Ein radikaler Idealist

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Mann mit Schwung. Henrik Berggren hat eine fulminante Biographie über Schwedens legendären Ministerpräsidenten Olof Palme geschrieben. Der Standard, 13. Mai 2011


Wenn heute unter Sozialwissenschaftlern oder in Politikerkreisen darüber nachgedacht wird, wie denn eine einigermaßen optimale Gesellschaft aussehen könnte und mit Hilfe welcher Reformmaßnahmen man dahin käme, dann braucht es meist nicht einmal eine Minute, bis der Name eines geographisch etwas abseitigen Landes fällt: Schweden. Da gibt es gute Schulen mit Spitzenplätzen im Pisa-Ranking, eine fulminant hohe Erwerbsquote, hier werden deutlich mehr Kinder geboren als in den meisten westlichen Industriestaaten, nirgendwo sind die Frauen derart gleichberechtigt und die Wirtschaft ist, trotz des geräumigsten Wohlfahrtsstaates, hervorragend konkurrenzfähig.

 Kurzum: Schweden mag nicht das Paradies sein, aber unter den real existierenden Staaten ist es jenes Gemeinwesen, das den Vorstellungen eines wundervollen Idealstaates am nächsten kommt. 
Dieses „schwedische Modell“ ist mit der jahrzehntelangen Dominanz der dortigen Sozialdemokraten verbunden, mit Premierministern wie Per Albin Hansson und Tage Erlander, vor allem aber mit einem Mann: Olof Palme, den sie in jungen Jahren den schwedischen Kennedy nannten und der 1986 in Stockholm unter noch immer ungeklärten Umständen nach einem Kinobesuch erschossen wurde. Jetzt, 25 Jahre nach seinem Tod, erinnert die monumentale Biographie des Journalisten Henrik Berggren an diesen Politiker. Um eines schon vorwegzunehmen: Dieses Buch ist ganz großes Kino. Selten liest man eine Biographie, die derart packend, gekonnt und luzide die Mentalitätsgeschichte eines Landes, die Kulturgeschichte einer Ära – der Modernisierungsphase der sechziger und siebziger Jahre – mit der Lebensgeschichte eines Menschen verwebt. 
Palme wird immer in einem Atemzug mit den großen Sozialdemokraten dieser Ära genannt – mit Deutschlands Willy Brandt und dem Österreicher Bruno Kreisky. Tatsächlich gibt es zwischen den dreien, die eng befreundet waren, Ähnlichkeiten, aber doch auch signifikante Differenzen. Die Wichtigste: Brandt und Kreisky waren Männer, die noch in den ideologischen Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre verwurzelt waren, beide entsprangen den marxistischen Strömungen der Zwischenkriegszeit, bevor sie die Modernisierungsprozesse in ihren Parteien verkörperten. Palme war, nicht nur, weil er deutlich jünger war, ganz anders. Er stammt, so wie Kreisky, aus großbürgerlichem Haus, seine Mutter und seine Großmutter kamen sogar aus dem Adel. Aber anders als seine beiden späteren Alter Egos war er nicht als radikaler Jugendlicher ins Fahrwasser des Marxismus geraten. Er war bis in seine zwanziger ein ernsthafter, politisch interessierter, aber keineswegs ideologisch gebundener junger Mann. Am ehesten ein linksliberaler Demokrat. Erst als Student in den USA machte er eine sanfte Linksentwicklung durch, er bewunderte das egalitäre Amerika des New Deal, begann sich für soziale Fragen und die amerikanische Arbeiterbewegung zu interessieren und beobachtete den Wahlkampf Harry Trumans aus der Nähe – fasziniert, wie er in einem Artikel aus dieser Zeit schrieb, von dessen Unmittelbarkeit, seinem sozialen Pathos und seiner volksnaher Persönlichkeit. Palme war auch Kind seiner Zeit: Ende der vierziger Jahre (!) trampte er bereits, ganz allein, durch 23 Bundesstaaten der USA. 
