Die Eigentorjäger

Die SPÖ sollte als stärkste Oppositionspartei die Kurz-Regierung jagen, versinkt aber in Zanksucht und Selbstbeschädigung. Eine Geschichte von langen Konflikten und sozialer Imkompetenz hat dazu beigetragen. Wie kommt man da raus?

Falter, Juli 2021

Schock, Ratlosigkeit, lange Gesichter. Als beim SPÖ-Parteitag bekannt wurde, dass die Parteivorsitzende von beinahe 25 Prozent der Delegierten gestrichen worden war, waren die allermeisten wie von einer Keule getroffen.

Damit hatte nun wohl keiner gerechnet.

Gewiss, dass viele mit der Parteivorsitzenden unzufrieden waren, war klar. „Die kann es nicht“, das ist einer dieser Sätze, die sich manche fast schon routinemäßig zuraunen. Einige würden sich wünschen, dass Pamela Rendi-Wagner häufiger bei Landesparteichefs oder wichtigen Bürgermeistern anruft, oder sie werfen ihr vor, dass sie an ihrem Bundesgeschäftsführer festhält. Wieder andere sind auf irgendetwas anderes sauer, was gar nichts mit der Parteivorsitzenden zu tun hat, kühlen aber an ihr ihr Mütchen, weil irgendjemanden muss man es halt mal „zeigen“.

Aber eine Prise von der faden, alten Parteidisziplin hatten die meisten fix erwartet. Denn was hat man denn davon, wenn man die eigene Frontperson beschädigt? Wochenlange Schlagzeilen, eine Partei, die sich selbst ohne Not zum negativen „Sommerthema“ macht. Ersatzperson hat sowieso niemand eine in der Tasche.

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Klar, man kann sich auch ein Loch ins Knie schießen und Milch hineingießen. Aber warum sollte man das tun?

Und dennoch haben „sie“ es getan.

Wie eine Fußballmannschaft, die mit der Leistung ihres Kapitäns nicht zufrieden ist, und ihn deshalb gegen den Knöchel tritt, statt ihn zu unterstützen.

Und bald zieht das Gemunkle Kreise, dass das alles nicht nur Folge amorpher Unzufriedenheit gewesen, sondern von Intriganten und den üblichen Verdächtigen inszeniert worden sei. Der eine habe herumtelefoniert, um ein Streichkonzert zu organisieren, wird berichtet, man habe das von einem Zweiten gehört, und der Dritte, der seine Absetzung nicht verwinden kann, wäre auch dabei gewesen. Wird schon so gewesen sein. Aber was heißt das genau? Gehen 30 Prozent der Streichungen auf das Konto irgendwelcher Provinz-Machiavellis, und 70 Prozent auf das Konto sonstiger Unzufriedenheit? Oder ist es 50:50?

Es ging weiter, wie gewohnt: Der burgenländische Landeshauptmann und Parteivorsitzende Hans-Peter Doskozil, der angekündigt hatte, sich nicht mehr zur Bundespartei zu äußern, gibt gefühlt drölfzig Interviews, in denen er sich genüsslich zum Zustand der Bundespartei äußert, deren ungefähre Botschaft darin besteht, dass alle Idioten seien außer er selber, und die Parteivorsitzende besonders unfähig.

Dafür, dass er nichts mehr sagen wollte, sagt er eigentlich relativ viel. Darunter so ulkige Sätze wie jenen, dass er als Verteidigungsminister die Politik des seinerzeitigen Bundeskanzlers Christian Kern torpediert und aufs eigene Tor gespielt habe, aber das wäre nicht er gewesen, sondern intrigante und rachsüchtige Mitarbeiter in seinem Büro, er habe es nur nicht gemerkt, weil er relativ neu in der Politik und halt noch nicht der Hellste gewesen wäre. Man sitzt mit offenem Mund da, starrt auf die Zeitungsseite und fragt sich, ob dieser Irrsinn da wirklich so steht oder man nur träumt.

In der Parteizentrale wird derweil der Verdacht zur gefühlten Gewissheit, die Burgenländer, der aus Niederösterreich, ein paar aus der Steiermark würden mal wieder besonders ruchlos vorgehen.

