Auf zu neuen Zielen

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Die SPÖ-Vorarlberg hatte mich eingeladen, auf ihrer Maifeier am 1. Mai in Hohenems die Festrede zu halten. Das habe ich dort gesagt: 
Ich danke Euch ganz herzlich für die Ehre, hier bei dieser traditionellen Maifeier der SPÖ-Vorarlberg sprechen zu dürfen. Diese Einladung ist eine besondere Freunde, weil Ihr dieser Maifeier als Motto diesen wunderbaren Satz von Bruno Kreisky vorangestellt habt: „Darüber nachdenken, wie man die Dinge besser machen kann.“ Und ich finde, das ist ein wahnsinnig wichtiger Satz. Viel wichtiger, als er auf dem ersten Blick erscheint. Weil, auf dem ersten Blick ist das ja ein banaler Satz: Darüber nachdenken, wie man die Dinge besser machen kann. Ja, klar: Jeder, könnte man jetzt sagen, jeder, der sich irgendwie in der Politik engagiert, denkt darüber nach, wie man die Dinge besser machen kann. 
Aber überlegen wir einmal, was dieser Satz nicht sagt: 
Er sagt nicht: Darüber nachdenken, wie man verhindert, dass alles schlechter wird. 
Und er sagt auch nicht: Darüber nachdenken, wie eine optimale, ideale Gesellschaft, die wir uns im stillen Kämmerlein ausmalen, aussehen könnte. 
Er sagt: Denken wir nach, wie wir einen gesellschaftlichen Zustand verbessern können. Wie wir einen schlechten Zustand besser machen können. Oder meinetwegen auch: Wie man einen schon ganz guten Zustand noch besser machen kann. 
In diesem Satz ist die gesamte Idee, die Geisteshaltung, ja, wenn man so will, die Philosophie progressiver, sozialdemokratischer Reformpolitik enthalten. 

Und ich könnte es mir jetzt natürlich leicht machen, wenn ich hier über Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert rede, und darüber reden, was Sozialdemokratie nicht ist. 
Ich kann darüber reden, was die anderen alles falsch machen, was sie mies machen, wie sie uns in eine Sackgasse manövriert haben. Und darüber muss ja geredet werden: Über die neokonservativen und neoliberalen „Weniger Staat-Mehr Privat“-Fanatiker, die uns seit Jahr und Tag eingeredet haben, dass man den Sozialstaat verschlanken muss, dass man Arbeitnehmerrechte abbauen muss, wenn man eine brummende Wirtschaft haben will. Die uns eingeredet haben, dass die Marktwirtschaft dann am besten funktioniert, wenn man möglichst wenige Regeln hat und wenn die gesamte Gesellschaft, ja am besten alle Gesellschaften auf diesem Globus dem harten Wind der freien Marktkonkurrenz ausgesetzt sind. 
Die uns mit dem schönen, kaltherzigen Satz kamen: Wenn jeder nur an sich denkt, dann ist an jeden gedacht. 
Ein Satz, der meint, wenn alle nur ihrem Eigennutz nachrennen, dann ist das der beste Weg, um eine Volkswirtschaft reicher und reicher zu machen und dann haben am Ende alle am meisten davon. 
Aber selbst, wenn das stimmen würde: Würde man gerne in einer solchen Gesellschaft leben wollen, in der jeder nur an sich denkt, und beim anderen nur daran, wie er ihn am besten übervorteilen kann? Nein, natürlich nicht, liebe Freundinnen und Freunde, kein Mensch kann in so einer Gesellschaft leben wollen. 
Diese wirtschaftspolitische Doktrin war ja dominant in den vergangenen Jahrzehnten, so dominant, dass gelegentlich auch manche Sozialdemokraten ihr Fähnchen in den Wind gehängt haben. Aber was hat uns diese Doktrin denn eingebracht? Diese Doktrin hat uns die schwerste Wirtschaftskrise seit sechzig Jahren eingebrockt, sie hat einen brandgefährlichen Infarkt auf den Finanzmärkten ausgelöst, damals im Herbst 2008. Ja, sagen wir es in brutaler Offenheit: die ungeregelte, freie Marktwirtschaft auf den Finanzmärkten hat, als Ergebnis, das marktwirtschaftliche kapitalistische System selber an den Rand des Kollaps gebracht. Die Anhänger der Doktrin, dass alles der freien Konkurrenz der Marktkräfte unterworfen werden soll, dass jeder ungehindert seinem Eigennutz folgen können soll, die Anhänger dieser Doktrin, sie haben ihn beinahe kaputt gemacht, den Kapitalismus, ihren geliebten Kapitalismus. 
