Gewerkschaften sind mehr als bloße „Interessensvertretungen“

robert vida.jpgHeute habe ich auf Einladung der Gewerkschaft „Vida“ bei deren Kongress als Gastredner im Wiener „Austria Center“ sprechen dürfen. Was ich da so gesagt habe, können Sie hier nachlesen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Freunde,

Es ist mir eine große Ehre und Freude, hier bei diesem Gewerkschaftstag sprechen zu dürfen.

Weil, es gibt ja Leute, die sagen: Gewerkschaften, wozu braucht es so was denn? Dass man sich zusammenschließt, um gemeinsam für irgendetwas einzutreten, das ist doch so was von gestern, sagen die vielleicht. Wir sind doch alle Individualisten. Wir haben doch gelernt: Wir fahren alle besser, wenn jeder für sich schaut, wo er bleibt, wenn man gegeneinander konkurriert, jeder gegen jeden, und so jeder zu Höchstleistungen angespornt wird.

Oder sie würden sagen: Ja, Gewerkschaften, das hat früher einen Sinn gehabt, das sind Institutionen aus einer vergangenen Zeit, als noch industrielle Arbeiterheere in riesigen Fabriken zusammengearbeitet haben, Schulter an Schulter gewissermaßen.

Aber ich sehe das nicht so. Wenn Gewerkschaften schwächer werden, hat das nicht nur negative Auswirkungen auf die von ihnen vertretenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, es ist für uns alle schlecht – warum, das werde ich später noch ausführen. Und das heißt im Umkehrschluss: Starke Gewerkschaften sind für – fast – alle gut.

Aber ich möchte, wenn Sie mir diese persönliche Anmerkung erlauben, auch noch weiter gehen: Dass Gewerkschaften „von gestern sind“, wie die Gewerkschaftsfeinde sagen, also, dass sie eine Geschichte haben, eine große Geschichte, das ist für mich kein Nachteil, das verleiht ihnen auch so etwas wie einen historischen Pathos. Gewerkschaften sind entstanden, weil sich Männer und Frauen, die in den bescheidensten Verhältnissen lebten, die oft unter bedrücktesten Verhältnissen arbeiteten, die nicht selten Willkür und Repression ausgesetzt waren, die politisch rechtlos waren, weil sich diese Männer und Frauen zusammengetan haben, zu ihrem wechselseitigen Vorteil, aber viele von ihnen auch uneigennützig,

zum Vorteil ihrer Nächsten,

um ihr Geschick und das Geschick ihrer Kollegen zu verbessern –

und um ihr Land zu verbessern, und um damit die Welt zu verbessern. Und auch wenn das oft hundert, hundertfünfzig Jahre her ist, dieser Geist weht noch immer in den Gewerkschaften. Der ist drinnen in ihnen. Das gehört zu ihrer DNA, wenn man so will.

Und deshalb ist das nicht nur eine Floskel, wenn ich gesagt habe, dass es mir eine Ehre und Freude ist, hier sprechen zu dürfen, zur Eröffnung Ihrer Debatte über das „Programm“ der Vida.

Jetzt könnte man sich natürlich FRAGEN. Wozu braucht eine Gewerkschaft eigentlich ein Programm, noch dazu eines mit einem so hochtrabenden Titel wie „GRUNDSATZPROGRAMM“? Eine Gewerkschaft ist ja eine Interessensvertretung, und Interessenverstretung ist ja in einem hohen Maße eine praktische Angelegenheit. Bei gewerkschaftlicher Interessensvertretung, da geht es um höhere Löhne, sichere Jobs, Kündigungsschutz, Mitbestimmung. Da braucht man doch kein Programm dafür, da reicht ein Forderungskatalog. Und dennoch wollen Sie sich ein Programm geben, das weit über die Vertretung von Partikularinteressen, von Spezialinteressen einer umgrenzten Mitgliedschaft hinaus geht.

Und das ist auch gut so.

Weil, es spricht natürlich per se nichts dagegen, sich nur für die Interessen einer speziellen Bevölkerungsgruppe stark zu machen, aber wir wissen natürlich auch, dass das eine zweischneidige Sache sein kann. Viele Leute setzen sich für ihre Interessen ein: Die Gymnasiallehrer setzen sich für die Partikularinteressen der Gymnasiallehrer ein, die Bauern für die Interessen der Bauern, die Primarärzte für die Partikularinteressen der Primarärzte, die Banker für die Interessen der Banker (die besonders erfolgreich).

