Die Versteher-Verachter, die sich auf ihr Garnichtsverstehen so viel einbilden

Der rote Faden, meine monatliche taz-Kolumne. August 2014

Gesellschaften im Krieg entwickeln eine Kriegspsychose, und Gesellschaften im Dauerkonflikt entwickeln eine totale Kriegspsychose. Da gibt es nur schwarz oder weiß. Entweder dafür oder dagegen. Entweder für „unsere“ Seite, oder Verräter. Was wir heute aber immer häufiger erleben, ist die globale mediale Infektion. Gibt’s einen Konflikt, dann bilden sich die Fansektoren, in sicherer Entfernung, aber paranoid und kriegsirre, als wären sie mittendrin. Wie die Ultras aus der Südkurve feuern sie ihr bevorzugtes Team an, rufen ihm zu: „Haut sie (also die Anderen) nieder!“
Wie sehr sich im aktuellen Konflikt etwa die Pro-Israel-Fanatiker auf der einen und die Anti-Israel-Fanatiker (letztere oft mit mehr als nur einer Prise Antisemitismus) gleichen: Beide verbohrt in ihren Tunnelblick, gefangen in einer Wahnwelt, stur entschieden, nur die Partialwahrheit der einen Seite zu sehen, fest entschlossen, jeden, der das eigene eindimensionale Bild in Frage stellt, als Feind zu sehen. Überhaupt diese bizarre Lust der Feinderklärung! Selbstgerechtigkeit, die natürlich logisch aus dem Tunnelblick folgt: If you live in a myth, everything looks like a supporting fact, wie die Briten sagen. Wenn Du in einer Wahnwelt lebst, schaut alles aus wie ein bestätigendes Indiz. 

Dazu gehört unbedingt, dass nicht nur die Gegner selbst – also die „Feinde“ und deren Fankurve – niedergemacht werden, sondern alle, die auch nur eine eigenständige Position vertreten (also, beispielsweise Krieg scheiße finden und Bombardieren kontraproduktiv für eine etwaige Konfliktlösung). Die schönen technologischen Möglichkeiten die die moderne Welt der Asozialen Netzwerke mit ihren Shitstorm-Tools bietet, leisten dafür gute Dienste. Wobei das schon unpräzise formuliert ist: Die sozialen Netzwerke, ihr Mechanismus wechselseitiger Bestärkung und ihre Aufschaukelungs- und Erpressungslogik („für oder gegen uns?“), sind nicht bloß Instrument, sondern konstitutiv für dieses Setting. 
Nicht nur rund um den Gaza-Konflikt, auch rund um den Ukraine-Russland-Konflikt haben wir das in den vergangenen Monaten erlebt. Das frisst sich bis in die Sprache hinein. Neue Schimpfworte werden kreiert: Etwa das des „Verstehers“. Da wurde verächtlich von „Putinverstehern“ gesprochen, jetzt von den „Paliverstehern“ beziehungsweise – andersrum, wenn auch seltener – von den „Bibiverstehern“. 
Das muss man sich erst einmal auf der Zunge zergehen lassen: Empathie, die Fähigkeit, auch den Anderen zu verstehen, neben der eigenen Logik eine andere Logik, wenn schon nicht teilen, dann immerhin nachvollziehen zu können, wurde gemeinhin bisher doch immer als Stärke, als positive Charaktereigenschaft ausgelegt. 
Den Anderen zu verstehen, ist ja sogar für Konfliktparteien unumgänglich – wer den Gegner nicht versteht, der wird von seinen künftigen Zügen stets überrascht sein, das wusste schon Macchiavelli. Noch notwendiger ist das Verstehen der Anderen, will man etwa Konflikte diplomatisch entschärfen, da muss man sensibel verstehen, bis man irgendwann vielleicht ein gemeinsames Verständnis herbeidiplomatisiert hat. Aber Diplomatie ist, aus der Perspektive der Versteher-Verachter, die sich auf ihr Garnichtsverstehen so viel einbilden, ohnehin etwas für unmoralische Weicheier.
„Nach Gutmensch und Opfer wurde nun also auch Versteher zum Schimpfwort“, schreibt der Wiener Aktivist und Blogger Philipp Sonderegger. „Zwischentöne, Mehrdeutigkeit und unterschiedliche Perspektiven“, sind den Versteher-Verächtern ein Gräuel. 
Eine andere Wendung, die bei den kriegsgeilen Kiebitzen gerade sehr en vogue ist, ist der Vorwurf, der jeweils andere würde mit „zweierlei Maß“ messen. Die Israel-Fans werfen das den Israel-Kritikern vor (weil die Hamas ja noch viel schlimmer ist als die israelische Regierung), und die Israel-Kritikern den Israel-Fans (sie kritisieren wiederum, dass denen palästinensische Opfer viel weniger wert wären als israelische Opfer). Dabei messen wir doch immer mit zweierlei Maß, und zwar oft aus guten Gründen: Ich beurteile unmoralisches Verhalten mir Nahestehender strenger als das mir vollkommen Fremder, Menschenrechtsverletzungen freiheitlicher Demokratien empören mich mehr als die von Despotien, weil ich sie an dem Maß messe, das sie sich selbst geben und das ich mit ihnen teile. Da Umstände sich nie völlig gleichen, ist es sogar notwendig, mit mehrerlei Maß zu messen. 
Alles, was man für’s Verstehen braucht, ist ein bisschen Verstand. Ich, beispielsweise, bemühe mich sogar, die Garnichtsversteher und ihren Wahn und Tunnelblick zu verstehen. Es ist, wenn man einmal damit beginnt, gar nicht so schwierig. Aber aus der Perspektive der Garnichtsversteher ist das sicherlich ein schweres Vergehen eines unmoralischen Relativisten. 
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