Die Idee, dass die Arbeit Quelle der Würde sei…

Bei €at, dem Kapitalismuskirtag des Theaters Hausruck hatte ich auch eine kleine Rolle als Marktschreier. Das hab ich dort gesagt.


vorhang 2.jpgIch will ihnen hier als Geschichtenerzähler eine Geschichte erzählen. Oder besser: Geschichte, im Sinne von der Geschichte, von Historie. Kleine Geschichten fügen sich ja zu der Geschichte, zur großen Geschichte. Eine Geschichte der Lohnarbeit könnte nun als folgende Geschichte erzählt werden: Von der Unsicherheit zur Sicherheit und wieder zurück. Von der Unsicherheit zur Sicherheit. Und von der Sicherheit zur Unsicherheit. Sie kann aber auch als Geschichte von Aufstieg und Abstieg des Proletariats erzählt werden. Oder aber als Geschichte von der autoritären Disziplinierung der gefährlichen Klassen hin zur Internalisierung der Disziplin, zur Selbstdisziplin. Im Fabrikwesen gab es Aufseher, Vorarbeiter. Heute ist jeder sein eigener Vorarbeiter. Es gibt also viele Geschichten der Lohnarbeit. Oder anders: Es gibt eine Geschichte der Lohnarbeit, aber sie besteht aus vielen Geschichten. Die Teile fügen sich zusammen zu dem, was man so gerne nennt „Die Transformation der Arbeitswelt“.

Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! – so schrieb Karl Marx im Kommunistischen Manifest 1848. Es sind berühmte Zeilen.

Der Witz an der Sache: Als Marx das schrieb, gab es das Proletariat im Grunde noch gar nicht.

Das industrielle Proletariat war weit davon entfernt, die breite Masse der Bevölkerung zu repräsentieren, und bestand – wo es existierte – oft aus pauperisierten Taglöhnern, aus der in die Städte geschwemmten, herabgedrückten Landbevölkerung, tagsüber an die Maschine gefesselt, nachts eingepfercht in Wohnkasernen – verlaust, schlecht genährt, heruntergekommen, ohne jede Bildung. Mit den industriellen Proletariern, wie wir sie aus der Massenproduktion der zwanziger, dreißiger Jahre – und auch noch der fünfziger, sechziger, siebziger Jahre – des Zwanzigsten Jahrhunderts kennen, haben diese Proletarier wenig gemein. In Deutschland und in Frankreich, in jenen Ländern also, in denen Marx zu dieser Zeit lebte, steckte das Fabriksystem noch in den Kinderschuhen. So zählte die Firma Krupp 1835 gerade 67 Arbeiter, und noch 1847 arbeiteten in den Werkhallen der Firma Borsig, die damals mit Abstand an der Spitze lag, nicht mehr als 1200 Arbeiter. Noch 1851 überstieg nur in Großbritannien, dem ersten Land der Industriewirtschaft, die Zahl der Stadtbevölkerung die der Landbevölkerung, und auch das nur knapp (51 Prozent), und eine Fabrik mit mehr als 300 Beschäftigten galt noch Mitte der fünfziger Jahre als sehr großer Betrieb. Der künftige Siegeszug des Fabriksystems war allerdings schon spürbar: Etwa durch die außergewöhnliche Vermehrung der Unterschichten in manchen Städten. So verzeichneten zwei jener Städte, in denen Marx seine Studentenjahre verlebte, Bonn und Köln, in den dreißig Jahren vor 1849 einen Bevölkerungszuwachs von knapp achtzig Prozent.

Also, dieser Mini-Bevölkerungsschicht hat Marx eine welthistorische Rolle zugeschrieben, aber das war damals nicht viel mehr als eine verwegene Phantasie. Aber doch muss man sagen: Das reale Proletariat hat sich in den folgenden Jahrzehnten dem Marxschen Proletariat auf erstaunliche Weise anverwandelt, und wenn auch die großen industriellen Arbeiterheere, die sich im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert in den sozialdemokratischen Massenparteien und unter der Fahne des Sozialismus formierten am Ende doch nicht die Revolution machten und eine neue, kommunistische Gesellschaft errichteten, so vollbrachten sie sehr wohl eine historische, zivilisatorische Tat: Sie haben dem wilden frühen Kapitalismus viele Kompromisse abgerungen, bis er sich zu jenem westeuropäischen Sozialstaat verändert hatte, der auch den Proletariern eine menschliche Existenz, den Armen ein Überleben, den Alten ein Auskommen garantierte. Dieses Resultat hat Marx zwar nicht vorausgesehen, aber er hat doch prophezeit, dass die Zivilisierung der Verhältnisse nicht von den selbstgerechten Wortführern der Zivilisation besorgt, sondern den Mächtigen von den heruntergekommenen, verwahrlosten Menschenwaren abgerungen würde, die sich in den jungen Fabriken konzentrierten. Nicht die Sozialtechniker und Menschenerzieher haben die Welt verändert, sondern – List der Vernunft! – die plebejischen Volksmassen. Wenn man so will: ganz ohne Aufklärung, sondern in Lumpen.