Es ist nicht automatisch unterstützenswürdig, wenn sich Menschen für ihre Interessen einsetzen. Es kann sogar sehr hinderlich für gesellschaftlichen Fortschritt sein, dann nämlich, wenn sich alle für ihre Partikularinteressen einsetzen und wir am Ende in einer Gesellschaft leben, in der der Begriff „Gemeinwesen“ vollkommen hohl geworden ist, weil alle möglichen gesellschaftlichen Interessensgruppen gegeneinander konkurrieren.

Es reicht also nicht, sich für seine Interessen stark zu machen. Man muss das schon auf Basis von Werten machen, von geteilten Werten. Denn eine Interessensvertretung wird dann auch umso besser funktionieren, wenn sie verständlich zu machen versteht, dass die Forderungen, die sie aufstellt, gerecht sind – das heißt: auch von Menschen als gerecht angesehen werden, deren Interessen überhaupt nicht berührt sind oder deren Eigeninteressen sogar in eine andere Richtung gingen; eine Interessensvertretung wird dann besser funktionieren, wenn sie deutlich machen kann, dass ihre Forderungen, wenn sie erfüllt würden, eine Gesellschaft als ganze voran brächten.
 
Wenn wir also nachweisen können, dass etwa soziale Gerechtigkeit, eine Umverteilung, die schroffe Einkommens- und Vermögensungleichheiten ein bisschen mehr ausgleicht, die also zu mehr Gleichheit in materieller, in ökonomischer Hinsicht führt, dass faire und gleiche Chancen für alle nicht nur denjenigen nützen, deren Nachteile damit etwas ausgeglichen werden – sondern uns allen. Dass dann nämlich die Wirtschaft besser funktioniert und ein Gemeinwesen als ganzes besser ist und lebenswerter ist.

Weil, diese wirtschaftsliberalen Rumfuchtler, die uns in den letzten Jahrzehnten mit ihren Parolen von Steuern Runter, den Starken freie Bahn, mehr Konkurrenz und Härte ins Wirtschaftsleben angeherrscht haben, die haben ja nicht gesagt, dass es grundsätzlich gut und erstrebenswert ist, wenn die Armen immer ärmer werden, die einfachen Leute immer mehr unter Druck geraten, und die Reichen immer reicher werden.

Sie haben ja eher folgendes gesagt: Dass wir die Ungleichheiten, mögen wir die auch moralisch bedenklich finden, akzeptieren müssen, weil wir nur so zu einer brummenden, prosperierenden Wirtschaft kommen, die schließlich allen nützt – auch den Armen noch, zu denen der durch die wirtschaftliche Dynamik gewonnene Reichtum dann durchsickern würde. Da sind dann Fondsmanager aufgetreten und Politiker haben uns das im Fernsehen erklärt und Ökonomen haben das mit sehr viel vorgegaukelten Sachverstand nachzuweisen versucht.

Und sie haben erklärt, dass nur total freie Märkte effizient funktionieren, dass deregulierte Finanzmärkte zu einer effizienten Allokation von Kapital führen und dass sie sich selbst am besten regulieren, weil da gibt’s ja die berühmten Selbstheilungskräfte der Märkte.

Freie Märkte führen zu einer effizienten Allokation des Kapitals. Ich weiß nicht, ob sie mit der ökonomischen Sprache vertraut sind, deshalb will ich das mal übersetzen. Das heißt, wenn Märkte möglichst frei sind, dann fließen die finanziellen Mittel dorthin, wo sie am sinnvollsten eingesetzt werden und dann führt das zu Prosperität. Wenn freie Märkte aber reguliert sind, dann fließt das Geld dorthin, wo die Regulatoren wollen und das ist dann sehr ineffizient, eine Fehlallokation etwa. Also auf den freien Kapitalmärkten da ist das Geld in den vergangenen Jahren in amerikanische Immobilien geflossen. Noch im hintersten Sumpfland von Florida haben sie eine Villa nach der anderen gebaut und die Ersparnisse der ganzen Welt sind dort hingeflossen, dass dort noch eine Villa mit goldenen Türschnallen hingebaut werden kann und noch eine. Und die Immobilienmakler haben sich die Häuser gegenseitig abgekauft und die Preise sind ins Unermessliche gestiegen, dabei brauchte gar niemand diese Häuser. Bis das alles zusammengekracht ist, dieses Kettenbrief-System. Also, eine ineffizientere Allokation von Kapital kann man sich schlechterdings nicht vorstellen. Der inkompetenteste sowjetische Fehlplaner aus KPdSU-Zeiten müsste angesichts solcher Ineffizienz vor Neid erblassen.

