Wucht und Pathos der Empörung

Ein lautes „Nein“, auch zu den Komplexitäten der Welt. Über den Erfolg von Stéphan Hessels Pamphlet „Empört Euch“. Der Freitag, 3. März 2011


Das Heftchen ist schlicht und blau, in fetten Lettern steht „Empört Euch!“ auf dem Cover und wenn man es genauer besieht, ist es eine eigenartige Textgattung. Vordergründig ist es ein Manifest, eine wuchtige Anklage, ein literarischer Wutausbruch, wie wir das aus der Geschichte der politischen Pamphletistik kennen. Aber normalerweise würden Pamphlete dieser Art vornehmlich Gründe benennen, weshalb man sich empören sollte. Diese Gründe wären das Primäre; der Affekt, der aus ihnen resultieren sollte, wäre das Sekundäre, das Nachgeordnete. Stéphane Hessels kleine Flugschrift dreht dieses Verhältnis um. Die Empörung selbst ist das Primäre. Sie schreit den Aufruf, empört zu sein, hinaus, und die Gründe, sie finden sich im Blattinneren, sind aber im Grunde schon nicht mehr ganz so wichtig. Natürlich, es wird gegen empörenswerte Sachverhalte argumentiert. Aber es ist keine interpretatorische Petitesse, wenn man auf das eigentlich Erstaunliche dieses Textes hinweist: Nämlich, dass es hier die Empörung selbst ist, für die argumentiert wird.
Die Empörung ist ein sonderbarer politischer Affekt. Es gibt da diesen eigentümlichen Pathos der Empörung. Der, der sich in rechten Worten zur rechten Zeit empört, kann schon der moralischen Wucht wegen andere mitreißen. Ihrer Erhabenheit wegen. Und doch gibt es neben dieser Art von Empörung, die uns beeindruckt, auch jene Empörung, von der sie nicht immer trennscharf geschieden ist: die Dauerempörung über dies und jenes, die unsere Gesellschaften auch charakterisiert.
Heute empört man sich über hohe Spritpreise, morgen über das Waldsterben, übermorgen über das Fernsehprogramm. Fast scheint es so, als gäbe es „hohe“ Empörungen, aber auch die Niedrigkeiten der Empörung. Die hohen Empörungen haben des wuchtige Pathos, die Niedrigen leben vom immergleichen Keppelton.
Die hohen Empörungen waren es, die in der Vergangenheit die Geschichte der Menschen regelmäßig auf ein neues Gleis gestellt haben. Kein Zufall ist, dass man einst formulierte, wenn Bürger protestierten: „Das Volk empört sich“.
Das Charakteristische und Offenkundigste an der Empörung ist, dass sie „Nein“ sagt, ohne sich um positive Vorschläge zu scheren. Sie beschränkt sich auf die simple Anklage beklagenswerter Zustände, ohne sich um die gerne geäußerte Forderung zu bekümmern, dass jeder, der Schlechtes kritisiert, die Lösung gefälligst mitzuliefern habe – also klarzumachen, wie es denn besser ginge. In neun von zehn Fällen drehen die Abgeklärten den Empörten daraus einen Strick, ziehen sie als Neinsager ins Lächerliche, und lassen sie als übellaunige Keppler alleine. In einem von zehn Fällen treffen die Empörten aber einen Ton, einen Moment, was auch immer – und die Empörung, die sie nur in Worte fassten, zieht Kreise.
Knapp zwei Dutzend Seiten ist Stéphane Hessels Flugschrift dünn, sie enthält ein paar starke Passagen, und keinen einzigen Reformvorschlag. Wäre der Autor nicht 93 Jahre alt und Veteran der Résistance, sondern beispielsweise ein 28 Jahre alter Attac-Aktivist, die Kritik würde ihm das natürlich nicht durchgehen lassen. Die selben Feuilletons, die Hessel jetzt feiern, würden ihn abkanzlen und der Verachtung aussetzen – oder, wahrscheinlicher, sie würden ihn einfach ignorieren. Es ist also nicht irrelevant, wer sich gerade empört.
Aber nicht nur das Gebot, man habe konstruktiv zu sein, macht es der Empörung schwer in unseren Zeiten. Einen nicht minder wichtigen Umstand nennt Hessel explizit: „Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu unterscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben es nicht mehr nur mit einer kleinen Oberschicht zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres verstehen. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen.“