Wo kamen diese Arbeiter her? Sie waren Landarbeiter oder verarmte Bauern oder ländliche Vagabunden, die ganz Armen, die die Landwirtschaft nicht mehr ernähren konnten. Sie kamen unterernährt in die Städte, bettelten oder wollten sich als Taglöhner durchschlagen. Sie schliefen in irgendwelchen Ecken oder in Elendsquartieren. Und in der aufkommenden Industrie fanden sie Arbeit. Gefährliche Arbeit, schmutzige Arbeit, schlecht bezahlte Arbeit. Für mehr als eine Suppe und ein bisserl Brot hat es nicht gereicht. Und das waren natürlich keine disziplinierten Leute. Sie waren daran gewöhnt, dass sie mal gelegentlich ein paar Stunden arbeiten, aber dann ist wieder Schluss. Also, sie haben sicher nicht große Freiheitsgefühle gehabt, aber die Disziplin der Fabrik musste ihnen erst einmal antrainiert werden. Weil, man muss sich das mal vorstellen: Sie waren vielleicht gerade mal vom Land gekommen. Da waren sie gewohnt, von Dorf zu Dorf zu ziehen. Wenn sie Lust darauf hatten, setzten sie sich an den Straßenrand. Oder legten sich unter einen Baum. Oder arbeiteten einen Tag bei einem Handwerker. Oder halfen im Stall aus. Was auch immer. Lauter Dinge, die man jetzt machen kann oder auch in einer halben Stunde.

Und dann die Fabrik: Mit den Maschinen, die den Takt vorgeben. Oft 12 Stunden-Tag. Man arbeitet als Arbeiterheer und das heißt auch: Man arbeitet zusammen. Da kann jetzt nicht einer sagen: Jetzt hab ich grad keine Lust, ich mach mal 15 Minuten Pause. Oder ich schalt mal den Webstuhl ab. Damit das Fabriksystem funktioniert, musste diesen Leuten erst einmal Disziplin eingebläut werden. Das hat sich oft wohl von einem Gefängnisregime nicht allzu sehr unterschieden. Die Menschen mussten an die Maschine angepasst werden und wurden selbst wie Maschinen behandelt.

Die Unternehmer, die Fabrikanten, die Kapitalisten, sie haben diese Leute gebraucht, aber sie hatten auch eine immense Angst vor denen. Das waren ja undisziplinierte, wilde Gestalten. Man bezeichnete das Proletariat zu dieser Zeit auch als die „gefährlichen Klassen“. Es brauchte erst eine Zeit, bis sich aus dieser Bevölkerungsgruppe die „Arbeiterklasse“ formte, wie wir sie vor Augen haben, wie wir sie noch kennen – wenngleich vielleicht fast nur mehr aus einer nahen Erinnerung.

Aber noch etwas vollzog sich: Diese Arbeiter wollten respektvoll behandelt werden, sie wollten ordentlich bezahlt werden, sie wollten geregelte Arbeitszeiten, sie stritten für den Zehn-Stunden-Tag, dann für den Acht-Stunden-Tag, sie schlossen sich mit ihresgleichen in Gewerkschaften zusammen. Aber sie wollten auch ein würdiges Leben. Und sie wollten würdige Arbeit. So kam die Idee auf, dass die Arbeit selbst Quelle von Würde ist.

Das ist ja nicht selbstverständlich. Bis vor wenigen Jahrhunderten war es ja nicht würdevoll zu arbeiten, würdevoll war, wenn man nicht arbeiten musste. Die Prinzen, die Barone, die Grafen, die Fürsten und die kleinen Landadeligen, die mussten nicht arbeiten – und gerade dieser legitimierte Müßiggang war die Quelle ihrer Würde. Wohingegen jene, die arbeiten mussten, schon weniger Würde hatten, eben weil sie arbeiten mussten. Und wer hart arbeiten musste, der hatte gar keine Würde. Das war so selbstverständlich, dass man darüber nicht nachdenken musste.

