Was ist eigentlich mit den Sozis los?

Nicht nur der SPÖ geht es schlecht. In ganz Europa ist die Sozialdemokratie in einer schweren Orientierungskrise. Falter, 30. März 2010.


 

 

Bei Wahlen fast immer ein dickes Minus, eine Führungscrew, bei der viele Leute einfach die Augen verdrehen, und die, wenn es wieder einmal schlechte Nachrichten gibt, verkündet, es sei eben nicht gelungen, die Erfolge ausreichend „zu kommunizieren“. Kommt Ihnen das bekannt vor?

 

Das ist, fast im Wordrap, die Situation der SPÖ. Aber bei allen speziellen Problemen, die die österreichischen Sozialdemokraten haben – ihren Gesinnungsgenossen in Europa geht es kaum irgendwo besser. „Man sollte nicht unbedingt damit rechnen, dass das 21. Jahrhundert ein sozialdemokratisches sein wird“, schreibt der renommierte deutsche Parteienforscher Franz Walter in einem neuen Büchlein, das gerade eben bei Suhrkamp erschienen ist. Titel: „Vorwärts oder abwärts?“ Es ist teils nüchterne Bestandsaufnahme, teils wütende Abrechnung mit sozialdemokratischen Fehlern, teils melancholischer Abgesang.

 

Die deutsche SPD erlitt bei den vergangenen Bundestagswahlen eine historische Niederlage, die französischen Genossen sind seit Jahren in einen heillosen Führungskrise. Die einst so mächtige niederländische Partij van de Arbeid landete bei den jüngsten Europawahlen gar bei deprimierend geringen 7,1 Prozent und die legendäre schwedische Sozialdemokratie kam ebenfalls bei den Europawahlen in Stockholm gerade noch vor der Piratenpartei auf Platz vier zu liegen. Großbritanniens Labour-Party droht nach drei triumphalen Wahlsiegen in Serie bei den Unterhauswahlen im Mai abgewählt zu werden – auch wenn die Partei Gordon Browns in den letzten Wochen in den Umfragen wieder deutlich auf die Konservativen aufgeholt hat. Fazit: Da wird offenbar die Rechnung dafür präsentiert, dass in den letzten Jahren einiges strukturell schief gelaufen ist, und zwar in so ziemlich allen sozialdemokratischen Parteien.

 

Man wollte sich „Modernisieren“, und passte sich dem neoliberalen Jargon an – „Spindoktoren warfen ganze Batterien von Nebelkerzen“, es war die Stunde der „Schaumschläger des Wortes“, so Walter. Die grauen „Mitglieder- und Funktionsparteien“ sollten professionalisiert werden, „doch am Ende aller Professionalisierung standen eben keine Erfolge der Sozialdemokratie, sondern ihre programmatische Aushöhlung und ihr elektoraler Verfall.“ Damit einher ging ein Top-down-Führungsstil, der den Mitgliedern nur mehr die Rolle von Claqueuren zubilligte. Und es wurden immer weniger Parteimitglieder. Viele im Rentneralter. Noch bemerkenswerter ist für Franz Walter aber, wer in der Partei verblieb und ihr Bild prägte: „Professionals“ mittleren Alters, die biographisch von den Aufstiegschancen profitiert hatten, die die Sozialdemokratie bot, die aber mit ihrem Herkunftsmilieus nichts mehr zu tun hatten. Die kleinen Leute, die die Sozialdemokratie einst repräsentierte, bleiben dagegen in ihren unterprivilegierten Wohnquartieren zurück, waren durch sozialen Wandel und neue ökonomische Risiken unter Stress gesetzt und niemand war mehr da, der für sie sprach.

 

Der Spagat zwischen den Unterprivilegierten und der aufgestiegenen Mittelschicht war immer schwerer zu organisieren. Auch, weil diese Mittelschicht selbst sich aus der Solidarität verabschiedete (mit Worten wie „mir ist auch nichts geschenkt worden“); auch, weil sozialdemokratische Politiker zwar noch über politische Konzepte und Gesetzesvorschläge verfügen (davon gibt es reichlich in den Schubladen), ihnen aber das „Projekt“, das Narrativ abhanden gekommen ist, das all das zusammenhielt. Und damit auch eine überzeugende Sprache. Sie wurde oft durch technokratischen Jargon ersetzt. So waren die Sozialdemokraten, als die neoliberale Idee zusammen brach, nicht die Sieger – sie standen selbst mit leeren Händen da.

