Stadtluft macht frei

Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Wie kriegen wir Vielfalt und Gemeinsinn unter einen Hut? Rede auf der stadtpolitischen Konferenz der Partei „Die Linke“ in Berlin, 9. Juni 2012
Ich möchte Eingangs ein paar Dinge feststellen, die in diesem Kontext wichtig sind, die banal sind, aber die man vorausschicken sollte, um das Themenfeld überhaupt deutlicher zu verstehen, über das wir da reden: Linke Politik in der Stadt, linke Politik in der Metropole. 
Da muss man dazu sagen, dass Linke Politik in den vergangenen paarhundert Jahren vor allem städtische Politik war. 
Wofür steht die Linke historisch? Für zwei Dinge: Für Freiheit und Gleichheit – oder „soziale Gerechtigkeit“. Und das heißt, für das Abschneiden alter Zöpfe, für die Emanzipation aus personalen und sachlichen Abhängigkeiten; und dafür, möglichst allen ein gutes, anständiges Leben zu garantieren. 
Was hat das mit der Stadt zu tun? Die Stadt selbst, mit ihrer Vielfalt, auch mit ihrer Anonymität, die es erlaubte, sich aus der Repression von Tradition, Familie zu befreien, war ein Ort der Befreiung. Oder früher noch, Befreiung aus ostentativerer Unfreiheit, Leibeigenschaft. „Stadtluft macht frei“, ist nicht zufällig ein geflügeltes Wort im Deutschen.  
Marx und Engels preisen auch nicht zufällig im Kommunistischen Manifest die Bourgeoisie dafür, das Land der Stadt unterworfen und „enorme Städte“ geschaffen zu haben, und dafür, weite Teile der Bevölkerung dem „Idiotismus des Landlebens“ entrissen zu haben. 
 

Stadt ist also Freiheit, aber sie ist auch ein Platz sozialer Konflikte, sie ist wie wir natürlich wissen, auch Produkt sozialer Ungleichheit: Am Beginn von Wachstum der Stadt zur Großstadt und dann zur Metropole steht der Umstand, dass Massen aus der verarmten Landbevölkerung, die dort nicht mehr überleben konnten, in die Stadt gespült wurden. Und hier in Elendsquartieren lebten, verlaust und ungebildet, und dann 10 Stunden in Manufakturen und frühen Fabriken schufteten. 
Aber doch kamen die Leute auch freiwillig: Die Freiheit der Stadt lockte sie an, trotz der sozialen Ungleichheit und der Ausbeutung, die dort auf sie wartete. 
Ich unterstreiche das deshalb, weil man das verstehen muss, auch heute: Junge Frauen in China, die vom Dorf in die Städte ziehen um dort in Sweat-Shops zu schuften, tun das nicht nur, weil sie das müssen, sondern weil sie das oft auch wollen. Weil das für sie ein Freiheitsgewinn ist. 
Beides zusammen: Freiheit und die sozialen Verwerfungen, muss man zusammen denken, und beides zusammen hat dazu geführt, dass Linke in den Städten reüssierten. Überall, von Deutschland über Österreich bis Russland war historisch die Linke in den Städten stark, da hatte sie ihre Massenbasis, hier hatte sie ihre größten Wahlerfolge und hier hatte sie bisweilen auch ihre größten Reformerfolge. 
Ich komme ja aus Wien, dem „Roten Wien“, das in den Zwanziger Jahren ein leuchtendes Exempel progressiver, linker Stadtpolitik war. 
Also: Wir Linke in der Stadt sind mit der Stadt nicht deshalb verbunden, weil wir zufällig in ihr leben. Die Linke, wie sie heute existiert, ist Produkt der Stadt. 
Lasst mich jetzt so etwa 100 Jahre nach vorne springen und fragen, wie sich all das heute darstellt und was das für Linke in einer Stadt wie Berlin bedeuten könnte. 
Und vielleicht sollte ich damit beginnen, mal nicht zu fragen, was falsch läuft und was wir ändern könnten, wir Linken fragen ja immer, ha, wo gibt’s was, wo wir dagegen sein könnten, sondern fragen wir, womit wir eigentlich zufrieden sind. Noch simpler: Warum leben wir eigentlich gern in Städten, was gefällt uns daran? Und warum gefallen uns manche Städte besser als andere? 
Jetzt weiß ich schon, wenn ich „uns“ sage, dann mein ich natürlich zunächst mal mich und ein paar andere Leute, die vielleicht so ticken wie ich, und wie komm ich dazu, das zu einem „uns“ zu verallgemeinern, können Sie da fragen? Einfach deshalb, weil ich denke, dass ein paar hunderttausend oder Millionen Leute ja ganz ähnlich empfinden. 
Wir lieben die Stadt, weil in ihr „was los“ ist. Weil hier Betrieb ist. Weil hier Vielfalt ist und weils nicht fad wird. Wir lieben die Metropole, also die große Stadt, weil in ihr sehr viel Betrieb ist, und weil sie ein Laboratorium ist für Neues, und weil wir das interessant finden, wenn wir ganz nah dabei sind, wenn was Neues entsteht. 
 