Aber es vollzog sich ein Wandel der Auffassung, was die Arbeit selbst betraf. Schon das Bürgertum unterschied sich ja vom Adel dadurch, dass es seinen Reichtum auf geschäftliche Tätigkeit, auf Arbeit begründete – und oft die Adeligen in ihrem Reichtum übertrafen. Die Arbeiter wiederum übernahmen Teile dieser Auffassung, diese neue Ideologie, wonach dem Tüchtigen, nicht dem Müßiggänger die Welt gehöre, indem sie sagten, sie, ihre Arbeit sei es schließlich, die die Reichtümer produzierte. Plötzlich, oder besser: Nach und nach: war nicht mehr Müßiggang die respektgebietenste Tätigkeit, sondern Arbeit. Wir erlebten, wie Hannah Arendt schrieb, den plötzlichen, glänzenden „Aufstieg der Arbeit von der untersten und verachtetsten Stufe zum Rang der höchstgeschätzten aller Tätigkeiten…“

Die gesellschaftliche Position der Arbeiter verbesserte sich auch deshalb, sie konnten mit erhobenen Haupt sagen: Ich bin ein Arbeiter. Ihre Arbeit gab ihnen Identität. Sie waren, was sie taten. Der Beruf wurde zum primären Identitätsmerkmal, was einem Stolz gab im Leben. Ja, wie einst das Handwerk, das von der industriellen Produktion eigentlich abgelöst worden war, erforderte auch die Fabrikarbeit immer mehr Qualifikationen, stetige Übung, mussten Tätigkeiten erlernt werden. Zur Arbeit gesellten sich Adjektive. „Gute Arbeit“. Die Arbeit wurde vom Arbeiter nicht mehr bloß als Last erlebt, er war stolz auf sein Können, seine Arbeit sollte in seinen eigenen Augen bestehen können und er wollte für sie auch respektiert werden. Die Arbeiter haben höhere Löhne gefordert, aber diese Forderungen hatten einen Beiklang von der Art: Faire Löhne für gute Arbeit.

Die Arbeiter wurden immer mehr. Und sie waren, wie schon gesagt, für die Reichtumsproduktion nötig. Das heißt, wenngleich sie gesellschaftlich noch immer unterprivilegiert waren, waren sie doch keine nutzlosen Armen, sondern die Wohlhabenden waren auf sie angewiesen, sie brauchten sie für die Produktion ihres Wohlstandes. Auch das war eine wichtige Quelle ihres gesellschaftlichen Aufstieges.

Mit der fortschreitenden Industrialisierung, dem wachsenden Fabriksystem, den immer größeren Mengen, die produziert werden konnten, stellte sich aber auch noch eine weitere Frage, nämlich: Wer soll all das kaufen? Solange der Output der Fabriken gering war oder es sich vor allem um Produkte der Schwerindustrie handelte – Schienen, Eisenbahnen, die private Eisenbahngesellschaften oder der Staat betrieben – war das kein Problem. Die Arbeiter waren schlecht bezahlt, der Staat kaufte die Güter. Aber mehr und mehr wurden auch massenhaft Konsumgüter produziert. Solange es nur eine schmale Schicht an Wohlhabenden gab, die sich diese Güter leisten konnten, waren der Produktion natürlich enge Grenzen gesetzt. Die nächste Revolution ist mit dem Namen Henry Ford verbunden, der, salopp gesagt, folgendes gedacht hat: Wenn ich meine Autos nur an Begüterte verkaufe, verkaufe ich vielleicht ein paar tausend Modelle und dann ist Schluss. Aber wenn ich meine Arbeiter ordentlich bezahle, werden die erstens gerne bei mir arbeiten – und die Produktion wurde ja immer raffinierter, also gut ausgebildete Facharbeiter waren auch für die Unternehmer zunehmend wichtiger -, aber sie werden dann auch meine Autos kaufen. Also bezahlte Ford seine Leute ordentlich, sie kauften seine Autos und er verkauften viele zehntausende Autos und wurde zum Marktführer. Eine glänzende Idee, die mit dem Namen Ford verbunden ist, aber die auch mit irgendeinem anderen Namen verbunden sein könnte, denn die Zeit war für sie reif.