Weil, der wär‘ kaputt gegangen, wenn die Staaten und die Regierungen ihn nicht gerettet hätten. Weil die Regierungen, die geschmähten Regierungen, von denen man vorher gesagt hat, sie sollen sich aber bitte schön aus dem Wirtschaftsleben raushalten, die mussten plötzlich die Banken retten. Und die anderen Finanzinstitutionen, die Investmentbanken, die Hedgefonds, die Versicherungen. 
Sie alle wären zusammengekracht, in einem großen Dominoeffekt, kein einziges wäre übrig geblieben, wenn die Regierungen sie nicht gerettet hätten. 
Das ist schon nicht unkomisch. Weil es gibt ja so manche Linke, auch in den Sozialdemokratischen Parteien gibt’s da ein paar, die würden ihn insgeheim am liebsten weghaben den Kapitalismus. Aber seien wir uns ehrlich, ihn wirklich kaputtmachen, dass würden sich die wenigsten von denen trauen. Also, es waren nicht die scharfen linken Kapitalismuskritiker, die ihn beinahe kaputt gemacht haben den Kapitalismus, die Banker waren es, das sind total verwegene, tollkühne Leute, die haben ihn wirklich fast kaputt gemacht. 
Unabsichtlich natürlich. Ist halt eine Trottelpartie. Ist ganz lustig, weil, in diesen Kreisen gibt’s doch diesen Satz, der ist dort sehr populär, weil sie damit ihre Phantasiegehälter rechtfertigen. Der lautet: „If you pay peanuts, you get monkeys“. Frei übersetzt: Wenn man wenig bezahlt, kriegt man nur Idioten. „If you pay peanuts, you get monkeys“. Ich sag jetzt immer: „If you pay boni, you get monkeys too.“ „Wenn man Boni bezahlt, kriegt man auch nur Idioten“. 
Oder ich könnte mir, statt der Neoliberalen, die rechtspopulistischen Demagogen vorknöpfen, die vorgeben, sie wären die Fürsprecher der kleinen Leute, und die deshalb die Menschen gegeneinander aufhetzen. Ihr hier in Hohenems habt hier ja auch so einen Kasperl, der findet, dass alles Schlechte von den Ausländern kommt, von den Türken, oder auch von den Juden aus dem Ausland. 
Und ich könnte jetzt hergehen, und lange Reden darüber halten, warum so eine menschenfeindliche Demagogie mit dem Geist dem Demokratie unvereinbar ist, und warum sie besonders unvereinbar ist mit dem, was wir hier unter Solidarität verstehen, und wir wissen auch alle, dass es der positiven Entwicklung eines Gemeinwesens, absolut abträglich ist, wenn man sich zum Fürsprecher einer Bevölkerungsgruppe aufschwingt, indem man andere Bevölkerungsgruppen beschimpft – dass diese Saat des Hasses nie etwas besser und immer alles schlechter macht. 
Aber ich lass das einfach und stell nur eine Frage: Welcher junge Bursche, welches junge Mädchen hat eine bessere Ausbildung dadurch erhalten, weil der Herr Egger aus Hohenems die Menschen gegeneinander aufhetzt? Welcher junge Mensch aus unterprivilegierten Verhältnissen – also aus diesem Kreis der „einfachen Leute“ – hat bessere Lebenschancen bekommen, weil der Herr Strache aus Wien mit Hass und Aggression das Klima vergiftet? 
Kein einziger hat eine bessere Schulbildung, keine einzige eine bessere Lehrstelle, kein einziger hat dadurch mehr Chance im Leben bekommen oder auch nur einen Cent mehr Lohn. Nichts ist damit besser gemacht, aber alles ist damit schlechter gemacht. 
Aber ich will mich gar nicht lange damit aufhalten, auf die anderen zu zeigen. 