Und die gleichen Ökonomen haben uns übrigens auch erklärt, dass die Löhne flexibler werden müssten – nach „unten flexibler“, also dass sie sinken müssten und dass die Arbeitsmärkte flexibler werden müssten, dann würden die Märkte effizienter funktionieren und nur dann würde es mehr Jobs geben.

Ja, das rechnen uns alles Ökonomen vor, die fette Einkommen haben, die oft sogar an Universitäten unterrichten – mit lebenslangem Kündigungsschutz, Pragmatisierung und satten Pensionsprivilegien. Bei denen ist nichts mit flexibel und vom freien Markt wissen die nur vom Hörensagen, weil ihr Gehalt zahlt ja der Staat.

Überhaupt würde mich das mal interessieren, so eine kleine Studie, wie viele von den Hohepriestern des Marktes denn ihr Geld am freien Markt machen und wie viele vom Staat aus Steuermitteln bezahlt werden. Ich bin mir ziemlich sicher, allzu viele werden wir da nicht finden, denen schon mal der kalte Wind des Marktes um die Ohren geblasen hat.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen da geht. Man ist ja schon so viel gewohnt, man hat ja eine dicke Haut und eine gewisse Abgeklärtheit. Aber dass man uns jetzt wieder sagt, man muss den Armen die Krümel wegnehmen, damit man sie zur Aufnahme von Arbeit motiviert, da kann ich mich stundenlang richtig aufregen.

Weil, wie argumentiert man denn die Phantasiegehälter und die Bonuszahlungen, die man Managern, Brokern, Bankdirektoren zahlt? Man sagt, man müsse denen das zahlen, um sie zur Arbeit zu motivieren, die brauchen das als Anreiz.

Da scheint es also zwei Menschenschläge zu geben, ja, man hat den Eindruck, da gibt’s Bevölkerungsgruppen, die gehören gänzlich unterschiedlichen Spezies an: den einen muss man die Einkommen dauernd kürzen, um sie zu motivieren, den anderen muss man sie dauernd erhöhen, um sie zu motivieren!

Also, ich kann mich da kollosisal ärgern über all die steinzeitliberalen Prediger, die uns immerzu erklären, man müsse mehr Härte ins Leben bringen, damit sich die Leute wieder mehr anstrengen. Womit sie natürlich nicht ihr eigenes Leben meinen, in das man Härte hineinbringen solle, nein, die meinen immer die Leben anderer Leute, in deren Leben solle man Härte hineinbringen.

Aber ich will mich hier jetzt gar nicht moralisch empören. Ich will die Frage stellen: Stimmt das überhaupt, dass eine Ökonomie mit weniger Regeln, in der in der Lohnfindung das „Recht des Stärkeren“ herrscht und in der der Sozialstaat ordentlich verschlankt ist, ob da überhaupt die Marktwirtschaft besser funktioniert? Und ob dann eine Gesellschaft besser funktioniert? Weil, die politischen Eliten haben sich ja fast überall in den letzten zwanzig Jahren an die Ratschläge dieser Ökonomen gehalten. Aber war stabile Prosperität die Folge? Nein, das Resultat war das ärgste ökonomische Desaster seit achtzig Jahren.

Und deshalb will ich hier die Frage stellen, ob es nicht genau anders herum ist. Dass gerechte Gesellschaften auch ökonomisch funktionstüchtiger sind und dass sie lebenswertere Gesellschaften sind, und zwar für fast alle von uns.

Gerechtigkeit – oder in anderen Worten: die faire Beteiligung von möglichst vielen Bürgern am Wohlstand – ist kein langweiliges moralisches Gebot, das in einem Spannungsverhältnis zu den Geboten der Marktwirtschaft stünde. Gerechtigkeit ist wirtschaftlich nützlich. Und chronische Ungerechtigkeit schadet.

