Standard & Poors: Die Stimme der Vernunft

Verrückte Welt: Niemand kann oder will die Botschaft der Rating-Agentur Standard & Poors verstehen. Alle KommentatorInnen führen Standard and Poors im Munde wenn sie vom Sparen sprechen, obwohl das gar nicht die Empfehlung der Agentur war. Die Analysen der Rater sind wesentlich vernünftiger, als das was an Unsinn durch die österreichischen Medien geistert.

Von Gastautor Niki Kowall


Das international renommierte Fachblatt für Wirtschaftfragen „Heute“ hat in seiner Montagsausgabe den U-Bahnfahrenden Wiens zehn Fragen zu Österreichs Kreditwürdigkeit erläutert. Frage 7: „Wie kann Österreich den AAA-Status wiederbekommen“? beantwortet „Heute“ wie folgt: „Durch rasche Sparmaßnahmen. Gerade die hohen Schulden haben zur Herabstufung geführt (…)“ Das ist nur die simpelste Wiedergabe dessen, was fast alle MeinungsmacherInnen dieser Tage mit sorgenvoller Miene verkünden: Wir hätten die AAA-Bonität wegen mangelnder Sparanstrengungen verloren. Niemand hat es überprüft aber alle wissen: Nur harte Reformen und eisernes Sparen können uns aus der Schuldenkrise führen. Doch lassen wir Standard & Poors (S&P) einmal selbst sprechen und schauen wir, was in ihrem aktuellen Report zu lesen ist: 
„Wir sind auch der Auffassung, dass die Gipfelvereinbarung (EU-Gipfel vom 9.12.) von einer lediglich einseitigen Interpretation der Ursachen der Staatsschuldenkrise geprägt ist, nämlich dass die derzeitigen finanziellen Unsicherheiten primär von mangelnder budgetärer Disziplin in den Peripheriestaaten der Eurozone herrühren. Nach unserer Meinung sind die finanziellen Probleme in der Eurozone jedoch gleichermaßen ein Ergebnis der steigenden außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte und auseinanderlaufender Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Kernländern der Eurozone und den sogenannten Peripheriestaaten. Daher glauben wir, dass ein Reformprozess, der einseitig auf fiskalischen Sparmaßnahmen beruht, unwirksam sein könnte, indem die Inlandsnachfrage in gleichem Maße sinkt wie die Sorge der Verbraucher um ihre Arbeitsplätze und ihre verfügbaren Einkommen steigt und damit die nationalen Steuereinnahmen erodieren“. 
Moment, das hört sich doch ganz anders an als Sparen, Sparen und Sparen. Kann es sein, dass „den Gürtel enger schnallen“ und „sich von liebgewordenen Gewohnheiten trennen“ überhaupt nicht den Empfehlung von Standard and Poors entspricht? Am Montag hatte S&P Chefanalyst Moritz Krämer im Ö1-Mittagsjournal selbst die Gelegenheit Stellung zu nehmen. Weil für Ö1-Journalist Volker Obermayer die Antworten scheinbar ohnedies schon feststanden, gab er sie sich in der Frage auch gleich selbst: Vermissen Sie den eisernen politischen Willen, die Konsequenzen aus der Lage zu ziehen. Also nachhaltig die Budgets zu sanieren, Strukturreformen durchzuziehen? Zur Überraschung aufmerksamer HörerInnen kommt von Krämer gar keine Bestätigung des handelsüblichen Spar- und Reformgewäschs: „Viel wichtiger für uns – um wieder den Fokus auf die europäische Ebene zurückzuführen – ist, dass es nach unserem Dafürhalten die Krise gar nicht vor allem eine Budgetkrise ist oder eine öffentliche Schulenkrise, sondern eine Krise die dadurch ausgelöst wurde, dass sich die wirtschaftlichen Entwicklungen und die Wettbewerbsfähigkeiten in der Eurozone in den letzten zehn Jahren diametral  in Richtung auseinander bewegt haben. Durch Schuldenbremsen europaweit lässt sich dieses Problem nicht eindämmen.“ 