Denn Bruno Kreisky hat noch etwas sehr Wichtiges einmal gesagt: Sie wissen sehr genau, liebe Freunde, hat er gesagt, dass man, wenn es mal für eine politische Bewegung nicht ganz so gut läuft wie sie sich das erhoffen würde, „und wenn man die Ursachen dafür ergründen will, dass man das nicht mit dem Gefühl tun darf, dass alle anderen schuld sind nur man selber ist nicht schuld.“ Das Beste ist in diesem Fall, hat er gesagt, „die Schuld bei sich selber einmal zu suchen.“
Und… Schuld ist natürlich ein großes Wort. … Aber wenn ich Sie, oder Sie, oder sozialdemokratische Politiker in Wien oder Berlin oder sonst wo fragen würde: Was sind genau die sozialdemokratischen Ideen, wie unsere Gesellschaft in zehn, fünfzehn Jahren aussehen sollen? Und zwar nicht, dass ich frage nach irgendwelchen phantastischen Utopien, aber auch nicht danach, was sie glauben, wie sich der technologische und gesellschaftliche Wandel von selbst vollziehen wird bis dahin, sondern wenn ich frage: Was glaubt ihr, könnt ihr in dieser mittelfristigen Zeit von zehn, fünfzehn, meinetwegen zwanzig Jahren verbessern in Euren Gesellschaften, und was wollt ihr verbessern, und wie kommen wir dazu – würde ich so fragen, dann würde, so glaube ich, nicht sehr viel kommen. 
In den vergangenen Jahren jedenfalls war’s überall eher so, dass dann sozialdemokratische Spitzenpolitiker gesagt hätten: Wir haben eine neoliberale Dominanz, wir müssen die Angriffe auf den Sozialstaat abwehren, wir müssen Deregulierungen oder die schlimmsten Privatisierungen verhindern … oder schauen, dass der Strache nicht zu stark wird. 
Kurzum, wenn ich das mal in die Botschaft an die Wähler übersetzen darf, wäre diese Botschaft gewesen: Wählt’s uns, damit es nicht schlechter wird. Oder gar: Wählt’s uns, weil mit uns wird es langsamer schlechter. 
Und, liebe Freundinnen und Freunde, natürlich gibt es in unseren w
esteuropäischen Wohlfahrtsstaaten vieles, was wert ist, verteidigt zu werden. Aber verteidigen ist kein ausreichendes Programm. Verteidigen allen führt auch zu politischen Kleinmut. Und mit Verteidigen einer Realität, die ihre guten Seiten hat, aber von der viele Leute auch wissen, dass sie weit davon entfernt ist, optimal zu sein, mit Verteidigen allen kann man die Menschen auch nicht begeistern. 
Also, was wären solche sozialdemokratischen Ziele für die nächsten zwanzig Jahre? 
Ja, wir leben in einer Gesellschaft in der viele Menschen einen Wohlstand erreicht haben, den sich unsere Großelterngeneration nicht ausmalen hätte können, wir leben in einer Gesellschaft, in der die meisten nicht Angst haben müssen, morgen unter die Räder zu kommen und in der mehr Menschen denn je ihre Lebensziele und Träume zu verwirklichen suchen können. 
Aber trotzdem sind die Chancen weit davon entfernt, fair verteilt zu sein. 
Ich habe Euch ein paar Zahlen mitgebracht. Ich möchte Euch die einmal vorlesen. Die ersten Daten stammen aus dem Sozialbericht der österreichischen Bundesregierung: 473,4 Milliarden Euro, soviel betragen Finanzvermögen in Österreich, davon sind 439 Milliarden im Eigentum privater Haushalte. Das ist eine Zahl mit 12 Stellen und neun Nullen. Aber diese Vermögen sind grob ungleich verteilt: 
„Über zwei Drittel der österreichischen Haushalte besitzen kein nennenswertes Geldvermögen“, 
resümieren die Forscher, während
„die obersten 10 Prozent einen Anteil von 54 Prozent am gesamten Geldvermögen auf sich vereinigen.“
Noch ärger ist das bei den Immobilienvermögen. Von dem haben die obersten Top-10 61 Prozent. Während 41 Prozent der privaten Haushalte überhaupt kein Immobilienvermögen besitzen. 
Um das noch etwas anschaulicher zu machen: Man stelle sich zehn Österreicherinnen und Österreicher vor und 100 schöne Häuser. Der erste, der zweite, der dritte, der vierte besitzen kein einziges dieser Häuser. Der sechste besitzt fünf, der siebte acht, ,der achte zehn, der neunte besitzt 14 Häuser. Und den großen Rest, nämlich 61 Häuser, krallt sich der zehnte ganz alleine. 