Und zwar im Wesentlichen aus vier Gründen.

Erstens: Wohlstand für alle stärkt die Kaufkraft und die Binnennachfrage, belebt die Wirtschaft und macht eine Volkswirtschaft unabhängiger von der Exportnachfrage. Das gilt auch in einer offenen, globalisierten Welt.

Zweitens: Wenn alle Menschen in materiell sicheren Verhältnissen leben, können auch alle Menschen ihre Talente entwickeln. Mehr Menschen tragen dann zum Wohlstand bei. Menschen am Rande der Gesellschaft zu belassen, sodass ihre Möglichkeiten verkümmern, ist nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient.

Drittens: Haben die Bürger das Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht, werden sie sich weniger engagieren. Sehen junge Menschen aus unteren sozialen Schichten buchstäblich keine Chance, werden sie sich auch nicht anstrengen, etwas aus ihrem Leben zu machen – sie sind dann ja der Überzeugung, das habe ohnedies keinen Sinn. Alle Erfahrung zeigt, dass sich Menschen mehr anstrengen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie eine faire Chance haben und sich Mühe lohnt.

Viertens: Unterprivilegiertheit vererbt sich. Wer in Armut geboren ist, hat geringere Startchancen. Oft haben schon sechsjährige Buben und Mädchen einen Rückstand, den sie ihr ganzes Leben nicht mehr aufholen. Sie sind geborene Verlierer. Das ist nicht nur ungerecht, sondern verschwendet das Potential von Menschen, die etwas zum Wohlstand und zur Prosperität beitragen könnten.

Eine gute Sozialpolitik, eine Politik, die faire Löhne und hohe Sozialstandards und eine hohes Beschäftigungsniveau begünstigt, eine Politik mithin, die also Gewerkschaften den Rücken stärkt – ist somit auch eine gute Wirtschaftspolitik. Es gehört zu den fatalsten Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, dass die neoliberalen Prediger einer ökonomischen Kampfesstimmung für sich in Anspruch nehmen konnten, sie verfügten über „Wirtschaftskompetenz“. Und gleichzeitig hängten sie den progressiven Kräften das Image an, diese hätten ein romantisches Sozialideal, würden gerne die Früchte des Wohlstands fair verteilen, hätten aber keine Ahnung, wie man den Wohlstand ordentlich erwirtschafte.
 
Aber: Ökonomische Fairness löst eine Reihe von Win-Win-Folgewirkungen aus, während ökonomische Unfairness eine Reihe von Lose-Lose-Effekten nach sich zieht.

Lassen Sie mich das an nur einem Exempel durchbuchstabieren, am Beispiel der Frage der gesellschaftlichen Lohnhöhe und hier insbesondere an der Frage der Mindestlöhne im Niedriglohnsegment.

Für die Anhänger der Mainstream-Ökonomie sind Mindestlöhne ja ein Übel, die schüttelt es bei der Aussicht auf „staatlich verordnete Löhne“. Denn Mindestlöhne gibt es ja nur, wenn ein Nicht-Markt-Akteur, also etwa das Parlament, ein Gesetz beschließt, das die Preisbildung am Markt einschränkt – und somit höhere als die „markträumenden“ Löhne gesetzlich festschreibt. Wenn die Parlamentarier das tun, wird der Markt aus dem Gleichgewicht gebracht, es kommt zu vielfältigen Störungen der Wirtschaft, der Wohlstandsmotor stockt und die Arbeitslosigkeit steigt, so die Argumentationsreihe der Schul-Ökonomie.

Vor allem ein Zusammenhang wird immer wieder behauptet und er leuchtet auf dem ersten Blick auch irgendwie ein: Viele Firmen würden sich ihre Beschäftigten nicht mehr leisten können und müssten sie entlassen. Der Friseurladen von nebenan, die Kneipe vom Eck, der Bäcker in der Nebenstraße, alle müssten Jobs abbauen. So würde gute Absicht – nämlich, den Leuten bessere Löhne zu verschaffen -, in ihr Gegenteil umschlagen, nämlich in Arbeitslosigkeit. Gerade Geringqualifizierte, deren Arbeit für eine Firma einen relativ geringen „Wert“ hat, würden durch Mindestlöhne aus dem Markt „herausgepreist“ werden, soll heißen: Weil sie einen zu hohen Preis für ihre Arbeit verlangen, wird sie ihnen eben niemand mehr abkaufen.

