Jargon der Wirtschaftlichkeit

Acht Thesen gegen die Privatisierungsideologie. 


Der folgende Text ist schon ein paar Jahre alt – wurde aber nie veröffentlicht. Skurrilerweise deshalb, weil die Zeitschrift, die ihn bestellte, damals zu wenig Inserate aufstellte und deshalb die Seitenzahl aus Kostengründen reduzieren musste. Aber vielleicht sind ja dennoch, trotz des Alters, noch ein paar Gedanken für ein paar von Euch interessant. 

1. Privatisierung hilft nichts gegen das Budgetdefizit. Oft erhöht sie es noch. 

Seit zehn, zwanzig Jahren stößt der Staat im Westen öffentliche Versorgungsbetriebe ab. Der Grund dafür ist einerseits der allgemeine Diskurs, dass kundenorientierte Unternehmen „effizienter“ und „bürgernäher“ seien, andererseits die Unterdotierung der öffentlichen Haushalte – dem Staat fehlt es an Geld, und mit Privatisierung will er es herein bekommen. „Allein 2005 veräusserten deutsche Städte und Gemeinden Vermögen für 5,7 Milliarden Euro“, errechnete unlängst die Hamburger „Zeit“. „Wasserversorgung, Straßenreinigung, Gartenbaubetriebe, Kliniken, Müllabfuhr, Messehallen, Busverkehr, Wohnungen, Schulausbau.“ Freilich: der Privatisierungsdiskurs und die klammen öffentlichen Kassen hängen zusammen. Privatisierung spült kurzfristig Geld ins Budget – aber als Einmaleffekt. Dafür ist das Vermögen  weg. Aber das, was der deutsche Privatisierungsforscher Werner Rügemer die „Heiligsprechung der Investoren“ nennt, hat noch weitere Auswirkungen. Es führt zu sozialer Ent-Pflichtung der Unternehmen – und zwar aller. Die Kassen sind nicht deshalb leer, weil sich der Staat zu viele Rechte herausnimmt, sondern weil er den Unternehmen zu viele Freiräume gewährt – weil Unternehmen keine Steuern mehr zahlen, weil sie Personalabbau auf Kosten der sozialen Sicherheitssysteme betreiben, weil sie staatliche Zuschüsse und Steuerbefreiungen fordern und erhalten und weil sie verdeckte Subventionen lukrieren – all das sind zusätzliche Quellen der Staatsverschuldung. Das heißt: Weil Unternehmen raffiniert „Steuerschonung“ betreiben können, fehlt es dem Staat am Geld – darum privatisiert er, mit der Folge, dass weitere private Unternehmen entstehen, die keine Steuern zahlen oder sich sogar bei den ohnehin bereits klammen Staatskassen bedienen. Absurd.
2. Der Geist der Privatisierung durchdringt alle Unternehmen.
Paradoxerweise ist angesichts der Privatisierungsideologie die „Rechtsform“ gar nicht so wichtig. Auch staatliche und kommunale Unternehmen orientieren sich am Vorbild der Privaten. Die verallgemeinerte Marktlogik, wonach sogar einzelne Abteilungen, dann „Profit-Center“ genannt, wie unabhängige Firmen behandelt werden, durchdringt auch sie. Dabei war die Existenz eines öffentlichen Sektors, der andere Zwecke verfolgt als das Profitmotiv privater Unternehmen jahrzehntelang ein wichtiger Mechanismus gesellschaftlicher Steuerung. Unentgeltliche Bildung für alle, erschwinglicher Zugang zu Kultur, Vielfalt jenseits von Quotendruck, billige und gesicherte Versorgung mit existenznotwendigen Gütern und Diensten von der Wasserversorgung bis zum Post- und Telefonnetz für alle Haushalte, aber auch Subventionspreise für Energie für Unternehmen waren wichtig für den Aufbau von „Kapital“ eines Gemeinwesens – für die Pflege von Sozialkapital („Investitionen“ in die Kompetenzen der Bürger) und für das Wachstum der Industrie. Kurzum: Staatsunternehmen konnten durchaus absichtlich „rote Zahlen“, im Kauf nehmen, weil sie wichtige öffentliche Zwecke verfolgten. Staatsunternehmen waren also nicht immer deshalb defizitär, weil sie „ineffizient“ waren, sondern weil sie eine Art Umverteilung von der Staatsindustrie zur Privatindustrie praktizierten. Mit durchaus auch innerhalb der marktwirtschaftlichen Logik positiven Folgen: Indem Staatsunternehmen Infrastruktur bereit stellten und die Kosten der Privatwirtschaft minimierten, stärkten sie deren internationale Konkurrenzfähigkeit. Diese partielle Sistierung des Marktprinzips war es ja, was den Nachkriegskapitalismus vor den Gefahren des freien Marktes gerettet hat. Heute gelten solche Steuerungen, etwa durch Subventionen, als böse und werden als „Wettbewerbsverzerrung“ gerichtlich geahndet. 