Das ist etwa der Schlüssel bei allen Vermögensarten: Finanzvermögen, Immobilien, bei Anlagevermögen – also etwa Fabrikbesitz – ist es natürlich noch ärger. Die obersten zehn Prozent besitzen nahezu zwei Drittel von allem. 
Und diese Konzentration nimmt nicht ab, sie nimmt in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich zu. 
Aber das ist noch nicht das Ende vom Lied. Es kommt natürlich noch schlimmer: Weil sich diese Ungleichverteilung materieller Güter nicht nur darin übersetzt, dass es die einen ein bisserl bequemer haben im Leben als die anderen, sie übersetzt sich ja auch in eine krasse Ungleichverteilung der Lebenschancen. 
Nehmen wir nur die Bildungschancen unserer Kinder. Was die Bildungsgerechtigkeit betrifft liegt Österreich überhaupt unter den Schlusslichtern. Das hat gerade wieder eine Studie ergeben, die im renommierten Fachmagazin „Empirica“ veröffentlicht wurde, dem „Journal of applied economics and economic policy“. Die haben folgendes herausgefunden: In Österreich erreichen 49 Prozent der Kinder aus einem Akademikerhaushalt selbst wieder einen Universitätsabschluss. Dass Kinder, deren Eltern nur einen Pflichtschulabschluss haben, einen akademischen Grad erreichen, ist praktisch ausgeschlossen. Nur drei Prozent gelingt das. Und wenn man sich die Daten ansieht, die die Arbeiterkammer veröffentlicht hat, über den Zusammenhang der Bildungschancen der Kinder mit dem Haushaltseinkommen der Eltern, dann ist das Bild frappierend eindeutig. 
Hast Du Niedrigverdiener als Eltern – geht’s ab in die Hauptschule. 
Gutverdiener als Eltern – ab ins Gymnasium. 
Also, wir haben nicht nur grobe Ungleichheiten, wir haben nicht nur weiter eine krasse Kluft zwischen materiell gut gestellten und materiell Unterprivilegierten. Sondern diese Unterprivilegiertheit vererbt sich auch noch, wer in Armut geboren ist, hat geringere Startchancen. Und für viele zu viele am untersten Ende der sozialen Stufenleiter heißt das: Sie starten als geborene Verlierer ins Leben. 
Und ich frage Euch: Ist das gerecht? Ist das die gute Gesellschaft, in der wir leben wollen? Nein, liebe Freundinnen und Freunde, natürlich nicht. 
Und jetzt sagen uns die Neoliberalen: So ist das halt in einer freien Marktwirtschaft. Da muss man Ungleichheiten im Kauf nehmen, weil sie ist nun einmal das bestfunktionierende Wirtschaftssystem, das es gibt. Und würde man daran etwas ändern wollen, macht man das System als ganzes funktionsuntüchtiger, wovon niemand etwas hätte. Und, paradoxerweise, die Marxisten sagen was ähnliches: Die sagen, so ist das halt im Kapitalismus. Im Kapitalismus, der ist halt unfair, kann man daran nichts ändern, es sei denn, man macht ihn weg, den Kapitalismus.  
Aber das stimmt nicht. Schauen wir kurz zurück in die Geschichte. So um die vorletzte Jahrhundertwende, in den Jahren 19hundert und folgende, da haben die Liberalen auch gesagt, dieses freie Marktwirtschaftliche System funktioniert am besten, wenn man es ungehindert lässt, wenn man in Marktergebnisse nicht eingreift. Aber nach dem Krach der 30er Jahre, der in menschlichen Desastern und in Krieg und Faschismus gemündet ist, hat man überall begonnen, Wohlfahrts- und Sozialstaaten aufzubauen, oft unter Führung der Sozialdemokraten oder in den USA in den Jahren des „New Deal“ unter Führung linker Demokraten. Und anderswo, wie etwa in Schweden, hat man unter Führung der Sozialdemokraten schon früher damit begonnen. 