Seit Jahrzehnten bringen wirtschaftsliberale Ökonomen dieses Argument vor. Aber obwohl diese Ökonomen das Argument seit Jahrzehnten gebetsmühlenhaft wiederholen, ist es ihnen paradoxerweise noch nie gelungen, dafür irgendeinen empirischen Beweis vorzubringen.

DABEI LEICHT ZU ÜBERPRÜFEN – DANN MÜSSTEN JA DIE VW MIT DEN FLEXIBELSTEN LÖHNEN DIE NIEDRIGSTE ARBEITSLOSENRATE IM SEGMENT DER NIEDRIGQUALIFIZIERTEN HABEN

Mittlerweile ist selbst unter US-Ökonomen eine wachsende Zahl der Meinung, dass es keine negativen Beschäftigungseffekte durch Mindestlöhne gibt. Grund für den Sinneswandel waren eine Reihe empirischer Studien, die nicht nur keine negativen Beschäftigungseffekte nachweisen konnten, sondern im Gegenteil sogar überraschende positive Effekte erkennen ließen. Simpel gesagt: Es sind keine Jobs verschwunden, es sind sogar neue entstanden.
 
Einer der Gründe für diese recht unterwarteten Effekte dürfte der Umstand sein, dass gerade Geringverdiener ihr bisschen überschüssiges Geld für Güter und Dienstleistungen ausgeben, die ihrerseits wieder von Geringverdienern produziert werden. Das heißt also: Das zusätzliche Geld, das die Niedrigverdiener zum Konsumieren haben, steigert die Nachfrage – beim örtlichen Bäcker, beim nahegelegenen Fast-Food-Restaurant. Diese Firmen haben dann höhere Einnahmen und können nicht nur ihren Beschäftigten Mindestlöhne zahlen, das heitere Wirtschaftsklima führt sogar dazu, dass sie teilweise neue Beschäftigte einstellen können.

Mit einem Wort: Höhere Mindestlöhne steigern die Nachfrage und vernichten in der Regel keine Jobs, sie schaffen neue. Sie heben das allgemeine Wohlstandsniveau.

Übrigens: Es zeigt sich auch, dass alle Beschäftigten etwas davon haben. Weil nämlich die Firmenchefs sehr darauf achten, dass es in ihren Unternehmen so etwas wie eine Einkommenshierarchie gibt, steigen nämlich meistens auch die höheren Einkommen, wenn die niedrigeren Einkommen angehoben werden. Damit einfach der Abstand zwischen den Einkommensgruppen wieder stimmt.  
Dieses und viele andere Beispiele zeigen, dass die scheinlogischen Ableitungen der neoliberalen Ökonomen in kaum einem Bereich einer Überprüfung durch die Realität standhalten. Und genau so ist es auch mit ihrem Grundpostulat: dass große Einkommens- und Vermögensungleichheiten, mögen wir sie auch für ethisch bedenklich halten, nützlich sind, weil sie zu ökonomischer Prosperität führen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Gesellschaften, die die Ungleichheit bekämpfen und allen einen fairen Anteil am Wohlstand garantieren, sind auch ökonomisch funktionstüchtiger.

Firmen, die ihre Beschäftigten gut bezahlen, haben sehr oft eine bessere Performance, und Volkswirtschaften, in denen ordentliche, faire Löhne bezahlt werden, sind meist leistungsstärker – nicht nur, weil bessere Löhne sich in ein höheres Nachfrage- und damit Output-Niveau übersetzen, sondern auch wegen „sanfter“, schwer messbarer Faktoren wie der höheren Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten, die sich in mehr Engagement übersetzt und dazu führt, dass Angestellte länger ihrer Firma die Treue halten, was allgemein das Qualifikationsniveau hebt.  

All diese Beispiele zeigen: Es ist eine Milchmädchenrechnung aus dem Lehrbuch für Ökonomieanalphabeten, Löhne nur als Kosten zu behandeln, die, sofern man sie reduziert, die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens – ganz zu schweigen von einer ganzen Volkswirtschaft – verbessern.