3. Demokratische Institutionen verlieren an Kontrollmöglichkeiten
Die Privatisierungsideologie setzt auf zwei fragwürdige Standards. Erstens: Dass die Menschen nur schätzen, was etwas kostet. Zweitens: Dass Private genauso gut, ja besser öffentliche Zwecke realisieren können wie der Staat. Ersteres zielt darauf ab, Verschwendungseffekte zu minimieren. Motto: Wenn der Arztbesuch gratis ist, geht der Hypochonder wegen jedem eingebildeten Schmerz zum Facharzt. Oder: Wenn das Wasser gratis ist, drehen die Penner den Hahn nicht ab. In Konsequenz führt das dazu, dass immer mehr Dinge, die noch nie als Gegenstand von Handelspolitik und Kapitalverwertung gesehen wurden, über den Markt organisiert werden. Investitionshäuser bieten schon Wasserfonds an: „Auf kostbares Nass setzen.“ Was sich nicht rechnet, hat sich erledigt, auch wenn es weiter nötig wäre – vom sozialen Wohnbau über die Lokalbahn bis zum Subventionstheater oder der Wasserversorgung der Favellas. Und auch wenn Staaten, Länder oder Kommunen in Privatisierungsverträgen die Erfüllung nötiger Staatsaufgaben weiter festschreiben (was ohnehin nicht immer der Fall ist), verlieren die demokratisch gewählten Institutionen immer mehr die Kontrolle und damit die Möglichkeit, Prioritäten auch wieder einmal anders zu setzen.
4. Öffentliche Institutionen sind keine „Kostenfaktoren“, sondern ein Vermögen, an dem jeder Bürger Anteil hat.
Ein dritter Standard der Privatisierungsrhetorik ist die Lobpreisung des Privateigentums. Demnach schätzen Menschen nicht nur Dinge hoch, die etwas kosten, sondern besonders, was ihnen gehört. Güter, die der privaten Aneignung entzogen sind, sind aus dieser Perspektive Verschwendung. Das ignoriert, was der französische Sozialforscher Robert Castel „Sozialeigentum“ nennt. Wenn eine historisches Bedeutung des Privateigentums die Tatsache ist, dass sie dem Einzelnen Sicherheit gibt, so sind die Institutionen des Sozialstaats, die Pflichtversicherung, aber auch der öffentliche Dienst, auf dessen Leistungen man als Bürger Anrecht hat, eine Art von Vermögen, „das nicht privater Natur ist“, aber „die Funktion eines privaten Vermögens erfüllt“ (Castel). Ein ausreichend dotierter Wohlfahrtsstaat wird aus der Perspektive der Privatisierungsrhetorik nur als „Kostenfaktor“ gesehen – in Wirklichkeit ist er ein Vermögen, an dem jeder Bürger Anteil hat. Er ist eine andere Eigentumsform, so Castel, „die nicht wie Geld zirkuliert und sich nicht wie eine Ware tauschen lässt“. 