Und das Ergebnis war nicht nur, dass das wirtschaftliche und gesellschaftliche System fairer und gerechter geworden ist, und dass die Gesellschaften als ganzes besser funktioniert haben, weil alle eine Chance bekommen haben und jeder genug für ein anständiges Leben hatte – nein, die Wirtschaft als ganzes, das marktwirtschaftliche System als ganzes hat besser funktioniert. Wir hatten stabile Wachstumsraten und wir hatten, weil etwa die Finanzsysteme streng reguliert waren, über Jahrzehnte keine desaströsen Finanzkrisen. 
Also, es stimmt nicht, dass man das nichts verbessern kann. Und wir müssen da nicht nur in die Geschichte zurück sehen. Wir können uns auch die heutigen, real existierenden Volkswirtschaften ansehen. Da gibt es welche, in denen Vermögen, Einkommen und Lebenschancen grob ungleich verteilt sind – wie etwa die USA, Großbritannien oder Portugal. Und dann gibt es welche, wo wir einen höheren und sogar sehr hohen Grad an Gleichheit und Fairness haben – allen voran Schweden, Japan oder auch Norwegen. Also, schon das zeigt uns, dass es nicht nur eine Art gibt, Marktwirtschaften zu organisieren, sondern es gibt solche und solche. Und ich sag nicht, dass es da optimal ist, aber ich sag nur, das zeigt, es gibt nicht nur ein Modell, sondern es gibt verschiedene Wege. 
Es gibt welche, in denen man die Marktverteilung und ihre Ungerechtigkeiten einfach hinnimmt – und in denen auch noch die ökonomisch Privilegierten die Möglichkeit haben, aufgrund der Macht, die mit ihrer Privilegierung einher geht, ihre Privilegien zu verteidigen, indem sie sich Politiker kaufen oder starke Lobbys organisieren oder sich einflussreiche Medien halten und in denen man zulässt, dass die ohnehin schon Reichen das Land auch noch ausplündern – und wenn man ihnen dann draufkommt, dann fragen sie aufgeregt: Was war mei Leistung? Und dann gibt es andere, wo man sehr wohl die Dynamik v
on Märkten nutzbringend zu mobilisieren vermag, aber nicht zulässt, dass Marktlogik und der Egoismus jede Pore des Gemeinwesens durchdringen und Folgen verursachen, die eine Gesellschaft von innen verrotten lässt. 
Es stimmt einfach nicht, und man muss das hundert und tausend mal sagen, dass eine Marktwirtschaft wirtschaftlich besser funktioniert, wenn man grobe Ungleichheiten akzeptiert. Das Gegenteil ist der Fall, und zwar aus vielerlei Gründen, und ich nenn hier nur drei: 
Wohlstand für alle stärkt die Kaufkraft und die Binnennachfrage, belebt die Wirtschaft und macht eine Volkswirtschaft unabhängiger von der Exportnachfrage. Das gilt auch in einer offenen, globalisierten Welt. 
Wenn alle Menschen in materiell sicheren Verhältnissen leben, können auch alle Menschen ihre Talente entwickeln. Mehr Menschen tragen dann zum Wohlstand bei. Menschen am Rande der Gesellschaft zu belassen, sodass ihre Möglichkeiten verkümmern, ist nicht nur ungerecht, es ist auch ineffizient. 
Unterprivilegiertheit vererbt sich. Das ist nicht nur ungerecht, sondern verschwendet das Potential von Menschen, die etwas zum Wohlstand und zur Prosperität beitragen könnten. Deswegen sind gerechtere Gesellschaften auch wirtschaftlich funktionstüchtiger als Gesellschaften, die grobe Ungleichheiten zulassen. 
Das heißt: Eine Volkswirtschaft, in der es gerecht zugeht, ist auch wirtschaftlich funktionstüchtiger. Und das ist eine Einsicht, die in den nächsten Jahrzehnten noch viel wichtiger wird aufgrund der demographischen Entwicklung. Wenn immer weniger junge Menschen im erwerbsfähigen Alter immer mehr ältere Menschen gegenüber stehen. Da kann man natürlich sagen: Unser Pensionssystem wird dann schwerer finanzierbar. Aber man kann auch sagen: Dann können wir es uns einfach nicht mehr leisten, fünf oder sieben oder zehn Prozent der jungen Menschen von jedem Jahrgang mit schlechter oder gar keiner Bildung auf den Arbeitsmarkt zu werfen. Weil dann gilt, noch viel mehr als heute schon gilt: Wir brauchen jede. Wir brauchen jeden. Und wir dürfen keinen einzigen, keine einzige zurücklassen. Und zwar …. egal ob die Heinz-Christian oder Maria oder Ali oder Aysche heißen. 
