Diese ganze Krise hat unsere Gewohnheiten umgeworfen und uns auch innerlich verunsichert. Wer erleben einen Kontrollverlust. Wenn wir das Haus verlassen spüren wir eine innere Unruhe. Vorsichtig, fast wie Diebe schleichen wir herum, weil wir wissen, dass da eine Gefahr ist, die unsichtbar ist. Um Passanten machen wir einen Bogen, aber wir gehen uns sehr achtsam aus dem Weg, fast zärtlich. „Soziale Distanzierung“ heißt das jetzt, aber das ist ein dummes Wort, weil es eigentlich „physische Distanzierung“ heißen sollte, da wir uns sozial sogar näher sind als normal. Denn es ist jetzt nötiger denn je: sich in die Anderen einzufühlen. Sich zu helfen, zu unterstützen. Wir sind auch staatlichen Regeln unterworfen, die massiv in unsere Selbstbestimmung eingreifen. Auch das hat einen Effekt psychischer Irritation, weil wir es spontan einmal ablehnen, bevormundet zu werden, und zugleich wissen, dass diese Eingriffe in den Alltag richtig sind.
Die Regierung, die nicht alles falsch macht, macht auch viel nicht richtig. Sie kommuniziert mit Bürgerinnen und Bürgern, als wären die unmündige, infantile Kleinkinder. Sie lobt, erklärt uns, dass sie stolz auf uns sei, weil wir so brav sind. Schimpft aber auch mit denen, die schlimm sind, zu denen kommt der böse Nehammer. Vielleicht wäre es besser, mit Bürgern und Bürgerinnen wie mit intelligenten Lebewesen zu sprechen, und nicht im Stil strenger Kindergartenpädagogik der fünfziger Jahre.
Und die Sache mit der Vernunft, das ist ja schon eine diskussionswürdige Sache. Eine Regierung, die verbietet, mit zwei Freunden in der Sonne auf der Wiese auf einem Badetuch zu liegen, und die zugleich erlaubt, dass jetzt wieder alle Handelsgeschäfte aufmachen und sich die Leute beim Shopping anstecken – das ist ja auch nicht so wahnsinnig aus einem Guss alles. Klar, die Infektionszahlen sind dramatisch gefallen, und das ist gut so. Aber sie können schnell wieder steigen.
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Da wir aber alle vernünftige Menschen sind (also die meisten von uns), sollten wir einfach auch selbst denken. Manche Leute sperren sich ja seit einem Monat praktisch vollständig ein, schleichen grade einmal pro Woche zum Supermarkt und schimpfen alle, die mal in die Sonne gehen. Das ist natürlich übertrieben. Übrigens auch ungesund: Wenn uns das Virus irgendwann doch erwischen sollte, ist es besser, wenn wir unser Immunsystem gestärkt haben, und dazu gehört: Bewegung, Sonne, Obst, Gemüse.
Vernünftig ist aber vor allem: Nur ja nicht dran glauben, dass wir irgendetwas schon erreicht haben. Zugleich ist aber Vereinsamung nicht auf die Dauer durchzuhalten. Oder auch mit den immergleichen drei Familienmitgliedern in der 50-Quadratmeter-Wohnung, das ist einfach unaushaltbar auf die Dauer – bei aller Liebe zu den Liebsten. Kinder und Jugendliche brauchen auch Begegnung mit ihren Freunden. Die sollen sich schon mit einem engen Freund, einer engen Freundin treffen. Auch Sie sollten das tun, bevor sie mit ihrer Kaffeemaschine zu sprechen beginnen.
Vernünftig ist, auf sich selbst zu achten. Vernünftig ist, seine Kontakte auf ein, zwei, drei zu reduzieren. Besonders unklug ist, unvorsichtig zu werden. Sich völlig einzusperren ist aber auch nicht vernünftig.
„Österreich“, 14. April 2020
Wir wären gut beraten die positiven Aspekte der Krise wie die sich erholende Umwelt, zunehmende Wertschätzung für Sozial- und Einzelhandelsberufe, Solidarität und Hilfe für Schwächere, behinderte und ältere Menschen usw. für die“Zeit danach“ bestmöglich zu erhalten. Werden doch schon Stimmen wach, die bei den berechtigten Forderungen der Beschäftigten im Sozialbereich und im Handel (Arbeitszeitverkuerzung, Gehälter, Arbeitsbedingungen) und bei der Forderung nach einer Millionärs- und
Erbschaftssteuer wieder einmal die Floskel von der „Neiddebatte“ bemühen. Wir haben in der Krise auch erfahren, dass es durchaus keine Einschränkungen bedeuten muss regionale Produkte einzukaufen . Bei Medizinprodukten und Sicherheitsbekleidung hat die Krise vorübergehend auch eine Abkehr von der Geiz ist Geil- Mentalität gebracht. Hoffentlich lassen sich zumindest ein paar dieser Erkenntnisse in die Zeit der neuen Normalität hinüber retten. Die Krankenpfleger, Behindertenbetreuer, Altenpfleger und Supermarktangestellten werden auf Dauer ihre Mieten und Lebenshaltungskosten nicht vom Balkonklatschen allein bestreiten können. Hoffentlich vergisst „die Gesellschaft“ das nicht all zu schnell.
Ich spreche kein Deutsch, aber ich lerne lesen. Ich stimme dem zu, was du sagst. Gestern habe ich gerade mit meinen Freunden in einem Video-Chat darüber gesprochen. Räumliche Distanzierung ist das, was wir tun, anstatt soziale Distanzierung. Und ja, heute hier in England wollen die Menschen auch von weitem Kontakte knüpfen.
schön, dass es leute gibt, die sich nicht von der „kritisieren könnt’s später“- fraktion am selbständigen denken hindern lassen.
ich freue mich über jeden einzelnen und besonders über die, die auch noch schlaue artikel schreiben.
danke, lieber hr misik!