Es ist ja kein Wunder, dass wir die größten Epochen solcher Umbrüche zu Neuem, wie sie sich dann in Städten verdichten, im Nachhinein immer romantisieren. Manche von ihnen haben möglicherweise Woody Allen gesehen, „Midnight in Paris“, über das Paris der zwanziger und dreißiger Jahre, das Paris Hemingways und Picassos, Scott Fitzgeralds und Picarbia, von Breton und so weiter. 
Berlin der zwanziger Jahre ist auch so ein Topos oder das New York der vierziger und fünfziger Jahre und dann der sechziger: Jackson Pollock, Andy Warhol, Bob Dylan, Susan Sontag, ach sie kennen das ja alles. 
Diese kulturellen und intellektuellen Aufbrüche, die ja immer auch Aufbrüche zu neuen Konfigurationen des Lebens sind, die vollziehen sich in der Stadt. Die machen die Stadt spannend und deshalb leben wir auch gerne in der Stadt. 
Stadt ist ohne Diversity, ohne Vielfalt nicht zu denken. 
Es gibt aber natürlich eine Gefahr: Wenn wir nur an diese Vielfalt denken, dann haben wir im Kopf, ah da ist die Stadt, da leben Einzelne, sie können sich aus den traditionellen Gemeinschaften emanzipieren und wirklich als autonome Einzelne leben. Das heißt nicht, dass sie sich notwendigerweise radikal Vereinzeln, sie können sich ja in neue, selbstgewählte, gewiss auch flüchtigere Gemeinschaften begeben.
 
Aber trotzdem müssen wir daran denken, dass in der Stadt und in der Metropole zumal, viele Millionen Menschen „gemeinsam“ leben und sie sind abhängig von den Bedingungen, die sie vorfinden, und von den Bedingungen, die wir gemeinsam gestalten. 
Eine dieser Bedingungen ist natürlich bezahlbarer, billiger Wohnraum. 
Überhaupt ist es wichtig, zu begreifen, dass es oft sehr simple, profane Dinge sind, die den oft unerklärlichen „Zauber“ einer Stadt ausmachen. 
Junge, kreative Leute ziehen in Städte, wo Wohnraum billig ist, und sie ziehen sicher nicht in Städte, wo eine 30 qm Wohnung 4000 Euro kostet. Oder nur in Einzelfällen, natürlich gibt es immer noch Leute, die unbedingt nach NY wollen und dort 600 Dollar für 10 qm  Zimmer zahlen, aber das ist halt NY. 
Was ist das A und O um Wohnraum billig zu halten? Na, das wichtigste ist kommunaler Wohnungsbau. Indem die Kommune Wohnungen baut stellt sie erstens leistbaren Wohnraum zur Verfügung, sie senkt damit aber ganz allgemein den „Marktpreis“ für Wohnen, also ihr Beitrag zur „Preisfindung“ strahlt aus, über den Bereich des kommunalen Wohnbaus hinaus. 
 