5. Nur außerhalb der Marktzone begegnen sich Bürger als Gleiche
Selbst wenn öffentliche Einrichtungen tatsächlich grundsätzlich ineffizient und ihre Leistungen schlecht wären, hätten sie noch immer einen wesentlichen Vorteil: sie spannen einen Raum auf, in dem sich die Bürger, ungeachtet ihres sonstigen Status, als Gleiche begegnen. Funktionierender öffentlicher Nahverkehr, schöne städtische Bäder zu erschwinglichen Preisen garantieren, dass sie von Wohlhabenden und Ärmeren gemeinsam benutzt werden und diese zumindest teilweise über gemeinsame Erfahrungsräume verfügen – und dass begrenzte monetäre Verhältnisse nicht notwendig mit extrem eingeschränkten Lebenswelten einher gehen. Das öffentliche Gesundheitswesen hat dazu geführt, dass man an den Zähnen heute nicht mehr den sozialen Status erkennt – Zahnregulierungen sind auch in den Unterklassen obligatorisch geworden. Der soziale Wohnbau stellt sicher, dass Reiche und Arme wenigstens rudimentär „ähnliche“ Lebensbedingungen haben – zumindest ein Dach über dem Kopf, und Heizung im Winter. Das Gegenmodell sind die Gesellschaften, in denen jeder für sein „Glück“ verantwortlich ist. Sie versinnbildlichen sich in den „Gated Communities“ der Reichen, die sich mit Mauern, hohen Zäunen und privatisierten Sicherheitsdiensten gegen die Welt der Anderen abschotten. Absurd ist es, in diesem Zusammenhang noch von „Gemeinwesen“ zu sprechen. 
6. Privatisierung macht die Welt hä
sslich. 
Der Privatisierungsjargon ist eine rhetorische Figur des Konsumkapitalismus. Die Botschaft: Der Wettbewerb privater Anbietern wird nicht nur die Kosten senken, sondern auch für Abwechslung und damit für Vergnügen sorgen. Tatsächlich kolonisiert der Konsumkapitalismus alle öffentlichen Orte. Einer inneren Landnahme gleich, richtet er sich alle Erlebniswelten her, formatiert er sie um nach dem Vorbild der Shopping Mall. Museen, Bahnhöfe, die Eingangsgeschoße von Krankenhäusern, die Maga-Churches in den USA – oft sind sie kaum mehr von Einkaufzentren zu unterscheiden. Während die Shopping Malls zu „Urban Entertainement Center“ werden, werden die Innenstädte zu „Brand Zones“, zu einem Themenpark, in dem der Konsumismus buchstäblich „im Zentrum“ steht und das Urbane nur mehr eine Kulisse des Sozialen ist. Gewiss, es hat etwas Schnöselhaftes, darüber die Nase zu rümpfen. Diese innerstädtischen Konsumzonen, die Malls, Entertainementcenter und Multiplexes sind schließlich Orte, an denen viele Menschen Spass haben. Aber in dem Maße, in dem die öffentliche Hand Bautätigkeit und Stadtplanung zurückschraubt, springen die „privaten Investoren“ ein. Ihre Flagship-Stores sind die neuen Wahrzeichen der Innenstädte. Die Innenstadt will selbst konsumiert werden. Ihr Wert steigt, je mehr ihr Erlebniswert steigt, und der wird daran gemessen, wie viele Menschen er anzieht. Die großen Museen zeigen vor allem große Blockbuster-Ausstellungen, die zwischen New York, Bilbao, Berlin und Zürich auf Wanderschaft gehen, die Multiplexes die Filme, die die beste Quote versprechen. Wer irritierende Farbtöne in die Glitzer-Kulisse bringt, wird vertrieben: Wer herumlungert, wird weg gewiesen – und in Shopping Malls herrscht Demonstrationsverbot, obwohl sie oft die Hauptstraßen der Gegenwart sind. In Berlin heißt ein ganzes Stadtquartier Sony-City, Fussballstadien tragen so schöne Namen wie „AOL-Arena“ oder „Allianz-Arena“. Der öffentliche Raum wird wie privater Raum behandelt, in dem der Besitzer bestimmt, wer hereinkommt und