S&P-Analyst Krämer spricht des Pudels Kern – nämlich die unterschiedliche Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeiten innerhalb der Eurozone – deutlich an. Volker Obermayr hat scheinbar keine Ahnung, dass damit die divergente Entwicklung der Lohnstückkosten in Nord und Südeuropa gemeint ist. Das Stichwort Wettbewerbsfähigkeit genügt ihm, um wie ein pawlowscher Hund mit einer Journalistenfrage zu reagieren: „(…) Steht es aus ihrer Sicht so schlimm um die Wettbewerbsfähigkeit, um die Kreditwürdigkeit des gemeinsamen Währungsraums?“ Krämer meinte nicht, dass der Euroraum nicht wettbewerbsfähig sei, sondern lediglich, dass intern zu große Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit bestehen und er deutete in seiner Antwort darauf hin, dass die Ratings für die Eurostaaten mehrheitlich gut seien. Volker Obermayr findet aber die Herabstufung ob der großen Sparanstrengungen sehr unfair: „ (…) Warum dann genau jetzt zu diesem Zeitpunkt das Urteil, zu einer Zeit in der sich die Europäische Union eine strengere Fiskalpolitik geben will. Halten Sie den Durchbruch für so unwahrscheinlich?“ Krämer antwortet völlig trocken, dass dies die falsche Medizin sei: „Das hängt mit der Frage zusammen, was ist die richtige Diagnose der Krise, und da können natürlich verschiedene Beobachter und Analysten verschiedene Schlussfolgerungen treffen. Unsere Schlussfolgerung ist, dass es eben nicht primär eine Krise der öffentlichen Budgets ist, sondern eine Krise die weiter darüber hinausgeht, über Verschuldung auch des Privatsektors. Das denke ist ein starker Indikator dass die Diagnose auf der europäischen Ebene was die Ursache der Krise angeht nach wie vor nur partiell gelungen ist und daher natürlich auch die Lösungsansätze nicht vollständig auf die eigentlichen Ursachen abstellt.“ 
Standard & Poors und DGB haben gleiche Krisendiagnose 
Unglaublich aber wahr: Die Rating-Agentur Standard & Poors hat offensichtlich die gleiche Krisendiagnose wie das dem deutschen Gewerkschaftsbund nahe stehende keynesianische Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf (IMK). Der Befund ist kurz gesagt der folgende: Nicht nur die öffentlichen, sondern auch die privaten Schulden bedürfen einer politischen Berücksichtigung. Wenn die Guthaben des privaten Sektors die Schulden des Sektors Staat in einer Volkswirtschaft nicht übertreffen, oder die Privaten in Summe unterm Strich sogar selbst verschuldet sind, ist das ein direktes Resultat der negativen Außenhandelsbilanz der entsprechenden Volkwirtschaft. Diese Leistungsbilanzungleichgewichte entstehen auf Grund der unterschiedlichen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der Staaten im Euroraum, was wiederum damit zu tun hat, dass die südeuropäischen Staaten wegen der gemeinsamen Währung mangels Abwertungsventil keine Möglichkeit haben, die Lohnzurückhaltung im Norden – allen voran in Deutschland – zu kompensieren. Klingt komplizierter als es ist, eine verständliche Analyse des IMK ist hier zu finden. 
Diese Sichtweise auf die Ursachen der aktuellen Krise ist wesentlich differenzierter als der ausschließliche Fokus auf die öffentlichen Haushalte. Standard & Poors hat offensichtlich Leute, die clever und weitsichtig genug sind, das zu erkennen. Wieso? Ganz einfach, weil diese AktuerInnen Interesse daran haben, dass ihre Veranlagungen nicht wertlos werden und sie pragmatisch jede Politik unterstützen, die in der Lage ist das Vertrauen wiederherzustellen und den Finanzsektor nicht beim Kohle scheffeln stört. Darum kommen von Seiten der Ratingagenturen auch immer wieder pragmatische Vorschläge keynesianischer Prägung, wie sogar SPÖ-OÖ-Chef Josef Ackerl – sicher kein Freund des Finanzkapitals – in einer Pressemeldung kürzlich lobend hervorhob.