Wenn ein Unternehmen auf Billiglöhne setzt, wird es mit unmotivierten, schlecht qualifizierten Beschäftigten arbeiten müssen. Wenn das sehr viele Unternehmen tun, sinkt in sehr kurzer Zeit die Produktivität und der Reichtum einer ganzen Volkswirtschaft.

Mehr noch. Man kann mit einigem Recht sagen: Die produktiven Unternehmen, die gut wirtschaften und innovativ sind, sodass sie sich auch gute Löhne für ihre Beschäftigten leisten können, werden in gewissem Sinne sogar „bestraft“, wenn man Lohndumping zulässt, weil sie von Unternehmen Konkurrenz bekommen, die womöglich schlechter und weniger wirtschaftlich produzieren, und am Markt nur deshalb mithalten können, weil sie ihre Arbeiter so miserabel bezahlen.

Eine Gesellschaft, die Billiglöhne zulässt, subventioniert damit die schlechten, rückschrittlichen Unternehmen zum Nachteil der Fortschrittlichen. Das ist nicht nur aus Gründen der Gerechtigkeit fragwürdig, sondern auch aus ökonomischen Gründen widersinnig. Ungerechtere Gesellschaften sind oft unproduktiver: Weil sie durch Billigproduktion unproduktive Sektoren subventionieren; weil sie auf wichtige Binnennachfrage verzichten, wenn sie der breiten Masse der Bevölkerung die Teilhabe am Wohlstand versagen; weil es Talente vergeudet, wenn Lebenschancen krass ungleich verteilt sind; weil es einfach ineffizient ist, wenn viele Menschen entweder arbeitslos sind oder unqualifizierte Tätigkeiten verrichten.

Eine gerechtere Gesellschaft, die mehr Gleichheit realisiert und all ihre Bürger am Wohlstand beteiligt, ist also auch eine ökonomisch funktionstüchtigere Gesellschaft.

Die WirtschaftsINKOMPETENZ der neoliberalen und neokonservativen Kräfte besteht genau darin, dass sie das nicht verstehen.

Und die Wirtschaftskompetenz der progressiven Kräfte besteht genau darin, dass sie das verstehen.

Und deswegen sind starke Gewerkschaften so wichtig: Indem sie die Lohnniveaus in ihrer Branche heben, heben sie Binnennachfrage; sie heben damit aber auch das allgemeine Lohnniveau einer Gesellschaft. Und sie sorgen ganz allgemein dafür, dass eine Gesellschaft voran gebracht wird, dass mehr Menschen aus ihrem Leben etwas machen können, dass die Wirtschaft stetig produktiver wird und der allgemeine Reichtum wächst. Sie sind – alles in allem – sogar für die einzelnen Firmen von Vorteil, weil die ja nicht nur auf qualifizierte und engagierte Mitarbeiter angewiesen sind, sondern auch darauf, dass die normalen Leute genügend Geld in der Tasche haben um sich die Produkte, die sie herstellen oder die Dienstleistungen, die sie anbieten, auch leisten können. Eine Gesellschaft als ganzes kann sich nicht „reich sparen“, eine Gesellschaft als ganzes kann sich nur „reich investieren“.

Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat man uns eingeredet, dass das alles nicht stimmt, und auch die progressiven Kräfte waren viel zu verzagt, haben sich nicht entschieden genug gegen die neoliberale Vodoo-Ökonomie gestellt.

Weil der BWL-Virus die Gesellschaft durchdrungen hat.

Was der HIV-Virus im Körper eines Menschen anrichtet, das richtet der BWL-Virus in der Gesellschaft an. 

Bisher habe ich davon gesprochen, dass die Wirtschaft in gerechten Gesellschaften besser funktioniert. Aber die Wirtschaft ist natürlich nicht alles. Nicht nur die Wirtschaft, die Gesellschaft als ganzes funktioniert besser in „gleicheren“ Gesellschaften. Die beiden Forscher Richard Wilkinson und Kate Picket haben das unlängst in einer großen Studie nachgewiesen – auf deutsch ist sie vor kurzem unter dem Titel „Gleichheit ist Glück“ erschienen.