Im Burgenland wähnt man, die Parteivorsitzende würde keine Sekunde zögern, den eigenen Landeshauptmann vor den Bus zu werfen, wenn sie nur könnte.

Es wird viel übereinander, wenig miteinander geredet, ideale Bedingungen dafür, dass die Phantasien über die verdammenswürdigen Absichten der jeweils Anderen ungehindert gedeihen können. Was davon Wahrheit ist, was Einbildung oder gar schon Paranoia – der Verdacht ist begründet, dass das nicht einmal beteiligte Beobachter mehr auseinanderhalten können.

Dann, der letzte Höhepunkt: In einer Pressekonferenz und im Puls-24-Sommergespräch schießt die Parteivorsitzende direkt auf den Mann aus dem Burgenland, nennt Doskozil „unehrlich“ und einen „ehemaligen Hoffnungsträger“. Menschlich verständlich, aber ob es besonders klug ist? Was genau ist der Sinn der Eskalation, was der Plan? Dass der Ruf „genug gestritten“ aus der Partei erschallt? Ja, vielleicht. Vielleicht aber gibt es auch gar keinen Plan. Dass die ganze Sache eher eine Lose-Lose-Situation ist, weiß Rendi-Wagner wohl selbst. Reagiert sie nicht, erweckt sie den Eindruck, sie ließe sich alles gefallen – greift sie aber direkt an, dann ist sie in einem offenen Grabenkrieg mit einem Landesparteichef und die SPÖ steht tief zerstritten und führungslos da.

„Einen Weckruf“, nennt sie es jetzt.

Von 16 Prozent auf 25 Prozent hat sich die SPÖ hoch gekämpft, in manchen Umfragen sogar bis auf 27, schon im Windschatten der ÖVP – und dann machen das die Leute aus den eigenen Reihen wieder alles kaputt. So sieht das die Parteivorsitzende. Und man blicke sich doch nur um in Europa. Bei solchen Werten würde die SPD, die französische PS oder andere Freudenfeuer entfachen. Solange nicht alle an einem Strang ziehen, sondern Einzelne immer die eigene Führung schlecht machen, brauche man von mehr nicht zu träumen.

„Wir für Doskozil“, pappen sich die Leute aus Burgenlands SPÖ-Spitzen-Clique da schnell aufs Facebook-Profilbild.

Die Sache ist damit endgültig auf Kindergartenniveau angelangt.

Aber wie kam es überhaupt so weit?

Auch diese Geschichte hat viele Stränge. Da ist einmal das, was man generell die „Krise der Sozialdemokratie“ nennen mag. Es wird ja seine Gründe haben, warum Sozialdemokraten fast überall in Europa eher freudlose Ergebnisse erzielen. Es gibt eine wachsende Diversität des potentiellen sozialdemokratischen Wählersegmentes, das sich ausdifferenziert in linksliberale urbane Wählerschichten, in Mittelklassen und wirtschaftlich bedrängte arbeitende Klassen. Städtische und ländliche Lebenswelten klaffen auseinander. Spürbar ist ein Glaubwürdigkeitsverlust als Weltverbesserungspartei, der auch nicht erst gestern eingesetzt hat. Dazu kommt die Erosion der sozialdemokratischen Parteiorganisationen. Und dann ist da die große Frage, wofür die Sozialdemokratie noch steht. Gibt es irgendein Bild, ein gewinnendes Bild einer zukünftigen Gesellschaft mit mehr Emanzipation, von Freiheit, Wohlstand und Sicherheit zugleich, einer besseren Gesellschaft, in der alle ihre Talente entwickeln können und wir ein paar Probleme weniger haben?

Es gibt hier eine Zerfaserung, nicht nur der Milieus, die eine erfolgreiche Sozialdemokratie ansprechen muss, sondern auch der lebenskulturellen Werte, von denen diese Milieus geprägt sind. Vieles, was vorschnell als „Richtungsstreit“ erscheint, ist Folge dieser Zerfaserung.