Wir dürfen keine Generation mehr verlieren. Darin sollte man alle Kraft und Energie stecken, und nicht in immer neue Ausländerschikanierungsgesetze, die man jedes Jahr verschärft. 
Und hinzu kommt, natürlich: Die Wirtschaft ist nicht alles. Fairere Gesellschaften funktionieren nicht nur wirtschaftlich besser, sie funktionieren auch sozial besser, als Gesellschaften, als ganzes. Die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Picket haben das in einer bahnbrechenden Studie gezeigt, in der sie alle möglichen Datensätze über alle möglichen Gesellschaften verglichen haben. Also: Das Bildungsniveau, den Analphabetismus, die Lebenserwartung, die allgemeine Volksgesundheit, die Kindersterblichkeit, den Anteil der Teenagerschwangerschaften, den Alkoholismus, die Lebenszufriedenheit der Bürger und ihr Vertrauen zueinander und dutzende andere Parameter, was weiß ich: den Anteil der Fettleibigen, alles, was sie finden konnten. Und sie haben dann geschaut, inwiefern steht das im Verhältnis zum Grad an Ungleichheit bzw. der Gleichheit in einer Gesellschaft.
 
Und das Ergebnis, liebe Freundinnen und Freunde, ist eindeutig: Je gleicher eine Gesellschaft, umso besser funktioniert sie. Umso besser lebt es sich in ihr. Umso zufriedener die Bürger. 
Und das Erstaunlichste daran: Das gilt nicht nur für den unterprivilegierten Teil der Gesellschaft, also für jene, die von einer faireren Verteilung am meisten zu gewinnen haben – es gilt für alle. Alle haben etwas davon, wenn eine Gesellschaft besser funktioniert. Die Unfairness ist sogar für die Reichen unbequem. 
Also, um das zusammenzufassen: Gesellschaften, die nicht in grobe Ungleichheiten zerrissen sind, in denen es fair zugeht, sie funktionieren wirtschaftlich besser, aber sie sind auch als Gesellschaften lebenswerter. Ihre Institutionen funktionieren besser und ihre Bürger sind glücklicher. 
Liebe Freundinnen und Freunde, ich komme zum Schluss. Es gibt ja Leute, manchmal auch in den sozialdemokratischen Reihen, die uns einreden wollen, wegen der Globalisierung hat die Politik kaum mehr Möglichkeiten, umsteuernd in die Wirtschaft einzugreifen. Oder es gibt sogar Leute, die behaupten, die Progressiven, die demokratischen Linken, die hätten sich zu Tode gesiegt: Weil ständische Vorrechte oder die brutale Ausbeutung der Arbeiter, das gibt es heute ja nicht mehr, und dafür gibt’s ja alles, was man sich so gewünscht hat als Sozialdemokrat: Pensions- und Krankenversicherung, einen Staat, der umverteilt, anständige Arbeitszeitregelungen und was weiß ich was. Alle Ziele erreicht, keine neuen mehr in Sicht. 
Aber Leute, das stimmt nicht. 
Dass das nicht stimmt, zeigen schon die Zahlen, die ich Euch genannt habe. Aber schauen wir uns doch um, welche Probleme wir haben: nehmen wir nur das sogenannte Ausländerproblem, das ist doch, wo es tatsächlich Probleme gibt, vor allem ein Problem chancenloser Jugendlicher, die, wenn sie in die Schule kommen, einen Rückstand haben, den sie nie mehr aufholen können; die Krise der Staatsfinanzen wäre leichter lösbar, wenn man endlich einmal wieder anfangen würde, die Besitzer großer Vermögen an der Finanzierung unseres Gemeinwesens fair zu beteiligen; schwache Wachstumsraten haben auch damit zu tun, dass unsere Wirtschaft unter ihren Möglichkeiten bleibt, weil die normalen Leute am Produktivitätsfortschritt nicht fair beteiligt werden, weil’s in den letzten Jahren kaum mehr nennenswerte Lohnzuwächse gibt und die Binnennachfrage stockt; wir lassen das Wachstum von Niedriglohnsegmenten zu, was nichts anderes ist als eine versteckte Subvention für unproduktive Betriebe und kein Anreiz für unsere Unternehmen, noch besser zu werden; und wir vergeuden viel zu viele Talente junger Menschen, aber auch älterer Menschen, was wiederum zu den Finanzierungsproblemen unserer Sozialsysteme beiträgt. 