was als Hausfriedensbruch geahndet wird. Junk-Space, Müll-Raum, nennt der niederländische Stararchitekt Rem Koolhaas diese Wucherungen, die sowohl chaotisch, weil ungeplant, wie auch erschreckend steril sind, Subsysteme ohne Plan, geboren aus dem Zusammentreffen von Rolltreppe, Klimatisierung und Gipskartonplatten. Koolhaas: „Junk-Space ist die Summe unserer heutigen Architektur“. Wenn jeder Instinkt für das Öffentliche verloren geht, ist Junk-Space architektonischer Ausdruck der Privatisierungsideologie. Man könnte es „Lebensumwelt“ nennen, würde das nicht in die Irre führen: Im Marktkapitalismus werden die Menschen ja selbst zur „Umwelt“ des Systems degradiert. Einheitsglasstahlbeton, bevölkert von Einheitsmenschen in Standardanzügen, Gefühlszombies, absurderweise hervorgebracht von dem gleichen System, das den Individualismus als Ideologie entwickelt hat. Der französische Literat Camille de Toledo fragt, warum wir nicht einfach aufhören, „den Kapitalismus als ungerecht zu kritisieren und ihn stattdessen als hässlich verurteilen?“
7. Der Pfennigfuchser als Leitfigur
Wer den Telefonhörer abhebt, tut gut daran, nicht sofort zu wählen, sondern sich erst zu vergewissern, ob nicht eine andere Telefongesellschaft dieselbe Dienstleistung billiger anbietet. Wer keine überzogenen Bankgebühren entrichten will, sollte die Tarife seines Institutes mit denen der Konkurrenz vergleichen. Wer im Alter noch Sprünge machen will, muss sich schon in frühen Jahren um private Zusatzversicherungen kümmern – die Auswahl ist gross. Am besten, der Konsument lässt sich Angebote für seine individuellen Bedürfnisse massschneidern. Die Figur, die dieser Zeit das Gepräge gibt, ist der Pfennigfucher. Seine Freiheit ist die Freiheit des Preisvergleichs, seine Art, ins Wirtschaftsleben einzugreifen, ist die Kostenminimierung. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, schrieb Marx. Heute denkt man da sofort an Kostenbewusstsein.
8. Freiheit erschöpft sich in der freien Auswahl kommerzialisierter Güter
Schon jetzt führt der konsumistische Orbit dazu, dass Shopping „das einzige Mittel ist, das soziale Leben zu erfahren“ (Sze Tsung Leong im Harvard Design School Guide to Shopping). Das ist kulturell prägend, mit der Folge, dass der zeitgenössische Mensch alles wahrnimmt wie der Kunde eine Ware: Städte, persönliche Beziehungen, Kunst, ganze Landstriche, Erlebnisse. Alles ist flüchtig, alles verlangt nach mehr, alles riecht nach Marketing, kein Bild, das nicht irgendwie wie Werbung aussieht. Totalprivatisierung heißt in logischer Konsequenz, alle Orte und Räume zu vernichten, in denen noch auf andere Weise Erfahrungen gemacht werden können. Die Privatisierungsideologie sortiert die Bürger in gute und schlechte Kunden. Eigentlich müssten gerade jene, die den Kapitalismus für eine prinzipiell gut funktionierende „Ordnung der Freiheit“ halten, für die Hegung und Ausweitung von Räumen jenseits der Marktzone eintreten, in denen Menschen erfahren können, dass sich ihre Freiheit nicht in der Freiheit des „Konsumbürgers“ und ihre Wahlfreiheit nicht in der unbegrenzten „Auswahl“ kommerzialisierter Güter und Erlebnisse erschöpft. Wobei der Begriff „unbegrenzt“ eigentlich in die Irre führt: denn was sich nicht kommerzialisieren lässt, ist logischerweise eben nicht im Angebot. Die Erfahrungen jenseits des Kommerzes, sie sind –  buchstäblich – die „Mangelware“ des glitzernden Konsumkapitalismus.

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