Partei der Hoffnung werden

Selten war der Zustand der europäischen Linken so desolat wie heute. Höchste Zeit für einen fundamentalen Neuanfang. taz, 24. 2. 2018

Die Diagnose, dass die Linke in einer Krise sei, ist fast so alt wie alle heute lebenden Linken. Sie hat für sich genommen also keinen großen Neuigkeitswert mehr. Aber seien wir ehrlich: So desolat wie im Augenblick waren die politischen Kräfte links der Mitte noch nie in Europa. Sozialdemokratien schrammen an der Zwanzig-Prozent-Marke herum, wenn sie nicht gleich völlig untergehen, wie die einstmals glorreichen französischen Sozialisten oder die niederländische Partij van de Arbeid, die zuletzt gerade noch 5,7 Prozent der Wählerstimmen holte. Die griechische PASOK ist faktisch nicht mehr. Die österreichischen Sozialdemokraten könnten da auf ihre 27 Prozent bei der jüngsten Nationalratswahl noch stolz sein, wären sie nicht auf den zweiten Platz und in die Opposition gefallen, was zur Bildung einer rechts-ultrarechten Koalition führte, die das Land umpflügen will. Dagegen rangelt die SPD gerade mit der AfD um Platz zwei in den Umfragen.

Linke Parteien jenseits der Sozialdemokratie können dieses Vakuum nirgendwo auffüllen, die deutsche „Die Linke“ stagniert seit Jahren bei zehn Prozent und hat das Anti-System-Oppositionsmonopol an die extreme Rechte verloren. Allein im Sonderfall Griechenland gelang es der linken Syriza zumindest für einige Jahre, zur neuen hegemonialen Kraft zu werden.

Hatte man vor ein paar Jahren noch auf die Möglichkeit setzen können, eine neue Allianz sozialdemokratischer und linker Regierungen von Portugal über Griechenland bis Schweden, Österreich und Frankreich zu etablieren, ist heute von einer solchen Achse nur mehr ein Trümmerfeld übrig. Allein die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn ist eine überraschende Erfolgsgeschichte.

Aber auch jenseits der blass- oder tiefroten Parteienformationen und einiger grüner Tüpfchen gibt es keine breiten gesellschaftskritischen Bewegungen, die ihre Zeit auf einen Ton stimmen können. Insofern hat hämisches Fingerzeigen der Bewegungslinken gegenüber den Parteilinken etwas Fragwürdiges, denn die Grass-Roots-Bewegungen sind selbst Teil des Problemkomplexes. Es sind ja im besten Falle lebendige Basisbewegungen, denen es gelingt, einen Zeitgeist zu prägen, die den Boden für Wahlerfolge von Mitte-Links-Parteien bereiten. Aber auch da gibt es wenig Positives zu vermelden.

Diese Krise ist also eine Fundamentale. Ihre Hauptursache ist die geistige und konzeptionelle Auszehrung der gesamten linken Milieus. Klar, es gibt eine endlos lange Liste von Konzepten, von Maschinen- und Robotersteuern bis zur Bürgerversicherung, von Bildungsreformen bis zu massiveren Erbschaftssteuern und dem Austrocknen von Steueroasen – aber fügt sich das zu einem kongruenten Bild, einem Narrativ für eine bessere Gesellschaft, an die die politischen Anführer der Mitte-Links-Parteien noch glauben? Und zwar glauben im Sinne von: Wir haben hier eine Konzeption, und wenn wir diese umsetzen, dann werden wir unsere Gesellschaften auf einen eminent besseren Pfad setzen; und diese Umsetzung ist auch möglich. Die Behauptung ist: kaum ein Spitzenpolitiker, kaum eine Spitzenpolitikerin aus dem Spektrum der Linksparteien glaubt an so etwas. Man hat sich mit der Zügelung der schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen Ordnung abgefunden. Aber damit sendet man das Signal an die Bürger und Bürgerinnen: „Wählt uns, denn mit uns wird es langsamer schlechter.“ Wen soll das begeistern?