Gleichzeitig müssen wir aber leider feststellen, dass die in Österreich veröffentlichte Meinung – und damit ist nicht nur das eingangs zitierte U-Bahn-Revolverblatt „Heute“ gemeint – die Analysen von S&P vollständig aus einem vorgefertigten und unverrückbaren Korsett heraus interpretiert. Beeindruckend ist dabei, mit welcher Dreistigkeit alle Befragten die Analysen von S&P, die oben im Original zitiert sind  (zur Erinnerung: „Unsere Schlussfolgerung ist, dass es eben nicht primär eine Krise der öffentlichen Budgets ist“ / „Durch Schuldenbremsen europaweit lässt sich dieses Problem nicht eindämmen“) nach Belieben vergewaltigen: 
Peter Brezinschek (Raiffeisen) im Ö1 Morgenjournal vom Montag: 
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nbsp;„Wenn der Budgetvoranschlag für 2012 etwas ambitionierter gewesen wäre wie Frau Finanzminister Fekter auch selbstkritisch gemeint hat und die Schuldenbremse installiert worden wäre im Verfassungsrang, worauf ja unsere Einschätzungen beruht haben, dann glaube ich, dass wir wahrscheinlich noch mit einem blauen Auge davongekommen wären.“ 
Raiffeisen-Analyst Peter Brezinschek erweist sich zum wiederholten Male mehr als Ideologe denn als nüchterner Beobachter des Geschehens. In Manier eines völligen Autisten, kehrt er die Analyse von Standard an Poors in ihr Gegenteil. Dass kein/e einzige/r Journalist/in das Dokument von S&P gelesen hat, war wohl zu erwarten. Dass aber auch die selbst ernannten ExpertInnen nicht einen Blick in das Ding werfen, ist doch höchst erstaunlich.  
 
Sebastian Kurz (Staatssekretär) in der Presse von Dienstag 
„Für Kurz kam dieser Schritt aber nicht aus heiterem Himmel: „Ich war nicht sonderlich überrascht.“ Schließlich habe das Land mehr als 200 Milliarden Euro Schulden. Allein auf die Finanzkrise in Ungarn könne man sich also nicht ausreden. Zudem wäre das Rating egal, wenn man nicht so viele Schulden hätte. Denn die Meinung der Agenturen wirke sich auf die Kreditzinsen für Österreich aus – doch relevant sei das nur, wenn man Kredite benötige.“
Sebastian Kurz, neuerdings nicht nur Integrations- sondern auch Finanzexperte. Respekt!
Bernhard Felderer (IHS) in „Im Zentrum“ vom Sonntag: 
 „Ich glaube es hätte sich wenn man Anfang November erstens die Schuldenbremse als Verfassungsgesetz verabschiedet hätte ohne dass die Opposition dagegen gewesen wäre, wenn man einen klaren Konsolidierungspfad vorgelegt hätte der also nicht so großzügig war wie der der bis jetzt noch immer vorliegt – jetzt wird ja noch immer neu verhandelt – dann glaube ich schon dass eine Chance bestanden hat. (…) Ich glaube entscheidend ist dass wir jetzt alle erkennen, es gibt keinen anderen Weg als Schuldenbremse als Verfassungsgesetz, als weitere Konsolidierungen.“ 
Bernhard Felderer, jener Wirtschaftsforscher der schon mehrfach durch einen extremen Bias in seiner Realitätswahrnehmung aufgefallen ist (vgl. auch „Irre ÖkonomInnen (1)“) hier auf diesem Blog), wird allen negativen Erwartungen an sein Urteil gerecht. Auch er instrumentalisiert S&P schamlos gemäß seiner eigenen politischen Auffassungen und sagt dabei das Gegenteil von dem, was die Rating-Agentur verlautbart hat.
Ingrid Thurnher (ORF) in „Im Zentrum“ vom Sonntag  
Dann werden wir noch beobachten und sicher auch feststellen ob dieser deutliche Warnschuss von S&P vielleicht so was wie ein Weckruf für das Überwinden von Blockaden bei dieser oder der anderen Verhandlung über die Zukunft unseres Staatshaushaltes war.
Ö1-Befrager Volker Obermayer wurde schon oben zitiert, aber natürlich weiß auch Finanzexpertin Ingrid Thurnher, dass der Staatshaushalt der Kern des Problems ist, wie sie eine ganze „Im Zentrum“-Sendung unmissverständlich klar machte. Journalistische Skepsis? Vorab verschiedene Meinungen einholen? Doch nicht im Spar- und Reformpropagandafunk ORF.   
Franz Schellhorn (Die Presse) in „Im Zentrum“ vom Sonntag  
„Es ist in Österreich so, dass wir hier ein Land haben, das seit 40 Jahren es nicht schafft weniger auszugeben als es einnimmt (…) So ein Land ist eigentlich nicht Triple A würdig. (..) Jetzt müsst man schon einmal weniger ausgeben. Man solls es einfach einmal tun“ 
Auch Franz Schellhorn interessiert sich nicht für das was S&P sagt, sondern hat seine eigene Interpretation, wieso Österreich herabgestuft wurde. Es ist nur einfach nicht die Wahrheit, wer Schellhorn regelmäßig liest weiß aber, dass das für ihn ohnedies kein Kriterium ist.  