Lassen Sie mich ein paar Sätze dazu sagen, weil die Ergebnisse dieser Studie so immens wichtig sind. Die Wissenschaftler haben unzählige Datensätze – 200 verschiedene Datensätze aus mehreren dutzend Ländern, Datensätze des Mikrozensus, der WHO, der UNO, der WTO, der OECD ausgewertet. Und sie haben eindeutig festgestellt:

Praktisch in jeder Hinsicht schneiden egalitäre Gesellschaften, also Gesellschaften, in denen der Grad der Ungleichheit geringer ist, besser ab. Und zwar, welchen Lebensqualitätsparameter man immer heranziehen mag:

– Lebenserwartung,
– Krankheitsrisiko,
– allgemeine Volksgesundheit,
– die Anzahl psychischer Erkrankungen pro tausend Einwohner,
– Gewaltkriminalität,
– Fettleibigkeit,
– Teenagerschwangerschaften,
– das allgemeine Bildungsniveau,
– Lesekompetenzen,
– soziale Mobilität – die Chance, das jemand aus unterprivilegierten Schichten den Aufstieg in höhere Einkommenslagen schafft.

Also, salopp gesagt: Was immer man messen kann, sie Forscher haben sich das angesehen und dann in Relation gesetzt zum Grad der Ungleichheit in einer Gesellschaft. Und sie sind draufgekommen, Sie ahnen es schon: Dass Gesellschaften mit weniger Ungleichheit besser funktionieren.

Aber sie sind noch auf etwas anderes draufgekommen, das sie jetzt wahrscheinlich mehr überraschen wird: Selbst den Reichen geht es in „gleicheren“ Gesellschaften besser, als ihren Kollegen in „ungleicheren“ Gesellschaften. Auch ihre Lebenserwartung ist in Gesellschaften mit höherer Ungleichheit niedriger. Auch ihre Lebenszufriedenheit ist niedriger.

Vor allem aus drei Gründen: Erstens macht die verschärfte Statuskonkurrenz vor den Wohlhabenden nicht halt – auch sie müssen fürchten, dass einer noch reicher ist oder noch mehr Prestige hat als sie. Die Mühe, die man hat, oben zu bleiben, ist auch für sie größer.

Zweitens trägt Ungleichheit zu einer Verschlechterung der sozialen Beziehungen in einer Gesellschaft bei. Die Bürger begegnen sich feindseliger – das macht allen Bürgern das Leben schwerer.

Und drittens funktionieren in Gesellschaften, die durch tiefe soziale Gräben zerrissen sind, viele Institutionen einfach schlechter – was auch wiederum für alle negative Auswirkungen hat, negative Auswirkungen, die man nicht immer ausgleichen kann, nur weil man viel Geld hat.

Kurzum: Der Egoismus ist sogar für die Egoisten unbequem.

Jetzt hält sich mein Mitleid mit den Reichen in scharf ungleichen Gesellschaften natürlich in Grenzen, nicht zuletzt deshalb, weil die auf den unteren Sprossen der sozialen Leiter einen noch viel höheren Preis zahlen.

Deklassiertheit, Unterprivilegiertheit, materieller Mangel, gestörte soziale Beziehungen, kulturelle Abgehängtheit, Respektlosigkeit – all das grassiert in Gesellschaften mit krassen und wachsenden Ungleichheiten.

Wenn die Gewinner in solchen Gesellschaften uns glauben machen wollen, Ungleichheiten seien funktional für die Prosperität, weil sie Leistung belohnen, ignorieren sie gerne, welche Kosten sie einer Gesellschaft damit aufbürden. Wie eine Fabrik, die deshalb „konkurrenzfähig“ produziert, weil sie die Umwelt verpesstet und damit Kosten auf alle anderen überwälzt, so hat auch die Ungleichheit ihre Kosten, die die Allgemeinheit zu übernehmen hat – also auch eine Firma, die Dumpinglöhne zahlt, bürdet der Gesellschaft externalisierte Kosten auf.

Wer in einer Gesellschaft mit verschärfter Statuskonkurrenz unten ist, der fühlt sich erniedrigt. Abgehängtheit macht psychisch krank, oft auch gewalttätig und lässt Menschen, die unter anderen Bedingungen ein gutes Leben führen und einen produktiven Beitrag zu einer Gesellschaft leisten könnten, absacken.

