Eine Psychose namens DDR

Zerrissenheiten, die den Lebensstil aufzwängen: Marion Brasch erzählt in einem großartigen Buch die Geschichte der Zerrüttung ihrer Familie. Der Standard, 21. April 2012

Als ich nach dem Untergang der DDR nach Ostberlin zog lebte ich in diesem eigentlichen Biotop, das der Stadtteil Prenzlauer Berg damals noch war – Heimat der Ost-Boheme, mit einem dichten Netz an Kneipen und Bars, die von ehemaligen Dissidenten, Künstlern, Dichtern, Rebellen belebt wurden. Damals kam man gar nicht darum herum, dass einem irgendwann einmal ein Freund sagte: Die da drüben, das ist die Marion Brasch. Und irgendwann später: Und der, der da sitzt, das ist Peter Brasch, der Bruder von Marion. Und dann gleich die Geschichte dieser Familie erzählte: Vater Jude und Kommunist, Mutter Jüdin aus Wien, lernen sich im Exil in London kennen, kehren zurück, bauen den Sozialismus in der DDR mit auf. Der Vater wird linientreuer Apparatschik, steigt auf zum stellvertretenden Kulturminister. Sie bekommen drei Söhne, die allesamt zu Rebellen werden. Der älteste und berühmteste Sohn, Thomas Brasch, schreibt gefeierte Romane und Dramen, überwirft sich mit dem Spießerkommunismus der DDR, protestiert gegen die Niederschlagung des Prager Frühling, wird verhaftet, dann ausgebürgert. Der Bruder Klaus wird Schauspieler. Der Bruder Peter Dichter. Die Brüder saufen und pumpen sich mit Drogen voll. Es ist eine Geschichte, die jeder hier kennt. 
Marion Brasch, die jüngste Schwester, hat jetzt diese Geschichte aufgeschrieben. Der Vater ist längst tot, die Mutter schon gestorben, da war das Mädchen gerade zwölf. Die drei Brüder sind auch schon alle tot, gestorben an einem Lebensstil, nein, richtiger: an den Zerrissenheiten, die ihnen einen Lebensstil aufzwangen. Marion Brasch ist die Überlebende. 
Es ist ein großartiges Buch geworden, das erzählt, wie der Idealismus des Vaters in autoritäres Gehabe und Bürokratentum umschlägt. Die Mutter leidet, weil sie in dieser grauen DDR nicht leben wollte, die Wiener Jüdin aus der Zelinkagasse im ersten Bezirk, die ihren Kindern erzählt, „wir sind getürmt“, nachdem sie mit ihrer Schwester unter Aufsicht der Nazis mit Zahnbürsten die Straße putzen mussten. Der „Aufbau des Sozialismus“ verschlingt nicht nur alle Zeit, sondern er ist auch mit diesem seltsamen asketischen Parteisoldatentum legiert, und beides zusammen lässt nicht viel Platz für Zärtlichkeit in der Familie. Die Brüder werden ins Internat gesteckt, der kleine Thomas sogar in die Kadettenschule der Armee. Als er seinem Vater sagt: „Ich halte es nicht mehr aus“, antwortet der nur: „Reiß dich zusammen!“ und faselt von der „harten Schule des Lebens“. 
’68 kommt. Die Haare wachsen, die jungen Leute tragen Parkas und träumen von einem anderen Sozialismus. Im Prager Frühling wird der vorexerziert. Als der niedergeschlagen wird, verteilen sie Flugblätter gegen den Panzerkommunismus. Dieses „68 des Osten“ hat seine eigenen Themen aber doch auch ähnliche emotionale Energien wie das 68 des Westens: die Jungen rebellieren gegen ihre autoritären Väter. Nur machen sie hinterher nicht den Marsch durch die Institutionen, sondern wandern ins Kittchen. Thomas Brasch wird vom eigenen Vater angezeigt.
Nachdem Thomas Brasch aus dem Knast kommt, treibt es ihn in die Literaten- und Dissidentenszene, diese Welt, in der Dramatiker wie Heiner Müller oder Poeten wie Wolf Biermann glänzen. Als Thomas Brasch sein Buch „Vor den Vätern sterben die Söhne“ schreibt, das in der DDR nicht erscheinen durfte, legte ihm Honecker persönlich die Ausreise in den Westen nahe. 
Die Karriere von Horst Brasch hat da schon einen Knick erhalten. Die Parteioberen machen ihn für seinen Dissidentensohn verantwortlich. „Sie haben Recht, ich habe bei Deiner Erziehung versagt“, sagt er, als man ihn in ein Kaff als Parteisekretär versetzt. „Ha!“, rief da der mittlere Bruder Klaus: „Dann müssen sie dich doch eigentlich nach Sibirien schicken, bei meiner Erziehung hast du nämlich auch versagt.“
Klaus zieht es in die Film-Boheme, er spielt in so legendären Streifen wie „Solo Sunny“. Trinkt. Trinkt mehr. Mischt Medikamente dazu. Stirbt. 
Die Mutter stirbt an Krebs, der jüngste Bruder Peter studiert in Leipzig. Marion Brasch, die kleine Schwester, bleibt mit dem Vater zurück, der, als gäbe es nicht schon genug Drama in dieser Welt, einen Selbstmord plant. Das Mädchen findet den Abschiedsbrief und kann glücklicherweise noch den Portier von der Parteizentrale alarmieren, bevor der Vater die Dienstpistole benützen kann. Sie bewundert die Brüder und taucht gern ein in deren Boheme-Welt, will aber den Vater nicht auch noch enttäuschen. Sie ist angepasst und doch noch mehr Opfer der DDR als all die anderen: Sie hat sich all das ja nicht einmal bewußt ausgesucht. 
Komischerweise wird sie nicht zum Totalpsycho, sondern eine sympathische, liebe junge Frau. Beim legendären DDR-Jugendradio DT-64, das 1989 zur Stimme der Revolte wird, wird sie zum Star. 
Bruder Thomas kommen im Westen die Themen abhanden. Er hat Erfolge, aber er ist entwurzelt. Peter kriegt kein Bein auf den Boden. Der eine trinkt viel Whisky, der andere nimmt zusätzlich Koks. Beide sterben 2001. 
Marion Brasch, die Überlebende, erzählt diese Geschichte der Erschütterung und Zerrüttung ihrer Familie mit viel Lakonie, ohne sie jemals zu veralbern. Sie selbst beschreibt sich als junges Mädchen, das durch ein Leben stolpert, dessen Koordinatensystem längst gezogen ist – vom Vater, von den Brüdern, von den Konflikten, in denen sie nie Akteur, sondern immer nur die kleine Schwester ist, die es mit betrifft. 
Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhafte Familie. S-Fischer-Verlag, Frankfurt/m. 2012. 400 Seiten. 20,90 Euro. 

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