 

Heute wird man schwer einen sozialdemokratischen Funktionär finden, der Walters fulminanter Problemanalyse widerspricht. Bloß, was daraus folgt, ist unklar. Ein Linksruck á la „Back to the Roots“? Dann besteht die Gefahr, dass die Sozialdemokratie die „Mitte“ aufgibt, und erst recht ihre strategische Mehrheitsfähigkeit verliert. Eine Neuformulierung der sozialdemokratischen „Idee“ und ein Wiederaufbau der kaputten Parteiorganisation? Klingt gut, braucht aber, sofern das überhaupt möglich ist, seine Zeit. Und woher sollen in einer sklerotischen Organisation die Parteiführer kommen, die das stemmen?

 

Die jetzige Krise ist „die dritte grundlegende Orientierungskrise der politischen Linken seit dem Bestehen der Bundesrepublik“, schreibt Matthias Machnig, einer der strategischen Köpfe der deutschen SPD. „Zwei Mal wurde sie mit einem Weg in die ‚Mitte‘ der Gesellschaft beantwortet. Dieses Mal besteht im Weg zur ‚Mitte‘ aber das Problem, nicht die Lösung.“ Das Machnig das so formuliert, ist selbst schon eine kleine Sensation – schließlich war der „Spin-Doctor“, der heute als Wirtschafts- und Arbeitsminister in Thüringen werkt, der Erfinder von Gerhard Schröders Konzept der „Neuen Mitte“. Aber die Partei habe das Konzept falsch verstanden, meint er jetzt: Sie dachte, die SPD müsse sich zur Mitte bewegen – also von Links ein Stück nach Rechts. Dabei muss es der Sozialdemokratie immer darum gehen, die „Mitte“ selbst zu verschieben – nach Links nämlich. Simpel gesagt: Es hat keinen Sinn, dass sich die Sozialdemokratie nach Links bewegt, wenn sie dort dann in einer Minderheitsposition bleibt. „Die strategische Aufgabe der Sozialdemokratie ist die politische Mitte in eine progressive Richtung zu bewegen“, meint auch Roger Liddle vom britischen Think-Tank „Policy Network“. Sie habe dafür eine plausible und intellektuell herausfordernde „Kritik der Märkte“ zu entwickeln, weil man die Wirtschaft nicht den Märkten überlassen darf. Auch das sind Worte, die durchaus bemerkenswert sind – schließlich hat Liddle vor zwölf Jahren noch am „Schröder-Blair-Papier“ mitgeschrieben, das längst als Manifest der Kapitulation vor dem Zeitgeist gilt.

 

Soziale Gerechtigkeit und Fairness, das zeigen alle Umfragen, stehen nahezu überall weiter ganz oben auf der Prioritätenliste der Bürger. Aber ihr Vertrauen, dass die Sozialdemokraten hierzu noch allzu viel zu sagen haben, ist begrenzt. Und auch die wechselseitige Solidarität von Mittelschicht und Unterprivilegierten, die stets der Sozialdemokratie Kraft gegeben haben, ist „erschöpft“, so das bittere Resumée Franz Walters. Liddle und Machnig sehen das nicht ganz so düster: Wenn die Sozialdemokratie wieder weiß, wofür sie stehen soll und das auch in klaren Worten zu sagen vermag, dann werden auch die Bürger wieder wissen, wofür die Sozialdemokratie steht. Machnig: Richtungsfragen können „mobilisieren und begeistern“, das konnte man an der Obama-Bewegung in den USA sehen.

 

Freilich müssen sich die Parteien, die längst abgeschottete Apparate geworden sind, öffnen und zu Mitmach-Parteien werden. Parteienforscher Walter hat dafür auch ein Rezept: Partizipation, Mitgliedervoten, offene Vorwahlen: „Natürlich wäre es kein Allheilmittel gegen sämtliche Gebrechen, dennoch sicherlich eine wirksame Maßnahme, wenn die Kandidaten der Sozialdemokratie durch das Säurebad eines großen demokratischen Nominierungsprozesses gehen müssten.“

 

Das wär‘ doch hübsch, wenn die SPÖ – sagen wir: 2012 – in offenen Vorwahlen ihren Kanzlerkandidaten oder ihre Kanzlerkandidatin für 2013 küren würde.

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