, sind immer kollektiv, und sei es nur in dem Sinn, dass man ein anderes Leben mit anderen erstrebt. Dass einer sich darauf freut, dass er in der Rente endlich seinen Hobbys nachgehen kann oder sich einen Gemüsegarten anlegt, ist noch keine Utopie.

 

Utopie ist, vordergründig, ein Ortsverhältnis: Man malt sich einen Platz aus, einen Nicht-Ort, an dem alles besser ist. Sie ist aber im Wirklichkeit primär und vor allem ein Zeitverhältnis: Sie ist getragen von Futurismus, vom Bewusstsein, dass etwas entstünde, was noch nicht da war. Utopismus ist insofern modern, als er ohne den Fortschrittsglauben, der die Moderne prägte, auf tönernen Füßen steht. Utopisches Zeiterleben ist nach vorne gerichtet. Deshalb geht, was man so landläufig als Utopieverlust bezeichnet, auch mit Energieverlust einher. Wenn das Morgen nichts mehr verspricht, dann driftet man durchs Leben. Mit dem utopischen Zeitmaß geht mehr verloren als „die Utopie“. Ohne futuristisches Zeitverhältnis gibt es zwar auch noch Veränderung, aber nur mehr insofern, als es halt heute dies, morgen jenes gibt – die Dinge werden auf seltsame, nervtötende Weise egal. Aber es wird keine lebenssprühende Idee mehr daraus, kein Zeitgefühl, sondern nur mehr leere Gegenwart. Das ist so etwas wie das Paradoxon des Utopischen. Erst das Utopische, also das Bewusstsein, dass die Gegenwart nur ein Durchgangsstadium ist, erlaubt intensive Gegenwärtigkeit. So wie der Realismus, der an der Wirklichkeit scheitert, wohingegen es die Träumer sind, die sie zu verändern vermögen. Mit Bloch gesprochen: „Die Utopie ist ganz im Gegenteil nicht nur Zukunft, sie erhellt die Gegenwart.“

 

Ohne utopische Energien hausen wir unter einem dunkleren Himmel. Gewiss konnten sie auch Antrieb für Fragwürdigkeiten sein – wenn das Himmelreich auf Erden errichtbar ist, dann sind die Opfer von heute verschmerzbar, dem Glück von morgen wegen. Aber das gilt für die Utopielosigkeit nicht minder: Wenn Leid oder Unglück zur – leider, leider – unveränderbaren Realität erklärt werden, dann kann man sie mit einem Achselzucken abtun. Vor allem aber war die Utopie eine Strategie, mit Widrigkeiten umzugehen und sie zu überwinden.

 

Das Ende des utopischen Zeitempfindens hat also Folgen – keineswegs nur erfreuliche. Gewiss, es hat keinen Sinn, nach dem Ende der Großutopien „mehr Utopie“ zu fordern – dies ist etwa so nützlich, wie wenn Agnostiker sich sinnlos mühen, an Gott zu glauben, weil sie zu der Ansicht gelangt sind, dass die Bindekräfte des Religiösen gar nicht so schlecht waren. Es geht eher um Möglichkeitssinn. Gewiss, großen Plan hat heute niemand und außerdem sind viele große Pläne schon gescheitert, wobei sie sich noch in diesem Scheitern bisweilen als nützlich erwiesen, gibt es ja das Phänomen des erfolgreichen Scheiterns: Man erreicht sein Ziel nicht, aber die Energien, die man investierte, verpuffen nicht nutzlos.

 

Und vor allem: Die Abgeklärtheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Auch sie hat ihren Preis: Stillstand. Ja: Rückschritt. Wer Realismus sagt und damit meint: „alles bleibt, wie es ist“, der sollte sich genau überlegen, ob er diesen Preis zu zahlen bereit ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.