Es begann die Goldene Ära des Kapitalismus. Sozialstaatliche und arbeitsrechtliche Reformen, durchgesetzt von Gewerkschaften und Sozialdemokraten, schränkten die Verwundbarkeit der Arbeitnehmer ein. Sie konnten sich darauf verlassen, dass sie nicht ins Nichts fallen, wenn es mal für sie schlecht lief. Gewerkschaften trugen dafür Sorge, dass sie über Lohnerhöhungen auf – more or less – faire Weise am Reichtumszuwachs beteiligt werden. Die Unternehmen selbst wussten, dass sie daran ein Interesse haben. Natürlich schlugen immer zwei Herzen in ihrer Brust. Für sie sind Arbeiter – vor allem ihre Arbeiter – immer auch Kostenfaktoren. Löhne sind Kosten – und hohe Kosten mögen die Unternehmer nicht. Aber hohe Löhne (vor allem hohe Löhne der Arbeiter der ANDEREN Unternehmer) sind Nachfrage, und Konsumentennachfrage haben die Unternehmer sehr gern. Im Consumer Driven Capitalism, im Konsumkapitalismus, sind gute Masseneinkommen ein wichtiger Faktor für Prosperität.

Aber dann begann sich etwas zu verändern an diesem Win-Win-Arrangement. Nicht so sehr, dass über manche Branchen die Zeit hinwegging und damit auch über einzelne Firmen – wie diese hier – deren Beschäftigte dann auf der Straße saßen und sich neue Jobs suchen mussten. Das gab es immer. Es ist eher ein Bündel an Veränderungen. Auf der Seite der Unternehmen, aber auch auf der Seite der Arbeitnehmer.

Sehen wir uns die einmal zunächst an. Wir haben gesehen, dass das Fabriksystem sehr autoritär organisiert war. In der Fabrik gaben Maschinen, Fließband, Vorarbeiter den Takt an. Auch die Büros waren wie staatliche Bürokratien, fast wie Armeen organisiert. Oben der General, dann die Offiziere, unten die kleinen Leute. Ihre Aufgaben waren klar umrissen, sie mussten tun, wofür sie eingestellt waren. Spielraum für Kreativität? Gab es eher wenig. Man kann fast sagen: Das Wort war noch nicht erfunden. Relative Unfreiheit im Arbeitsleben hatte man im Abtausch für relative Sicherheit und wachsenden Wohlstand akzeptiert. Aber mit dem wachsenden Wohlstand haben die Leute auch ihre Bedürfnisse verändert. Sie wollten eine sinnvolle Arbeit, sie wollten in der Arbeit aufgehen, sie wollten ihre Talente und ihre Anlagen entwickeln oder einfach auch eine Arbeit, die ihnen Spaß macht. Und auf all das verzichten für die Sicherheit, für die Löhne, die ja dann doch nicht so hoch waren oder an die man sich auch gewohnt hatte? Na, nicht so gern. Also es änderte sich auch auf Arbeitnehmerseite etwas. Und es änderte sich natürlich noch viel mehr auf Seite der Unternehmen. Für die industrielle Massenproduktion brauchte man immer weniger Leute – vor allem immer weniger schlecht qualifizierte Leute. Die einfachen Handgriffe konnten Maschinen oder Roboter ersetzen oder irgendwelche Arbeiter in China. Es entstand eine neue Form von Armut. Die neuen Arbeitlosen. Langzeitarbeitslose. Geringqualifizierte, die überhaupt nicht mehr in den Produktionsprozess hineinkamen. Eine neue Unterschicht, Exkludierte. Waren die frühen Proletarier noch Arme, die nötig waren für den kapitalistischen Produktionsprozess, so winkt den nunmehr aus dem Produktionsprozess ausgespieenen ein Schicksal als „nutzlose Arme“, als „überflüssige Menschen“.

Sie haben im zeitgenössischen Kapitalismus kaum mehr eine produktive Funktion, keiner braucht sie – und man behandelt sie dementsprechend. Nicht mal Angst hat man vor ihnen mehr wie vor den „gefährlichen Klassen“ des 19. Jahrhunderts.

Aber das ist nicht die einzige Veränderung. Viele haben den Deal Sicherheit für Unfreiheit nicht mehr unterschreiben wollen und Freiheit gegen Unsicherheit getauscht. Und man hat ihnen diesen Tausch auch ziemlich schmackhaft zu machen versucht. Flexibilisierung, sei dein eigener Herr, mach dein eigens Ding! Sei kreativ, individuell, unabhängig! Was auch heißt: Scher dich nicht um Flächentarifvertrag und Arbeitnehmerschutz! Arbeitszeitregelungen. Pah, die unterbrechen nur den Work-Flow!