Als politischer Aktivist war Palme ein „Spätstarter“, der es in wenigen Jahren dann bis an die Spitze der Macht schaffte, als bis dahin jüngster Premierminister. Und, wie gesagt, er war weder besonders ideologisch noch aber Pragmatiker in pejorativen Sinn des Wortes – schließlich rebellierte er in den fünfziger Jahren schon gegen jene „Teile der Partei, die die totale Ideenlosigkeit zu ihrer politischen Ideologie gemacht hatten“. 
Er war also etwas Drittes, wie Berggren schreibt: „Palme war ein radikaler Idealist, der die Macht gewählt hat, um Veränderungen zu erreichen.“
Idealist, Egalitarier, Weltverbesserer – das darf man ihn alles nennen. Aber von linken Wortradikalen, die an die Verbesserung „des Kapitalismus“ keine Gedanken verschwenden, weil der ja prinzipiell ungerecht sei, war er meilenweit entfernt. Er war ein Realist mit ambitionierten Zielen. Und er hatte auch bestimmte Charaktereigenschaften: Er war ein energetischer Willensmensch, für etwas langsamere oder zauderhaftere Typen hatte er wenig Nachsicht; er war ein streitlustiger Polemiker, was ihm gelegentlich auch Probleme eintrug. Landesvater war er auch als Premier nie – eher polarisierte er. 
Gewiss, er hatte in wichtigen Jahren auch den Zeitgeist im Rücken. Der Mann und der Zeitgeist fanden sich gewissermaßen. Beides zusammen führte dazu, dass Palme sein Ziel, Schweden noch moderner zu machen und ein Höchstmaß an Freiheit und Gleichheit zu realisieren, in erstaunlichem Ausmaß erreichte. Berggren: „Schweden wurde zu einem der egalitärsten Länder der Welt“. Palme formte eine Sozialdemokratie, für die Freiheit und Gleichheit keine Antipoden, sondern Zwillinge waren. „Gerade ‚Wahlfreiheit'“, schreibt der Biograph, „war ein zentraler Begriff für Palme. Nicht ‚dieses laue liberale Gerede von Wahlfreiheit‘, sondern eine auf Gleichheit basierende Freiheit. Die privilegierte Minderheit hatte immer schon Wahlfreiheit genossen, befand Palme, die Aufgabe der Sozialdemokratie sei es nun, diese Freiheit auf die Mehrheit der Bevölkerung auszuweiten. Das Ideal der Demokratie, erklärte Palme, seien ‚selbständige und gleichberechtigte Bürger'“. 
Man liest solche Biographien immer mit dem Blick zurück, und damit auch aus der Perspektive unserer Zeit – einer Zeit, die davon überzeugt ist, dass die Politik ihre Ideale verloren hat, dass die heutigen Politiker ganz anders seien, fade und ideenlos. Oft geht das mit jenem typischen nostalgischen Bewusstsein einher, dass es solche Politiker nun einmal niemals mehr geben würde, weil sie einfach aus einer völlig anderen Zeit stammten. Und oft stimmt das ja auch. Was aber an Palme irritiert, ist, dass dieser Mann eben nicht aus einer völlig anderen Zeit stammt, dass er gar kein Typ aus einer Ära ist, in der auch die Charaktere völlig andere waren, dass wir nicht Lichtjahre von ihm getrennt sind. 
Simpel gesagt: So einen könnte es auch heute geben und gäbe es ihn, es wäre ihm auch heute möglich, ein Gemeinwesen mit Beharrlichkeit gerechter, fairer, funktionstüchtiger zu machen und den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass Politik mehr kann, als nur kleinlich zu verwalten. So münzt sein Biograph Henrik Berggren einen Satz aus einem Paul-Auster-Roman auf Palme: „Er mag sich nicht immer an die Regeln halten, aber er hat Schwung. Und solange noch jemand Schwung hat, gibt es Hoffnung für die Welt.“

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