Plumpes Denken ist das Denken der Großen

Der rote Faden, meine Kolumne aus der taz

Es sind ja gerade Olympische Sommerspiele, und ich muss eingestehen, dass mich diese Tatsache nicht sonderlich elektrisiert, das liegt aber an Sportarten wie Tauziehen, Pistolenschießen, Dressurreiten oder Golf. So erfuhr ich von der Existenz Anna Kiesenhofers und ihrem fulminanten Ritt zum Olympiagold im Fahrrad-Straßenrennen erst, nachdem es schon – nunja, die Metapher hinkt etwas – „gelaufen“ war. Kiesenhofer ist eine 30jährige Frau aus Niederösterreich, die schon eine extrem bemerkenswerte Person ist. Wahrscheinlich ist sie auch ein wenig ein Nerd. Kiesenhofer fährt in keinem Team, hat keinen Coach, ist im allerengsten Sinne eine „Amateursportlerin“, sie fährt noch nicht einmal bei internationalen Rennen mit, weil sie sich das ohne Sponsoren wohl auch gar nicht so leicht leisten könnte. Daher hatten sie ihre Konkurrentinnen auch nicht am Zettel, denn sie kannten sie schlichtweg nicht. Kiesenhofer fuhr bei dem Rennen zunächst im Führungspulk, setzte sich dann aber sehr schnell ab, eilte allein davon und fuhr den Sieg heim. Das hatte sie wahrscheinlich alles penibel berechnet, denn in ihrem anderen Leben ist sie Spitzenmathematikerin, beschäftigt sich mit undurchschaubaren Differentialgleichungen, bei denen wir Durchschnittsleute wohl nicht einmal die Fragestellung verstehen würden. Sie hat an der Technischen Universität studiert, in Cambridge und Barcelona Master und PhD gesammelt und forscht und unterrichtet gegenwärtig in Lausanne. Sie gibt auf Englisch phantastisch gute und sympathische Interviews. Die Frage, wie sie ihren Triumph jetzt feiern werde, beantwortet Frau Doktor Kiesenhofer lachend mit dem Hinweis, dass sie sich jetzt in Niederösterreich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer intensiv auf die Vorlesungen des Herbstes vorbereiten müsse, da sie im Vorfeld zu Olympia dafür ja keine Zeit hatte.

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Eine Frau, die alles schaffte – und das auch noch vollständig auf sich alleine gestellt.

Es ist natürlich kein Wunder, dass dieser Sieg sogleich als Metapher für den Triumph von Frauen benützt wird, die es immer noch sehr viel schwerer haben als Männer.

Wie Olympia junge Frauen inspirieren kann: „Setzt Euch vom Hauptfeld ab“, „reißt aus“, verlasst Euch auf niemanden, kommentierte anderntags der konservative Wiener „Kurier“.

Meine erste, spontane Reaktion war: „Herrlicher Titel“. Aber dann kam ich ins Grübeln. Dass wir uns alle – nicht nur Frauen – vom Hauptfeld absetzen sollen, unser Ding machen, wir uns niemals auf andere verlassen sollen, als Einzelne zu Höchstleistungen streben, auf keine Einbettungen in Kollektiv und Solidarität bauen sollen – das wird uns doch allen seit dreißig Jahren eingebläut. Es ist dagegen auch nicht grundsätzlich etwas einzuwenden, wenn Menschen etwas Besonderes sein wollen, denn gerade dieser innere Antrieb führt zu Höchstleistungen, nicht nur in Sport, auch in Kunst, Literatur, in Geistesleben.

Aber damit geht auch Druck einher, dem man sich selbst macht, ein Getriebensein, dieser Stress, der sich in unsere Gesellschaften hinein frisst und diese existenzielle Alleinheit. Braucht es wirklich auch noch zusätzliches Getrommle in Richtung „Höchstleistungsgesellschaft“, mag das auch für eine noch so gute Sache wie die Frauengleichstellung sein?

Es geht da um Perfektion, darum, niemals mit sich zufrieden zu sein. Auch das ist eine gute Sache, denn Selbstzufriedenheit führt zu Stagnation. Die amerikanische Autorin und Intellektuelle Susan Sontag war, das kann man in ihren Tagebüchern nachlesen, auch nie mit sich zufrieden, da war sie schon eine der gefeiertesten Geistesgrößen ihrer Epoche: „Mein Verstand ist nicht scharf genug, nicht wirklich herausragend. Und mein Charakter, meine Wahrnehmungsweise sind letztlich zu konventionell.“ Sie hielt sich für ziemlich unfähig. „Ich bin so brav, dass es wehtut.“

Was Perfektion sein könnte, auch darüber kann man lange Grübeln. Sontag sagte einmal in einem Interview über ein Buch, sie sei sich nicht sicher, ob es irgendeinen Nutzen entfalte, „außer dass es die Dinge komplizierter macht, was in meinen Augen immer gut ist“. Das ist eine interessante Auffassung, der ich sehr viel abgewinnen kann: Die Dinge sind komplex, und man wird schlauer, wenn man sie in ihrer Komplexität durchdenkt, von allen Seiten ansieht, aber damit wird die Welt natürlich komplizierter. Man muss sie dann auch wieder vereinfachen. Deswegen war George Orwell so ein Anhänger des „Plain Style“, des einfachen Stils und Walter Benjamin war stets fasziniert vom „plumpen Denken“. „Die Hauptsache ist, plump denken lernen. Plumpes Denken, das ist das Denken der Großen“, hatte Bertolt Brecht ihn ermahnt, und Benjamin fand das sehr erstrebenswert. Nun war plumpes Denken bekanntlich keine Disziplin, in der Walter Benjamin besonders gut war, aber nobody is perfect.

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