Über die Würde des goldenen Mittelwegs

Neue Zürcher Zeitung, 21. August 2014 
Es ist schon ein paar Jahre her, da saß ich in Wien bei einem Festbankett im Kreise von ein paar gerade geehrten Sachbuch-Preisträgern, und es war auch ein sozialdemokratischer Minister in der Runde. Der Minister, der heute natürlich längst kein Minister mehr ist, war der Typus des freisinnigen, linksliberalen Intellektuellen. Eine der Sachbuchautorinnen verdammte gerade alle erdenklichen Untaten des Neoliberalismus, da beugte sich die Minister zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Ich würde mir wünschen, ich könnte jemals von meiner Meinung so überzeugt sein wie die von ihrer.“
Das war ironisch und ernst zugleich gemeint. Ironisch, weil der Minister es natürlich als eine seine Stärken ansah, nicht so simpel gestrickt zu sein wie die dozierende Autorin. Dass er, trotz eigener Überzeugungen auch die Fähigkeit besitzt, Bedenkenswertes bei Leuten anderer Meinung und dazu noch die komplizierte Wirklichkeit zu würdigen, betrachtete der Minister nicht als persönlichen Charakterfehler. Aber es war gleichwohl ernst gemeint, da der Minister seine Charaktereigenschaften auch ein wenig als Defizit erlebte: Wer immer alles bedenkt und schon in seinem Kopf einen Konsens aus allen widerstreitenden Argumenten herstellt, der taugt nicht so richtig zum entschlossenen und begeisternden Kämpfer für eine parteiliche Sache. Kurzum: Diese Charaktereigenschaft ist gut und schlecht zugleich. 

Abgesehen von den Paradoxien dieser Episode ist sie vielleicht doch eine Illustration für ein grundlegenderes Problem unserer Diskurse. Nämlich für die Frage: Wäre mehr grundlegender Konflikt gut? Ist Konsens schlecht? 
Bei fast jeder der öffentlichen Großdebatten schlagen zwei Lager aufeinander ein. Ob es darum geht, ob mehr Märkte immer „total super“ oder Markt eigentlich böse ist, ob es um die Ukraine und Russland oder um Migration und das Gendern geht – immer schlagen zwei Diskursparteien aufeinander ein, selbst dann, wenn beide Streitparteien einen Aspekt der Wahrheit auf ihrer Seite haben. Es wäre vernünftiger und auch der Wirklichkeit angemessener, wenn jeder schon von Beginn versuchen würde, die Wahrheit der anderen Seite in seine Sicht zu integrieren. Bloß: Würden wir dann nicht sofort die Einheitssoße des Konsenses beklagen? 
Man könnte beinahe sagen: Wir haben zuviel Konflikt und zuviel Konsens zugleich. Zuviel Konflikt, jedenfalls dann, wenn er in fruchtlose Polarisierung umschlägt, die nur dazu führt, dass sich Debattenparteien in ihre Partialwahrheiten einzementieren. Und gleichzeitig zuviel Konsens, etwa im Bereich des realen Politischen: Glaubt man den beinahe einhelligen Klagen in Medien und Publizistik, darf man heute allenfalls zwischen kleinen Variationen des zeitgenössischen Einheitsbreis wählen. 
Möglicherweise ist das nicht einmal ein Widerspruch: Die politische Theoretikerin Chantal Mouffe unterstreicht seit Jahren schon in einer Reihe von Büchern, dass zuviel Konsens in Konflikt umschlagen kann. Gibt es im Politischen zuviel Konsens und keinen „gehegten Konflikt“, bricht sich jenseits der Ränder das antipolitische Ressentiment Bahn. Wenn die Bürger und Bürgerinnen nicht mehr das Gefühl haben, dass sie eine Stimme haben (weil „die Politiker“ doch ohnehin alle „das gleiche“ machen), dann ist das die Stunde der Populisten und antipolitischen Radau-Politiker. Gibt es aber Alternativen (also einen gewissen Grad an Konflikt), ist die Demokratie lebendig. Mouffe spricht vom „agonistischen“ Modell – also einem Mittelweg zwischen Konsens und rabiaten Antagonismus. 
Vielleicht hat der Konsens auch einfach einen ungerechtfertigt schlechten Leumund. In der Aufmerksamkeitsökonomie siegt die möglichst schrille Stimme. Aber auch in normalen Debatten neigen Diskutanten natürlich dazu, darzulegen, dass sie selbst recht haben und die Gegenseite unrecht hat. Das kam mir erst unlängst wieder in den Sinn, als ich in Berlin einer kleinen Debatte zwischen dem Grünen Ralf Fücks und dem linksliberalen Autor Mehmet Daimagüler beiwohnte. In deren Diskussion kam die Rede auf die Erregung, die gerade der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck verursacht hatte, der die Meinung bekundete, Deutschland müsse mehr internationale Verantwortung zeigen, also auch mit mehr Freude an internationalen Militärinterventionen teilnehmen, was ihm von linker Seite den Vorwurf eingehandelt hat, er sei ein Kriegstreiber. Daimagüler sagte, es ärgere ihn, dass Diplomatie verächtlich gemacht und so getan wird als wäre echte Außenpolitik nur Schießen. Es finde hier ein Militarisierung der Außenpolitik statt. Fücks erwiderte, dass es doch nur um friedenserzwingende Maßnahmen im allernötigsten Notfall ginge, um etwa Genozide zu verhindern. Ich hatte bei all dem das Gefühl, dass beide recht haben, weil es manchmal um militärische Not-Interventionen keinen Umweg gibt, aber dennoch die Gefahr besteht, viel zu einseitig auf das Militärische zu setzen. 
Jedes Argument der einen Seite wäre besser gewesen, wären die Argumente der Gegenseite schon ex ante in die eigene Sicht integriert worden. Es wäre dann allerdings kein lustiger Streit entstanden. 
Ich glaube zu wissen, dass ich recht habe. Aber ich weiß, dass auch die Gegenseite „irgendwie“ recht hat. Die Welt ist komplex, und in einer komplexen Wirklichkeit kann es so sein, dass gelegentlich das eine und auch sein Gegenteil richtig sein kann. Der Volksmund sagt: In Gefahr und in der Not bringt der Mittelweg den Tod. Und das stimmt manchmal. Aber manchmal eben auch nicht. Bei zwei konträren Analysen, die dennoch wichtige Elemente der Wirklichkeit zur Sprache bringen, ist die Kombination beider meist klüger als das Insistieren auf der eigenen Partialwahrheit. Weil Partial-wahrheit eben verdammt schnell Total-falschheit sein kann. 
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