Mit den technologischen Veränderungen veränderte sich noch einiges. Die großen Arbeiterheere in den Fabriken, die gibt es hier nicht mehr – oder immer seltener. Die menschenleere Fabrik, wo die Arbeit von ein paar Maschinen und Robotern erledigt wird, und nur mehr eine kleine Handvoll an Leuten für das Finetuning nötig ist, sie sind eher die paradigmatischen Fertigungsstätten. Ist ja schön: Die schmutzige und harte Arbeit, ölverschmiert, mit zerrissenen und schwieligen Fingern, das war ja keine schöne Sache. Aber es sind auch die Leute verschwunden, die früher Schulter an Schulter gearbeitet haben, und das Zusammengehörigkeitgefühl, das sie geprägt hat. Sie sind heute darauf angewiesen, sich mehr und mehr allein gestellt durch das Leben zu schlagen. Und das betrifft nicht nur die Verlierer dieser Prozesse. Auch für die Gewinner, für ihre Kinder, die jetzt womöglich in den Kreativbranchen arbeiten, irgendwas mit Computer. Klar haben die Freiheitsgewinne. Aber sie haben dafür Unsicherheit bekommen. In vielerlei Hinsicht führen Menschen heute ein selbstbestimmteres Leben, in anderer Hinsicht aber ein atomisierteres. So sind sie beispielsweise oft auf sich allein gestellt, wenn sie Solidarität benötigen würden; sie leben oft ein Einzelkämpferleben, obwohl sie gerne mit anderen zusammenarbeiten würden.

Ich hab eingangs gesagt, die Geschichte der Transformation der Lohnarbeit ist eine Geschichte aus vielen Geschichten. Diese Geschichte kann man natürlich auch auf unterschiedliche Weise beenden dann. Wenn das Fabrikregime auch ein Disziplinarregime war, in das vagabundierende Arbeiter erst einmal hineingepresst wurden, das ihnen antrainiert hat, vorgeschrieben Handgriffe in einem vorgeschriebenen Takt zu machen und all das unter den Augen tayloristischer Kontrolle, von Rechenmaschinen, die überprüften, ob die das auch schnell genug machen, oder von Vorarbeitern, die schauten, ob die eh ordentlich rackern, dann kann man natürlich sagen: Sie wurden durch äußere Maßnahmen diszipliniert. Aber diese Macht unterdrückt natürlich nicht nur, sie ist produktiv, im buchstäblichen Wortsinn, als sie etwas produziert. Jetzt sind aber Generationen durch diese Disziplinarmaschine hindurchgegangen und an die Stelle der äußeren Disziplinarmaßnahmen sind innere Selbsttechniken getreten, wie man das mit Foucault sagen könnte: die Wirtschaftssubjekte der postindustrialisierten Gesellschaft disziplinieren sich selbst. Sie haben auf sich selbst ein wachsames Auge. Sie fühlen sich schlecht, wenn sie nicht fleißig und tüchtig sind. Sie verdammen den Tag, an dem sie nicht ausreichend produktiv waren. Sie wollen täglich etwas Kreatives geschafft haben. Sie brauchen niemanden mehr, der sie beobachtet, sie brauchen keine Zwänge mehr, der Selbstzwang, den sie sich auferlegen, der reicht schon aus, ja, der ist viel drückender. Womöglich hat das erst Deregulierung und Flexibilisierung möglich gemacht, weil deregulierte Verhältnisse vom Einzelnen ein Höchstmaß an regulierten Verhalten verlangen. Selbstregulierung, Selbst-Unterdrückung.

Die äußeren Zwänge der Vergangenheit, die konnte man noch überlisten. Die Chefs, die konnte man noch übers Ohr hauen. Und die Arbeiter waren da sehr kreativ darin.

Keine äußeren Disiziplinierungsmaßnahmen konnten diese Gegenstrategien vollends neutralisieren. Aber der innerlich disziplinierte moderne Arbeitnehmer, der Unternehmer seiner selbst, der Selbstvermarkter seiner Arbeitskraft, uns Ich-AGs, uns postfordistischen Junkies steht ein solcher Ausweg nicht mehr offen. Auch das gehört zur Geschichte der Transformation der Arbeitsgesellschaft.

Ja, ich bin ein postfordistischer Junkie. Der Kapitalismus steckt in mir drin. Den krieg ich da nicht mehr raus.

Aber das sind die Sorgen jener, die zurechtkommen. Aber was ist mit jenen, die niemand mehr braucht? Aussortiert. Rausgespien. Die Überzähligen. Die Verlierer in dem Spiel. Nein, schon das ist falsch. Weil die sind ja nicht einmal Verlierer im Spiel. Die dürfen nicht mitspielen. Reise nach Jerusalem. Und in jeder Runde nehmen wir einen Stuhl weg.

Und raus bist Du.

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