Maria Fekter (Finanzministerin) in „Im Zentrum“ vom Sonntag: 
„Das was wir haben ist nicht ein wirtschaftliches Problem, ist nicht ein Problem der Realwirtschaft. (…) Das was wir haben ist ein Problem der Staaten und da der Schulden und der Defizite und Haushalte.“ 
Kein Kommentar…
Der angeblich sozialdemokratische österreichische Notenbankchef Ewald Nowotny bezeichnet die PragmatikerInnen von Standard & Poors gar als politisch motiviert. Das ist insofern besonders ulkig, weil es die europäische Wirtschaftspolitik ist, die außer den öffentlichen Haushalten kein Thema mehr kennt. Das ist Ideologie pur, eine ausgeglichene Politik würde ja alle Ursachen der aktuellen Krise – Bankenprobleme, Leistungsbilanzungleichgewichte, Verteilungsprobleme, öffentliche Haushalte – unter die Lupe nehmen. Ideologie zeichnet sich genau durch eine absichtliche Einschränkung der Wahrnehmung aus. Insofern ist S&P weiter als die extrem ideologische Europäische Union. Noch dümmer argumentieren nur Abgeordnete der CDU im Online-Standard „CDU-Fraktionsvize Michael Fuchs spricht von „Attacken auf den Euro“ aus den USA. Der CDU-Europa-Politiker Elmar Brok sagt in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, die Abstufung käme in der Konsequenz „fast einem Währungskrieg“ gleich.“ Es ist völlig absurd zu glauben, irgendwer in den USA hätte Interesse an einem Kollaps des Euro. Die Portfolios der AkteurInnen am Finanzmarkt sind international diversifiziert, da besteht mit Sicherheit kein Interesse daran, dass eine der großen Währungen in denen man investiert ist krachen geht. 
Sind Rating-Agenturen das Zentrum des Bösen?
 
Robert Misik hat die Rating-Agentur Standard & Poors kürzlich in seinem Videoblog als „Standard & Murks“ bezeichnet. Nicht zuletzt unter dem völlig zutreffenden Hinweis, dass S&P die Bank Lehman Brothers zehn Tag vor ihrem Zusammenbrauch im September 2008 mit einer Topbewertung geratet hatte. Völlig zu Recht bezeichnet Misik das Geschäftsmodell der Rating-Agenturen, die ihre zahlenden KundInnen bewerten, als höchst korrupt und letztlich stimmt es auch wenn Misik die Rating-Agenturen zwar nicht die Brandstifter, aber zumindest als Brandbeschleuniger der Krise bezeichnet. Doch die Einschätzung von Robert Misik ist diesmal ausnahmsweise eine Spur zu undifferenziert. Denn bei aller Kritik muss man eines sagen: Ratingagenturen sind einfach Teil eines Systems, dessen Entwicklung durch politische Entscheidungen zugelassen und sogar gefördert wurde. Ratingagentur sind nicht unmoralisch, sondern amoralisch, weil sie innerhalb einer Systemlogik ihre Aufgabe erfüllen. S&P will einfach die Krise überleben und wieder ordentlich Geld verdienen. Deshalb sind sie im Zweifelsfall offensichtlich pragmatisch. Im Gegensatz zu der Armada an PredigerInnen der zwingend notwendigen Reformen, die wie tibetanische Gebetsmühlen den öffentlichen Diskurs auf eine Frage zuspitzen: Die öffentliche Verschuldung. Doch hatte schon jemals in der Geschichte ein Problem wirklich nur eine Ursache?  
Das Zentrum des Bösen sind offenbar weder die Rating-Agenturen, noch das Finanzkapital, sondern es ist die Ideologie. Und zwar die Spar- und Austeritätsideologie, die in Europa von 90% aller Opinion Leader nachgebetet wird. Keine Industrie, weder binnen- noch exportorientierte, ja nicht einmal die aufgeblähte und überflüssige Finanzindustrie haben irgendetwas von dieser Sparpolitik. Das Kapital ist pragmatischer als der ökonomische Mainstream in der Wissenschaft und im öffentlichen Verständnis. Unsere falsche Sichtweise darauf, wie Wirtschaft funktioniert ist das Problem unserer Zeit. Versinnbildlicht durch die fast ausschließliche Dominanz der Neoklassik (jener Denkschule aus der sich der Neoliberalismus speist) an den europäischen Universitäten, alles
voran an den Universitäten jenes Staates, der derzeit allen anderen seine Linie aufzwingt: Deutschland. 

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