Und wenn man weiß, was falsch läuft, dann weiß man im Umkehrschluss doch auch, was man besser machen müsste. Aber, natürlich, da muss man offen sagen: niemand ändert all das von heute auf morgen. Aber in zehn, fünfzehn Jahren kann man viel ändern. Nur, dafür muss man sich ehrgeizige Ziele setzen. 
Und das trifft übrigens auch auf viele andere Dinge zu: Etwa auf die notwendige Energiewende zur Rettung unseres Ökosystems. Wir sind abhängig vom Öl arabischer Diktatoren. Wir blasen es in die Luft und ruinieren damit das Weltklima. Spätestens nach der Katastrophe von Fukushima muss jedem klar sein, dass es mit der Energiepolitik so nicht weiter geht. Dass wir etwas fundamental ändern müssen. Und man kann unsere Energieversorgung auf neue Füße stellen. Aber von alleine wird das nicht funktionieren. Weder „die Märkte“ noch irgendwelche genialen Bastler in irgendwelchen Start-Up-Unternehmen werden das schaffen. Dafür braucht es ehrgeizige Ziele, die sich politische Parteien setzen müssen und für die sie ihre Bürger und ihre Gesellschaften begeistern müssen und dafür braucht es langfristige Investitionspläne und Investitionen. 
Und dafür braucht man einen optimistischen Blick nach vorne. Und da bin ich wieder bei Bruno Kreisky. Der hat nicht kleinmütig gesagt, schau ma, dass ma das schlimmste verhindern. Wählts mi, dann wird’s langsamer schlechter. 
Der hat gesagt: Nachdenken, wie man die Dinge besser machen kann. 
Nachdenken, wie man eine gerechtere Gesellschaft hinkriegt, in der die Chancen gerechter verteilt sind, in der alle ihre Talente entw
ickeln und ihre Träume verwirklichen können. In der alle die Freiheit haben, aus ihrem Leben das Beste zu machen. Ja, Freiheit. Die Neoliberalen sagen uns ja: Freiheit, das ist primär Wirtschaftsfreiheit. Aber die Freiheit von der sie reden heißt: Viel Freiheit für die einen, wenig für die anderen. Die reden von der Optionen- und Risikogesellschaft – aber so wie sie sich das vorstellen, heißt das Optionen für die einen und Risiken für die anderen. Aber die eigentlichen Freiheitsbewegungen waren immer die progressiven politischen Kräfte, die sich für echte Freiheit und Gleichheit stark gemacht haben. 
Dieses eine ist sehr wichtig und deshalb will ich das hier noch einmal extra unterstreichen: Mehr Gerechtigkeit heißt auch mehr Freiheit, liebe Freundinnen und Freunde, echte Freiheit für möglichst alle Menschen. Denn was ist das Ziel solch progressiver Reformen, die ein Land gerechter machen? Das Ziel ist, wie das der große schwedische Sozialist Olof Palme einst ausdrückte, „die Hindernisse für die freie Entwicklung des Menschen wegzuräumen und ihm eine Chance zu geben, seine Persönlichkeit zu entwickeln“.
Also, auf zu neuen Zielen. Nur: Mit Kleinlichkeit und Kleinmütigkeit wird das nicht gehen. Mit Übellaunigkeit wird das nicht gehen. Ohne Optimismus, ohne die Zuversicht, dass es geht, ein besseres Gemeinwesen zu bauen, in dem endlich wieder das Gemeinwohl und das Wohl eines Jeden und einer Jeden im Zentrum steht, ohne diese Zuversicht, die in der Lage ist, andere anzustecken, wird das nicht gehen. 
Gesellschaften wurden nämlich nie von Miesepetern verbessert, sie werden von Optimisten verbessert. 
Wenn sich Martin Luther King ans Lincoln-Memorial gestellt hätte und da gesagt hätte: Alles ist ein Alptraum, aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wäre wohl nicht recht etwas geworden. Er hat aber nicht gesagt: Ich habe einen Alptraum. Er hat gesagt: Ich habe einen Traum. 

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