Und da ist noch der andere Strang dieser Geschichte, der speziell österreichische. Seit Jahrzehnten schon zerreißen Konflikte die Partei. Man erinnert sich an die Ablöse von Alfred Gusenbauer durch Werner Faymann und dann später dessen Sturz. An das hässliche Pfeifkonzert am 1. Mai 2016, als die Rede von Werner Faymann im Tumult unterging. Danach an die Übernahme von Christian Kern, dessen Ungeschick, aber auch an die Grabenkämpfe, die ihn zermürbten. Konflikte dieser Art haben ein paar Charakteristika. Erstens, es bleiben Verwundungen, Schrammen und Unterlegene zurück, die sauer sind. Zweitens: Mit jedem Unterlegenen verlieren dessen „Seilschaften“ und gewinnen die „Seilschaften“ des Neuen, weshalb die „Seilschaften“ des Alten auf ihre Chance warten und, schlimmer noch, hintenherum dazu beitragen, dass diese bald wieder kommen möge. Drittens: Funktionäre in solchen Parteien haben langjährige Konfliktgeschichten miteinander. Das erinnert ein wenig an Asterix auf Korsika, wo Familienclans seit Generationen zerstritten sind, und wenn man sie fragt: „Warum?“, dann können sie das nicht genau sagen, nur, dass angeblich der Ur-Ur-Ur-Großvater des einen einmal den Ur-Ur-Ur-Großvater des anderen betrogen habe, aber wie exakt, daran ist die Erinnerung verloren gegangen.

Manchmal, aber nur manchmal treffen sich Leute, die eine solche Konfliktgeschichte haben, trinken drei Biere und einigen sich darauf, die unnötigen Konflikte zu begraben. Das ist eines der Erfolgsrezepte von Wiens Bürgermeister Michael Ludwig, der eine zutiefst zerstrittene Partei übernahm und sie innerhalb kürzester Zeit befriedete.

Aber das ist natürlich einfacher, wenn man einer Landespartei vorsteht, die regiert.

Besonders schwierig, und damit sind wir beim dritten Strang dieser Geschichte, ist es dann, wenn man die Bundes-SPÖ anführt und in Opposition ist. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs ist eine extrem föderale Partei, die in gewissem Sinne gar nicht existiert. Man ist Mitglied in seiner Landespartei. In den Landesparteien spielt sich das Parteileben ab. Die Bundespartei ist mehr so eine Art Holding oben drüber. Das geht einigermaßen gut, wenn man den Bundeskanzler stellt. Als Bundeskanzler kann man symbolisches Gewicht in die Waagschale werfen, auch wenn man praktisch nicht die Macht hat, irgendjemanden etwas anzuschaffen. Als Oppositionsführerin sitzt man dagegen in der Löwelstraße, hat keine Macht, und wenn man nicht überdurchschnittlich erfolgreich ist, hat man auch symbolisch wenig Gewicht. Geld für einen schlagkräftigen Apparat hat man auch eher wenig.

Alfred Gusenbauer war vor zwanzig Jahren in einer vergleichbaren Situation. Was musste der sich anhören? Schiarch, unfähig, mit so hässlichen Hosen werde das nie etwas. Irgendwann war er dennoch Kanzler.

Das hat Wirkungen und Folgewirkungen. Im schlimmsten Falle: Man kapselt sich ein, entwickelt eine Bunkermentalität, umgibt sich mit einer kleinen Zahl von Leuten, die man für absolut loyal hält (die meist auch irgendeine persönliche Agenda verfolgen), wird dünnhäutig, hält auch gutgemeinte Einwände schon für fiese, ungerechte Kritik. Im Extremfall fühlt man sich von Feinden umzingelt, redet mit niemanden mehr, was den Eindruck, von Feinden umzingelt zu sein, zu einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung macht.

Und wie man aus all dem rauskommt? Ein paar Antworten darauf wären leicht, und unter vernunftbegabten Menschen sollte man sich darauf schnell einigen können. Etwa: Wenn man eine Vorsitzende hat, mit der man nicht ganz zufrieden ist, dann hat man zwei Möglichkeiten. Entweder einigen sich die wesentlichen Führungsfiguren auf einen Nachfolger. Oder sie tun das nicht, dann muss man die Chefin unterstützen und ihr nicht auch noch das Leben schwer machen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Performance der Spitzenperson eine bessere wird, wenn man sie wöchentlich durch den Fleischwolf dreht, ist nämlich eine eher geringe.

