Das Orakel von Germany

Die Sozialdemokraten haben diese Wahl gewonnen, und zwar gar nicht so undeutlich. Gemessen an der Ausgangslage ist das ein mittelmäßiges Wahlwunder.

taz, Oktober 2021

Zu den paradoxen Charakteristika unserer Zeit zählt: Je bedrohlicher die Lage und umso verunsichernder die Polykrisen sind (Corona, Wirtschaft, Klimakatastrophe), desto zentraler wird das Sicherheitsbedürfnis der Menschen. Eigentlich braucht es radikale Änderungen, aber gerade deshalb ist es verständlich, dass die Bürger und Bürgerinnen beim Wählen vorsichtig sind, denn wer will schon riskante Experimente, wenn sowieso schon überall alles kracht und kollabiert? Wer etwas verändern will, muss zugleich versprechen, dass alles schon ganz gemäßigt und solide angegangen werde. Auch das ist eine Lehre des deutschen Wahlsonntags.

Die SPD hat gewonnen, aber nicht triumphal. Die Union ist gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen. Auch sonst blieb alles im Rahmen, und bei der berühmten Links-Rechts-Achse steht es eher Fifty-Fifty. Die Wähler haben gesprochen, aber was wollen sie uns sagen damit?

Zunächst: Die Sozialdemokraten haben diese Wahl gewonnen, und zwar gar nicht so undeutlich. Schließlich liegen sie nicht nur knapp 1,6 Prozentpunkte vor der Union, die Union hat rund zehn Prozentpunkte verloren, die SPD fünf gewonnen, und nimmt man die Umfragen der vergangenen Jahre, hat sie sogar zehn Punkte zugelegt. Gemessen an der Ausgangslage ist das ein mittelmäßiges Wahlwunder.

Es wäre zu billig, das alleine auf Zufälle oder auf Personen zu reduzieren. Was heißt denn „Sozialdemokratie“ für den Großteil der Wähler und Wählerinnen? Auf Seite der normalen Leute stehen, für die Arbeiter sein, dafür sorgen, dass es gerecht zu geht, garniert mit etwas gesellschaftspolitischer Modernisierung. Wenn Sozialdemokraten nur ein wenig den Eindruck erwecken, in diesen Hinsichten ein wenig glaubwürdiger zu werden, dann werden sie zur Zeit gewählt. Die Deutung, dass die SPD bloß einen guten Wahlkampf gemacht habe, die Union eben einen schlechten, greift schon etwas gar kurz. Olaf Scholz ist maßvoll, aber markant nach links gerückt, der „linke“ und der „rechte“ Flügel der Partei zog an einem Strang, mit den Botschaften „Mindestlohn“, „Respekt“ und ein „investierender Staat“ gab es ein kongruentes Bild, das die SPD zeichnete, mit dem sie sogar ihr Hartz-IV-Trauma vergessen machte. Der Kandidat verkörperte die Botschaft: Scholz kann’s, der wird das solide machen.

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Bloß: Armin Laschet ist ja auch nicht der unfähige Volltrottel, als der er jetzt gerne hingestellt wird. Aber er repräsentierte eine zerrissene Partei, die nicht mehr weiß, wo sie hinwill. Eigentlich hatte er schon verloren, bevor alles begann, man erinnere sich an das Fiasko im Parteivorstand bei der Nominierung des Kandidaten.

Die Sozialdemokraten wurden also stärkste Partei, weil sie Sozialdemokraten sind – und nicht, weil Olaf Scholz smart genug ist, Lachkrämpfe zu vermeiden, wenn er durchs Hochwasser latscht.

Vielleicht hilft ja ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus. Sozialdemokraten haben in vielen Ländern Europas in jüngster Zeit Wahlen gewonnen, sie regieren in ganz Skandinavien, in Dänemark, in Spanien und Portugal, und mit Joe Biden sitzt ein Mann im Weißen Haus, der viel mit Olaf Scholz gemeinsam hat. Er ist ein Mann aus dem Zentrum seiner Partei, der sich mit einem erstarkten linken Parteiflügel arrangierte, der als Präsident linker ist „als es der Senator Joe Biden je war“ (Die Zeit), und der heute mit den klassisch progressiv-sozialdemokratischen Botschaften punktet, etwa, dass die Gesellschaft „von unten und aus der Mitte heraus wieder aufgebaut“ werden müsse, weil der Trickle-Down-Effekt und die Entfesselung der Märkte eben nicht funktioniert. Die Menschen wollen soziale Sicherheit, ordentliche Löhne und nicht wie Nummern behandelt werden, sie wollen auch nicht herumkommandiert werden.

Man liegt gar nicht so arg schief, wenn man in Olaf Scholz den Joe Biden Deutschlands sieht.

Daraus wird nicht automatisch ein neues sozialdemokratisches Jahrzehnt, wie es manche plötzlich schon proklamieren. Anders als in früheren Epochen ist es kein planetarischer Zeitgeist, den die Sozialdemokraten hinter sich haben. Die Gesellschaften sind polarisiert und die Wahlsiege sind auch viel zu knapp. Heute wird man – jedenfalls in Nationen mit Verhältniswahlrecht – oft mit 25-27 Prozentpunkten schon stärkste Partei, muss dann klapprigen Koalitionen vorstehen und dabei so viele Kompromisse eingehen, dass man am Ende wenige Spuren hinterlassen kann. Abgesehen von der Ausnahmefigur Antonio Costas in Portugal sitzt kaum ein regierender Sozialdemokrat auf einer soliden strategischen Mehrheit.