Historisch nahm das zeitweise eine spezifische Form an: Man errichtete Satellitenstädte am Rande der Stadt, gleichzeitig bauten viele Familien Einfamilienhäuser am Stadtrand oder im Speckgürtel, sodass sich die Innenstädte entvölkerten. Teilweise verfielen sie. Ich weiß schon, dass diese Prozesse in den USA noch ganz andere Dimensionen annahmen als etwa in Westdeutschland oder in Österreich, und dass Westberlin hier spezifische Bedingungen hatte, und Ostberlin seine eigenen spezifischen Bedingungen, aber trotz aller Unterschiede – die sogar Systemunterschiede waren – waren doch frappierende Ähnlichkeiten festzustellen, eigentlich bis in die achtziger und neunziger Jahre: Weil viele Familien an den Stadtrand zogen, gab es genügend billigen, aber schlechten Wohnraum in den Stadtzentren. 
Aber das ist vorbei: Mit der Wiederbelebung der Innenstädte, mit Stadterneuerung und Gentrifizierungsprozessen ist das vorbei. 
Und gleichzeitig kommt mancherort der soziale Wohnbau mit dem Wachstum der Städte nicht mehr mit, ich weiß nicht, wie das in Berlin ist, aber langfristig wird sich das genauso darstellen. Und die Finanzkrise verschärft überall das Problem noch. Weil die Kommunen bald kein Geld mehr haben. 
Zum Teil beobachten wir sogar paradoxe Prozesse: Weil die Leute Angst um ihr Geld haben, kaufen sie sich Eigentumswohnungen, der Markt für Eigentum zieht nach oben, und das hat auch Auswirkungen auf die Mietpreise. 
Deshalb wird leistbarer Wohnraum in der Stadt in der Zukunft ein riesiges Thema sein. 
Das ist ein wichtiger Punkt. Ein andere wichtiger Punkt ist natürlich: Womit verdienen die Leute ihr Geld? Welche Transformationen haben wir hier? Wie sehr können und wollen wir sie steuern, was heißt das: Postindustrielle Stadt? Wir alle wissen, wie wichtig diese Fragen sind, wir alle kennen die schicken Kreativwirtschafts-Berichte, aber wir wissen auch über den Aufstieg persönlicher Dienstleistungen Bescheid, ich deute das hier nur an, habe jetzt aber nicht Zeit,
dazu mehr zu sagen. 
Ich möchte nur zum Abschluss ein letztes sagen: 
Ich habe gesagt: Stadt ist der Hort der Freiheit, weil hier wirklich Diversity herrscht. Und für uns Linke ist diese Vielfalt, diese Freiheit ein großer Wert, nicht nur weil wir das Prinzip hochhalten, dass Menschen ihr Leben nach ihren eigenen Präferenzen gestalten sollen, sondern auch, weil wir wissen, wie produktiv das ist, wie viel Talent und Kreativität das frei setzt. 
Aber von diesem Hochlied auf die Vielfalt und den Eigensinn jedes Einzelnen ist es oft nur mehr ein Katzensprung zum Thatcher Wort: „There is no such thing as society“. 
Aber die Frage für uns Linke ist: Wie kriegen wir Vielfalt und Gemeinsinn unter einen Hut?
Wir wissen, dass sehr viel Diversity auch ein Problem bringen kann. Ich mein, schauen wir uns nur Eure Partei an – soviel Vielfalt, so viele Strömungen, so viele unterschiedliche Gruppen. Ist das nicht schön und bunt? Naja, irgendwann einmal gibt es einen Mangel an Zusammenhalt und dann wird man auch nicht froh. 
Und das gilt natürlich auch für das Zusammenleben in der großen Stadt. Die wird von Millionen unterschiedlichen Leuten bewohnt, die alle ihr Ding machen. Wir schätzen das ungemein. Aber wir wissen auch, dass viele Leute die Erosion von Zusammenhalt beklagen, und dass Individualisierung auch in Atomisierung und in Egozentrik umschlagen kann. Eine Art imaginäres „Wir“, das unterschiedliche Leute zusammenhält, kann natürlich terrorisierende Wirkung haben, es kann Sozialkontrolle entfalten und repressiv werden – aber ganz ohne ein solches imaginäres „Wir“ erodiert auch die Möglichkeit, sich mit anderen gemeinsam für etwas einzusetzen. 
Natürlich, es entstehen neue Gemeinschaften, wie schon gesagt. Wir neigen ja sogar dazu, selbst Metropolen, wenn wir lange genug in ihnen leben und sie gut genug kennen, wie Dörfer zu beleben. Das ist gar nicht der Punkt. Aber dann leben in der Metropole womöglich viele Dörfer nebeneinander her. 
Ich denke darüber viel nach und es ist keine einfach zu lösende Frage. Man braucht vielleicht so etwas wie eine Erzählung, die Arbeit an einer Erzählung, die unterschiedliche Leute – Leute unterschiedlicher Ethnien, unterschiedlicher sozialer Herkunft und mit unterschiedlichen Lebensstilen – doch auch zu einem Wir, einen Gemeinwesen zusammenfasst.  

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