Die Zwanzigerjahre könnten ein Jahrzehnt voller Lebensappetit werden. Optimismus kann jedenfalls nicht schaden.
Das Jahr, das nun zu Ende geht, hat uns eines gelehrt: Wie zerbrechlich unsere Normalität ist. Innerhalb von nur wenigen Tagen kann sich unser Leben vollständig ändern, es kann auf den Kopf gestellt werden. Auch das zeigt dieses Jahr: Wie sehr wir auf unsere Normalität vertrauen, und wie absurd dieses Vertrauen dann im Nachhinein wirkt, dann nämlich, wenn die Abnormalität in unser Leben eingebrochen ist.
Wir unterliegen als Gesellschaft einer Art von „Kontrollillusion“: Ist alles normal, haben wir das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Umso erschütterter sind wir, wenn wir die Erfahrung des Kontrollverlustes machen. Wir sehen jetzt: Wir haben nicht alles unter Kontrolle.
Im Lichte dieser Erfahrung sind wir auch etwas demütiger, was Prognosen für die nächsten Monate betrifft. Was wissen wir schon? Wir wissen noch nicht einmal, wie in etwa das Infektionsgeschehen im Februar sein wird.
Und dennoch können wir auch mit etwas Optimismus ins Jahr 2021 sehen. In einer phantastischen internationalen Kraftanstrengung haben geniale Forscher, entschlossene Regierungen und Pharmaunternehmen innerhalb weniger Monate eine Reihe von Impfstoffen entwickelt. Einige basieren auf einem relativ neuartigen Verfahren, andere auf der klassischen Impftechnologie. Mittlerweile sind bereits Millionen Menschen geimpft und viele zehntausende Menschen sind seit Juni in den Testgruppen geimpft worden. Unter diesen vielen Zig-Tausenden sind praktisch keine nennenswerten Nebenwirkungen aufgetreten.
Viele Menschen haben zwar Sorge, dass es vielleicht doch noch zu Nebenwirkungen kommen könnte, aber das ist schon auch ein wenig absurd, wenn man bedenkt, dass nicht selten dieselben Leute ohne viel nachzudenken Aspirin, Voltaren, Anti-Baby-Pille oder Viagra schlucken – alles Medikamente, die mit Sicherheit häufigere und schwerere Nebenwirkungen haben als die verschiedenen Impfstoffe.
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Bis März werden bei uns wohl die absoluten Risikogruppen, vor allem die Bewohner der Seniorenheime und das medizinische und Pflegepersonal in den Kliniken und Betreuungseinrichtungen geimpft sein, danach kommen die alleinlebenden älteren Damen und Herrschaften in Genuss der rettenden Spritze und können endlich wieder ein Leben ohne Isolation führen. Das alleine wird vieles an unserem Leben vereinfachen, da damit eigentlich die potentielle Überlastung der Intensivstationen und Spitäler ausgeschlossen sein wird. Wenn dann der Sommer kommt, ist sowieso alles leichter, und wenn dann im nächsten Herbst die breite Bevölkerung geimpft sein wird, dann haben wir unser altes Leben zurück.
Manche Menschen machen sich Sorgen, dass wir unser altes Leben nie wieder zurückbekommen, dass viele Verbote bleiben, weil sich die Menschen dann daran gewöhnt haben werden. Ich denke aber, das Gegenteil ist wahr: die Notstandsregeln haben so sehr in das Leben jedes Einzelnen eingegriffen, dass sie alle satt haben. Keine Regierung der Welt kann es sich leisten, diese quasi aus Gewohnheit in Kraft zu lassen. Im Gegenteil: wenn diese Seuche überwunden ist, werden die Menschen das freie Leben in vollen Zügen genießen wollen, noch mehr als vorher. Das zeigt auch die Geschichte der Pandemien: auf die Choleraepidemien folgten sanitärer Fortschritt und die „Gründerjahre“, auf den Ersten Weltkrieg und die Spanische Grippe vor 100 Jahren folgten die „Goldenen Zwanzigerjahre“, ein Jahrzehnt von Highlife, Kunst, kultureller Moderne und Lebensappetit.
Noch ein bisschen Geduld – dann kann die Party beginnen.
Ich fürchte, wir sehen die Möglichkeiten, dass jeder der sich impfen lassen möchte in absehbarer Zeit geimpft wird, viel zu optimistisch. Ich glaube vielmehr, dass wir alle noch sehr lange auf eine Impfung warten müssen.