Aber es gibt eine „Nachfrage“ nach „Sozialdemokratie“, die dann zum Tragen kommt, wenn das „Angebot“ einigermaßen stimmt.

Es ist vielleicht nur ein skurriler Zufall, dass in der zweitgrößten Stadt Österreichs – in Graz – zeitgleich zur deutschen Bundestagswahl bei den Kommunalwahlen die Kommunisten stärkste Partei (!) wurden und die konservative Volkspartei gleichsam zertrümmerten. Die Grazer Kommunisten präsentieren sich seit 25 Jahren volksnah, bescheiden und auf der Seite der Benachteiligten. Das Ergebnis sind jetzt 30 Prozent (die Grünen haben übrigens 16, die Sozialdemokraten fast zehn, was sich auf eine fette Mehrheit links der Mitte summiert). Und klar hat dieser Erfolg der KPÖ etwas Irreales, aber er ist auch ein Symptom.

Zurück nach Deutschland. Die Union hat zwar den Traum noch immer nicht aufgegeben, sich irgendwie zurück ins Kanzleramt zu tricksen, aber diese Versuche haben eine bescheidene Legitimität. Gewiss, das Grundgesetz steht dem nicht prinzipiell im Wege, aber es würde der Botschaft der Wählerinnen und Wähler schon arg widersprechen. Die Union, die sich gerade im Schlammcatchen übt, wirkt nicht einmal verhandlungs-, geschweige denn regierungsfähig. Im Grunde sollte daher alles auf die Ampel aus SPD, Grünen und FDP zulaufen.

Nur: Die Konstellation versetzt niemanden in wirkliche Feierlaune, die Gewählten auch nicht.

1998 war das anders. Da kletterten wir Journalisten vor der SPD-Baracke in Bonn auf die Laternenmasten, um im Meer der Feiernden irgendetwas zu sehen. „Rot-Grün—Rot-Grün“, skandierten Tausende. Keiner hatte mit Rot-Grün gerechnet, aber kaum waren die Hochrechnungen einigermaßen klar, erschien es wie ein logisches Projekt, das einem Zeitgeist entsprach.

Knapp dreißig Jahre vorher war das wahrscheinlich auch nicht anders, als sich die Brandt-SPD mit der FDP Walter Scheels zusammen tat, als Allianz einer modernistischen Sozialdemokratie mit dem liberalen Teil des deutschen Bürgertums.

Bei der Ampel bekommt kaum jemand leuchtende Augen. Das beginnt schon mit der Sozialdemokratie, für die es heute keine Verlockung sein kann, „in die Mitte“ zu rücken, sich Richtung liberaler Gesellschaftspolitik zu „modernisieren“. Sie ist, simpel gesagt, in dieser Richtung „modern“ genug. Sie muss eher wieder Repräsentant der „einfachen Leute“ werden, die mit Recht lange das Gefühl hatten, dass sich für sie niemand mehr interessiert. Die Sozis müssen eher geerdeter, gewerkschaftlicher werden, aber zugleich die Balance mit den jüngeren, städtischen linken und links-liberalen Milieus halten. So wie das eben Joe Biden macht, der die White Working Class im Mittelwesten ansprechen muss und zugleich die Fans von Alexandria Ocasio-Cortez. Die soziale Krise und der Kampf gegen die Klimakatastrophe verlangen einen intervenierenden starken Staat, der baut, investiert, modernisiert, begrünt, Stromleitungen legt, die Infrastruktur für die E-Mobilität schafft. Dabei können sich Sozialdemokraten und Grüne ja noch recht leicht treffen.

Das Problem ist eine FDP, die im Grunde schon lange nicht recht weiß, was sie sein soll, liberale Bürgerrechtspartei im Traditionsstrom der Aufklärung oder AfD für Besserverdienende mit Schick und Geschmack? Übrigens auch nicht völlig neu: Auch vor vierzig Jahren war sie zerrissen zwischen dem Linksliberalismus von Hildegard Hamm-Brücher und Co. auf der einen Seite und einem piefig-provinziellen, sehr rechten Nationalkonservativismus, der viele Basisorganisationen prägte. Parteivorsitzende der FDP hatten immer einen Wackelkurs zu gehen. Das ist auch das Problem von Christian Lindner, der daher viele Leute irritiert, weil so recht nicht klar ist: Wer ist das eigentlich?

Vielleicht hilft der FDP ja ein Blick auf ihr Wählerpotential. Bei den Erstwählern wurde sie stärkste Partei, bei den Jungwählern ist sie stark. Der Verdacht ist, dass diese Wähler eine Phantasie gewählt haben. Das werden ja nicht alles 18jährige aus der Erbengeneration gewesen sein, die schon im Gymnasium Polo Ralph Lauren Hemden tragen und im Kinderzimmer vor ihrem Computer von einem Leben im Investment-Geschäft träumen. So viele deprimierende Jugendliche gibt es ja gar nicht. Diese jungen Leute haben die FDP gewählt, weil sie sie für frischere Grüne halten und für etwas lustiger als die Sozis. Für vernünftig, faktenorientiert und unideologisch.

Man stelle sich vor, die FDP würde ein paar Dogmen abschütteln und sich in Richtung dieser Phantasie entwickeln. Dann hätte die Ampel neben einer Mehrheit vielleicht sogar auch noch eine Geschichte zu erzählen.

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