Es fehlt also nicht nur an den Konzepten, an fünfzehn oder fünfhundert guten Vorschlägen, von denen manche vielleicht gewagt genug wären, auch noch jemanden zu aufzuregen – es fehlt vor allem an einer Geschichte dazu. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, eine Handvoll guter Ideen würde sich schon zu einem Bild, „wofür man steht“, von selbst summieren. Das tun sie aber nicht, besonders wenn sie mit dem Kleingedruckten der Sozialversicherungswirtschaft oder der Investitionsanreize operieren. Sie müssen mit einer Geschichte zusammen gehalten werden. Sie müssen von Personen verkörpert werden. Und all das muss glaubwürdig sein.

Die Linken bräuchten mehr konzeptive Radikalität, damit sie eine glaubwürdige Alternative werden. Bernd Ulrich, der „Zeit“-Redakteur, hat dafür die schöne Formel von der „besonnenen Radikalität“ geprägt. Radikal nicht im Sinne von Krawall schlagen, aber radikal im Sinne von Konzeptionen, die wirklich über die Bescheidenheit des Klein-Klein hinaus gehen. Nur so kann der Nebel des Dauerdepressiven weg geblasen werden, der über unseren Gesellschaften hängt, dieses Klima der Angst, dass der Boden unter den Füßen wankender wird. Linke Parteien müssen Parteien der Hoffnung sein und des Optimismus.

Owen Jones, der britische Blogger, Aktivist und Guardian-Kolumnist hat dazu unlängst gescheite Sachen gesagt, um die Labour-Party auf einen bestimmten Ton in der Wahlkampagne zu stimmen. „Was haben Ronald Reagan und Spaniens radikale Podemos Partei gemeinsam?“, schrieb er. „Wenig, mögen sie annehmen. Ersterer war ein dogmatischer Ideologe, der die freien Märkte wüten lassen wollte; die Zweiteren sind, teilweise, eine direkte Rebellion gegen dieses Dogma. Aber beide definierten ihre gegensätzlichen Philosophien auf ähnliche Weise: mit Hoffnung, Optimismus und Ermächtigung.“ Reagans Mantra war „Morning in America“. Der Podemos-Anführer Pablo Iglesias sagt: „Wir repräsentieren nicht nur die Stimme der Wütenden, sondern die Stimme der Hoffnung.“ Und er fügt hinzu: „Wann war das letzte Mal, dass Ihr mit Hoffnung gewählt habt?“

Die Menschen haben den Status Quo satt. Aus welchen Gründen immer. Sie werden niemanden Vertrauen schenken, der nicht Glaubwürdig für etwas Neues steht.

Aber all das wäre nur ein erster Schritt. Linke Parteien waren dann stark, wenn sie Fäden und Netzwerke geknüpft haben, wenn sie den Alltag in den Stadtvierteln strukturierten oder einfach nur vor Ort präsent waren. Wenn sie selbst als Netzwerke und Bewegungen funktioniert haben. Sigmar Gabriel hat die unsägliche These aufgestellt, dass die Sozialdemokratien zu „postmodern“ geworden seien, also sich zu viel um Feminismus und Schwulenrechte gekümmert haben und zu wenig um den ausgebeuteten Postdienst-Zusteller, die Verkäuferin oder den Kohlegrubenarbeiter. Vergesst diesen Unfug. Sozialdemokratien, die glaubwürdig sind, sind in beiden Milieus glaubwürdig, in den liberal-urbanen und in den (post-)proletarischen, und wenn sie unglaubwürdig sind, sind sie es auch in beiden.