Wer unten ist, wird täglich gemobbt, ist Respektlosigkeit ausgesetzt, Ziel fortwährender Kränkungen, ist zum Loser gestempelt, wird zum Opfer, und das heißt auch: hat keinen Subjektstatus mehr, ist nur mehr Objekt sozialarbeiterischer Verwaltung. Zu den „Grundbedürfnissen“, die zu einem Leben in Würde gehören, zählen eben nicht nur die materiellen Basics wie Wasser, Essen, ein Dach über dem Kopf – sondern auch, als Bürger respektiert zu werden, als Mensch auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Sind viele Menschen täglichen Demütigungen ausgesetzt sind, verrotten Gesellschaften von innen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluss!

Lassen Sie mich noch einmal zusammenfassen: Gerechtere Gesellschaften sind Gesellschaften, in denen die materielle Ungleichheit, also die Diskrepanz an Einkommen und Vermögen, einen bestimmten sozialverträglichen Grad nicht überschreitet; da materielle Ungleichheit sich in Chancenungleichheit übersetzt, in Ungleichheit der Startbedingungen, hat sie im Zeitverlauf auch kulturelle Wirkungen. Gerechtere Gesellschaften sind also auch Gesellschaften, in denen der Grad an kultureller Ungleichheit, an Ungleichheit der Bildungschancen, an Ungleichheit der gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten geringer ist.

Und gerechte Gesellschaften, die möglichst allen ein Leben in Wohlstand und Würde garantieren, sind ökonomisch funktionstüchtigere Gesellschaften. Soziale Gerechtigkeit, Beteiligung von so vielen Menschen wie möglich am Reichtum, ist eine Vorbedingung für stabile wirtschaftliche Prosperität, für ein nachhaltiges Wachstum.

Aber die Wirtschaft ist natürlich nicht alles. Ich meine, wir wären selbst angesteckt vom ökonomistischen Denken, von diesem flachen Materialismus, wenn wir sagen würden: Wir sind bloß deshalb für soziale Gerechtigkeit, weil dann die Wirtschaft besser funktioniert. Nein, nicht nur die Wirtschaft funktioniert besser in gerechten Gesellschaften, die Gesellschaften als ganze funktionieren besser. Die Menschen leben hier gesünder, die Menschen sind gebildeter, sie haben auch mehr Freiheiten und Optionen, aus ihrem Leben etwas zu machen. Sie sind glücklicher. Kurzum: In gerechten Gesellschaften lebt es sich einfach besser.

Deswegen kann man BEISPIELSWEISE auch sagen: Eine Budgetkonsolidierung, die den Unterprivilegierten unverhältnismäßig mehr abverlangt, weil mit dem Rasenmäher gekürzt wird, während die Privilegierten geschont werden, weil es wieder keine echten Vermögenssteuern gibt, weil Millionenerben weiter Null Euro – NULL EURO! – Erbschaftssteuer zahlen, eine solche Form der Budgetkonsolidierung ist nicht nur ungerecht, sie ist ökonomisch widersinnig und gesellschaftlich schädlich. Und UMGEKEHRT: Vermögenssteuern, die ein bisschen mehr materielle Gleichheit herstellen, sind nicht nur sozial gerecht, sie sind auch ein Beitrag zu stabiler Prosperität und würden zu einem besser funktionierenden Gemeinwesen beitragen.

All das spricht für soziale Gerechtigkeit.

Ja, und wir sind vielleicht nicht nur für soziale Gerechtigkeit, weil sie so positive ökonomische und gesellschaftliche Folgen hat, ich denke, die meisten wären auch für Gerechtigkeit, wenn das nicht so klar wäre. Weil, ich weiß nicht, aber ich denke mir, man kann das einfach auch so sagen: Die meisten hier im Saal sind wohl nicht zuletzt deshalb für Gerechtigkeit, weil sie ihrem ethischen Kompass entspricht.

Weil sie einen Instinkt dafür haben, dass man Menschen mit Respekt behandeln soll, weil jeder Mensch gleich viel wert ist. Und insofern hat das Eintreten für soziale Gerechtigkeit auch mit einer Wertorientierung zu tun.

Und so bin ich wieder an meinen Ausgangspunkt. Bei der Frage: Wieso diskutieren sie ein Programm? Für bloße Interessensvertretung braucht man kein Programm, nur einen Forderungskatalog. Aber Gewerkschaften verkörpern immer auch eine Wertorientierung. Ihr Erfolgsgeheimnis ist, dass es so etwas wie eine Moral gibt, die sie zusammenhält.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren Beratungen!

 

 

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