Ohne Zweifel gibt es Dinge, die Pamela Rendi-Wagner nicht so gut kann. Ihre Ausstrahlung ist die einer modernen Erfolgsfrau aus der Innenstadt. Wenngleich sie im direkten Umgang auch Zeltfeste rocken kann, medial kommt sie bei den arbeitenden Klassen sicherlich nicht als „eine von uns“ an. Aber für viele ist sie eine Frau mit Stehvermögen, die sich nichts gefallen lässt. Deswegen begegnet man vielen Menschen, die sie massiv ablehnen, aber auch ebenso vielen, die leidenschaftlich zu ihr halten – gerade, wenn sie von irgendwelchen Mannsbildern angegriffen wird. Man kann an Pamela Rendi-Wagner alles Mögliche kritisieren. Dass sie im Fernsehen künstlich und verkrampft wirkt. Das Team. Den Bundesgeschäftsführer. Ein Talent für schlechtes Timing.

Bloß: Perfekt und fehlerlos ist sowieso niemand.

Und man soll bei vorschnellen Urteilen nie vergessen: Niemand hätte 2002 viel darauf verwettet, dass Angela Merkel jemals Kanzlerin wird.

Bleibt die gerne wiederholte These von einem „Richtungskampf“, der all dem unterliegen würde. Zwischen einer „linken“ SPÖ und einer „rechten“ SPÖ. Einer „Ausländer-Raus“-SPÖ und einer „Refugees-Welcome“-SPÖ. Oder zwischen einer eher proletarischen Arbeiterstadt-SPÖ und einer urbanen Mittelklasse-SPÖ. Zwischen „Zubetonierern“ oder „Lifestyle“-Linken. Oder wie diese vergifteten Phrasen alle heißen, die sich zanksüchtige Protagonisten in ihrer Zuspitzungs-Geilheit gerne wechselseitig an den Kopf werfen.

Dass die Sozialdemokratie Teile der arbeitenden Klassen, die unter stagnierenden Löhnen, wachsender Unsicherheit, Entsolidarisierung leiden, zu lange „den falschen Freunden der einfachen Leute“ überlassen hat, ist dabei längst weitgehender Konsens. Höhere Löhne und starke Gewerkschaften, Antirassismus, Gleiche Rechte für Alle, Bekämpfung der Klimakatastrophe, Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie – wo soll da der diametrale Gegensatz sein, der verhindert, all das unter ein Dach zu bringen?

Es ist doch völlig klar, dass eine erfolgreiche Sozialdemokratie für höhere Löhne, einen noch besser ausgebauten Sozialstaat, ein ordentliches Pflegesystem eintreten muss, und genauso dafür, dass jeder und jede gleichberechtigter Teil der Gemeinschaft ist, egal ob er oder sie Aysche, Zlatan oder Christian heißt, und dass sie Pläne für die öffentliche Infrastrukturinvestitionen vorantreiben muss, die helfen, die Klimakatastrophe zu verhindern und die Städte gerade für die normalen Leute überlebbar zu halten, wenn vor den Mietshäusern die Luft über dem Asphalt kocht.

Wie man ein solch „großes Zelt“ spannt, zeigt gerade der US-Präsident Joe Biden.

Und dass du als Volkspartei in deiner Führungsgruppe verschiedene Typen hast, mit unterschiedlichem Habitus, Prägungen und, ja, auch Body-Language und diesen vielen verschiedenen Aspekten von „personaler Identität“, das ist eine Stärke, keine Schwäche.

Man stelle sich vor, es würde all das einmal grundsätzlich durchbesprochen – womöglich wäre man sich schneller im Wesentlichen einig, als man gedacht hätte.

Gegnern in innerparteilichen Auseinandersetzungen müssen „alle Demütigungen erspart werden“, wusste schon Victor Adler, und bei aller Schärfe der Meinungsunterschiede müssen „wir in unseren Ausdrücken und in der Form unserer Polemik mit der größten Vorsicht zu Werke gehen.“

Dass gerade die Partei von Solidarität und Menschenfreundlichkeit besonders durch soziale Inkompetenz glänzt – irgendwie fast ein Witz, wäre der nicht eher unlustig.

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