Die Empörung nährt sich aus simplen Dichotomien – oben versus unten etwa, oder gut versus böse. Die Komplexität ist ihr Feind. Die Komplexität, über die alle Bescheid wissen, ist freilich auch Quelle von Ohnmachtsgefühlen. Man weiß, es gibt keine simplen Lösungen, nicht den einen Faden, an den man nur zu ziehen bräuchte. Die Macht ist anonym und es sind Umstände, die knechten. Die gängige Strategie, einer Welt solcher Vieldeutigkeiten zu begegnen, die man nicht ändern kann, mit denen man sich aber auch nicht gemein machen will, ist die Ironie. Wieso aber zieht dann ein derart unironisches Manifest, das diese Komplexitäten einfach beiseite schiebt – oder besser: sie in dem Appell „Empört Euch!“ auflöst – solche Aufmerksamkeit auf sich? Womöglich ist es auch ein Symptom für die Sehnsucht, wieder authentisch empört sein zu können.
Die Empörung ist, wie der Stolz, einer der „psychopolitischen Primäraffekte“, wie Peter Sloterdijk dies formulierte. Diese Affekte haben ihre unveränderte Macht, aber sie existieren natürlich auch nicht außerhalb von Zeit und Raum. In den vergangenen Jahrzehnten äußerte sich – in den westlichen Demokratien jedenfalls – die Unzufriedenheit mit beklagenswerten Umständen gerade nicht in Empörung, sondern in der Abwendung von den öffentlichen Dingen. Im Ressentiment, das der Betriebsmodus der Wut in der Ära der Postdemokratie ist, wie Colin Crouch das nennt: „Wir haben Demokratie, wir haben die Institutionen, aber eigentlich interessieren sie niemanden mehr so richtig. Die Bürger wählen, aber eigentlich wissen viele nicht, wen sie wirklich wählen sollen. Die Demokratie existiert weiter, aber jenseits davon hat die Demokratie ihre vitalen Energien verloren.“ Die Bürger wenden sich ab. Frustriert. Aggressiv. Manchmal nur indifferent. Sie schleppen sich lustlos ins Wahllokal. Oder stimmen ab, mit dem alleinigen Ziel, „es denen“ mal zu zeigen.
Ist der Hype um Hessel nun ein Vorzeichen, dass die Empörung wieder eine große Zeit vor sich hat? Nun, das ist schon auch fraglich. So sehr Hessel recht hat, dass die Empörung ein Weg ist zum Subjekt zu werden angesichts von Umständen, in denen man nur Objekt ist, so wenig können wir das Wissen verdrängen, dass die simple Empörung komplexen Sachverhalten nicht gerecht wird. Letztlich wissen alle, und sei es nur instinktiv: Man kann sich über Bankerboni empören, aber das hilft wenig angesichts der komplizierten Frage, wie ein Wirtschaftssystem aussehen könnte, das sowohl gerecht als auch effizient, funktionstüchtig als auch nachhaltig ist. Kurzum: Wir können nicht zurück hinter das Wissen, dass alles verdammt kompliziert ist.
„Machen sie sich zum Sprachrohr dieser Empörung“, riet Claus Leggewie unlängst Sigmar Gabriel und seinen Sozialdemokraten mit Hinweis auf Hessels Manifest. Aber natürlich ist nicht so recht erkennbar, was Politiker – der SPD oder anderer Parteien – mit solchen Ratschlägen anfangen sollen. Ja, es gibt dieses Unbehagen in der Bevölkerung, für die Hessels Empörungsfibel eines der Symptome ist. Aber in der Brust des Bürgers schlagen zwei Herzen. Im einen Moment will er sich erregen und anschreien gegen die Schlechtigkeit der Welt, aber im nächsten würde er schon gerne wissen, wie genau denn das gehen soll mit der Weltverbesserung. An welchen Stellschrauben denn exakt gedreht werden könnte. Der Politik zu raten, sie möge sich zum Sprachrohr des Nein machen und die Sache mit dem Ja mal fürs erste links liegen zu lassen, sie zum „Dagegensein“ zu ermuntern, statt zum „Dafürsein“ (wofür genau jetzt immer), ist wohl auch kein Königsweg.
Die Grenzen des bloßen Empörtseins muss man in Erinnerung rufen. Aber es stimmt ebenso, und Hessels Buch ist ein Anlass, das nicht zu vergessen: Die Empörung ist eine mächtige Kraft. Manchmal schläft sie. Aber mit Empörung ist immer zu rechnen. Dann erwacht sie, wie aus dem Nichts. Dann empört sich das Volk, von dem man schon dachte, es sei für immer eingelullt und in ewige Apathie versunken. Und alle reiben sich die Augen.

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