Gerade im Lichte all dessen ist in mancher Hinsicht zumindest die Labour-Party unserer Zeit ein wirkliches Erfolgsmodell. Mit Jeremy Corbyn hat sie einen Mann an der Spitze, den manche als Waldschratt verspotteten, der nicht gerade mit strahlendem Charisma beschenkt ist, der vom Blatt liest und langweilig erschien. Aber er verfügte über die Glaubwürdigkeit dessen, der sich nicht mit der Oberklasse und dem Mainstream arrangierte und seit rund dreißig Jahren das gleiche sagt.
Man soll den Erfolg von Labour bei Gott nicht übertreiben. In der Opposition ist es natürlich leichter, Glaubwürdigkeit zu erlangen als sie in der Regierung zu behalten (wobei beides verdammt schwer ist). Labour steht heute in den Umfragen bei 40 Prozent, also Lichtjahre besser als die meisten anderen Sozialdemokratien, aber angesichts der unfähigen Theresa-May-Regierung hat Labour es da auch leichter und zudem hilft das Mehrheitswahlrecht, da es dazu führt, dass es einen Herdentrieb zu den großen Parteien der jeweiligen Lager gibt. In einer Wahl müssen diese Umfragen erst einmal in Ergebnisse verwandelt werden, und das kann noch verdammt schwer werden, besonders dann, wenn die Torys Theresa May durch eine unverbrauchte Spitzenfigur ersetzen.

Aber dennoch gibt es ein paar modellhafte Dinge, die man sich bei Labour abschauen kann. An der Basis von Labour, in den Stadtteilen, in den Vierteln, in den kleinen Städten, entstand nach und nach wieder ein lebendiges Parteileben, in der dezentralen Parteiarbeit entwickelte sich das Bild, dass sich die Partei um die Menschen kümmert. Dass sie da ist für die Leute in den Bezirken. Und zudem entstand eine Bewegung junger Leute, die sich für Corbyn und seinem Kurs stark machen, nicht nur, aber angeführt von der Bewegung „Momentum“. Genau diese Kombination aus Bewegung und Partei führte ja auch Syriza in den frühen 2010er Jahren von der Kleinpartei zur 40-Prozent-Partei. So entwickelt sich eine Art von Mitmach-Partei, die der Falle „entweder Traditionspartei oder neue, linksliberale urbane Mittelschichten“ entgeht – es sind nämlich alle Milieus hier repräsentiert. Es entsteht gerade das wieder, was große progressive Parteien immer ausgezeichnet hat: Diese Koalition von Engagierten aus den verschiedenen sozialen Milieus, von Menschen, die von Habitus und Lebensart unterschiedlich ticken, aber doch das Bewusstsein haben, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Leute, die mittun, ganz dem Wort von Bernie Sanders entsprechend, dass „Demokratie etwas anderes ist als ein Fußballspiel. Demokratie ist kein Zusehersport.“

Zuletzt noch ein Punkt, auf den Oliver Nachtwey jüngst hinwies: Es ist ja nicht falsch, dass die linken politischen Eliten „selbst Teil des Establishments geworden“ sind. Nicht selten erwecken sie den Anschein, als wollten sie von den korrupten ökonomischen Machteliten akzeptiert werden. Oder sogar selbst Teil davon werden. Zum Teil ist das auch Ausdruck von schwachem Selbstbewusstsein: man mag von der ökonomischen Superklasse und deren Repräsentanten, diesen Verkörperungen der modernen Erfolgskultur, respektiert werden.

Es ist aber nicht die Aufgabe von Linken, sich der ökonomischen Macht anzubiedern. Es ist die Aufgabe von Linken, sie zu bekämpfen. Parteien der demokratischen Linken müssen immer in Opposition sein, sogar wenn sie regieren. Sie müssen dann so etwas wie „oppositionelle Regierende“ sein.

Verliert man diese Identität, dann untergräbt das jede Glaubwürdigkeit. Kein Mensch wird einer Anbiederungs-Linken glauben, dass sie noch die Energie hätte, gegen die Widerstände der herrschenden Eliten substantielle alternative Entwicklungspfade zum neoliberalen globalen Kapitalismus durchzusetzen.

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