Krise? Welche Krise?

Die Wirtschaft brummt wieder. Aber die gesellschaftliche Krise ist nicht vorüber. Die ist durch wachsende Ungleichheit, Prekarität, oftmals stagnierende Einkommen und durch die drohende Klimakatastrophe gekennzeichnet. Diese Krise muss jetzt bekämpft werden.

Wir sind gerade in einer ganz eigentümlichen Phase, als Staat, als Gesellschaft, aber auch als einzelne Bürger und Bürgerinnen. Wir haben eineinhalb Jahre Krise hinter uns, Ausnahmezustand. Eine Pandemie brach über uns ein, was erst ein Schock war, aber uns nicht nur in Angst versetzte, sondern auch in Staunen. Doch irgendwann machten die Belastungen nur mehr müde. Parallel dazu Lockdowns und Wirtschaftseinbruch, viele Menschen wurden arbeitslos, viele verloren an Einkommen, und noch viel mehr waren von Existenzangst gebeutelt. Jetzt haben wir das Gefühl, dass wir das Ärgste hinter uns haben und zugleich die Ahnung, dass das vielleicht eine trügerische Hoffnung ist. Fünf Milliarden Impfungen wurden mittlerweile auf dem gesamten Planeten verabreicht. Die Pandemie grassiert weiter, aber wie sehr wird sie unser Leben noch beeinträchtigen? Vierte Welle, nächster Lockdown – wird es uns noch einmal hart treffen? Es fühlt sich an, als würde sich alles langsam wieder normalisieren, aber zugleich haben wir unsere Zweifel, ob das nicht gerade nur eine trügerische Entspannung ist, bevor es wieder übler wird.

Bei jeder Normalisierung die leise Angst, dass das alles nur ein fauler Zauber sein könnte.

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Das gilt auch für die Erholung des Wirtschaftssystems und der Konjunktur. Viele haben Schlimmstes erwartet: die globale Stilllegung der Wirtschaft würde eine Katastrophe verursachen und zu ungekannter Massenarmut führen. Das ist jedenfalls ausgeblieben. Viele Menschen hatten schmerzhafte Einkommensverluste, einige hat es besonders hart getroffen. Die Arbeitslosenzahlen sind mittlerweile auf rund 280.000 zurück gegangen, das ist im Grunde das Vorkrisenniveau. In einem Großteil der vergangenen 13 Jahre sah es am Arbeitsmarkt deutlich düsterer aus, nachdem uns die Finanzkrise und deren Folgen eine skandalös hohe Massenarbeitslosigkeit einbrockte, die erst ab etwa 2017 merkbar zurück ging. Heute klagen viele Branchen sogar über Arbeitskräftemangel. Die gesamte Wertschöpfung – also das BIP – wird 2021 wohl schon wieder den Wert des Jahres 2019 erreichen, obwohl ganze Branchen immer noch pandemiebedingt leiden. Die Industrie läuft sowieso auf Hochtouren.

„Wo ist sie eigentlich, diese Krise?“ fragen manche Leute da erstaunt.

Zumindest die großen Industriestaaten, die USA, Nordarmerika generell, die europäischen Länder sind – gemessen an den Gefahren – bisher sehr gut durch diese Krise gekommen und das hat damit zu tun, dass die Regierungen sehr viel richtig gemacht haben. Sie haben den ökonomischen Absturz verhindert, die Konjunktur gestützt, Unternehmen gerettet, die Beschäftigung stabilisiert – etwa mit dem Kurzarbeitssystem – und sie haben in Europa beispielsweise dafür gesorgt, dass die ökonomisch besonders verwundbaren Länder nicht in eine Todesspirale geraten. Plötzlich war auch für den verbohrtesten Konservativen klar, dass die Staaten massiv intervenieren müssen. In den USA sind die Einkommen der Schwächsten sogar gestiegen – weil die Trump-Regierung einfach Schecks an alle Arbeitslosen geschickt hat, dank derer viele Leute mehr Einkommen hatten als vorher mit ihren prekären Jobs im Niedriglohnsektor. Die Krise brachte den endgültigen Niedergang des Neoliberalismus und eine neue Art Keynesianismus, so das Urteil mancher Kommentatoren. Weniger Markt, mehr Staat, das werde bleiben, so die Prognose, und selbst das Zentralorgan aller Wirtschaftsliberalen, der britische „Economist“, feiert das geradezu. Verkehrte Welt.

„So einfach ist aber auch wieder nicht“, warnt Adam Tooze vor allzu hoffnungsfrohen Interpretationen. Der Starökonom von der New Yorker Columbia University hat gerade ein neues Buch herausgebracht: „Welt im Lockdown.“ Ja, die Regierungen sind heute wieder aktivistischer im Wirtschaftsleben, ja, es ist auch jedem klar, dass die Einkommen normaler Menschen wieder wachsen müssen, wenn man stabile Nachfrage und Prosperität haben will, und ja, das wirtschaftstheoretische Denken in der Mainstream-Ökonomie ist global in den vergangenen Jahren nach links gerückt. „Aber war getan wurde, ist zugleich äußert konservativ“, sagt Tooze. „Es wurden einfach alle gerettet. Die Finanzanleger, die Banken, die Unternehmen, die Arbeitsplätze, die Lohnempfänger, auch die EPUs und die Prekären haben etwas bekommen – aber die, die vorher reich waren, haben mehr bekommen, und die die weniger hatten, haben weniger bekommen. Die Ungleichheit ist noch gewachsen. Alles war vorher schlecht war, wurde auch stabilisiert.“ In seinem Buch liest sich das so: Die Rezepte des Neoliberalismus wurden überall über den Haufen geworfen, „gleichzeitig aber erfolgte das im Rahmen der neoliberalen Hinterlassenschaften.“

Jetzt ist die akute Krise zu Ende – aber die Ungleichheit und Unfairness sind immer noch da.

Es wurde nicht nur mit der Gießkanne über das gesamte System Geld ausgegossen, damit die Krise nicht in eine Katastrophe mündet, „bei manchen gab es einen regelrechten Wasserfall“, sagt Markus Marterbauer, der Chefökonom der Arbeiterkammer in Hinblick auf Österreich. Die großen Konzerne und viele Unternehmen haben übermäßig profitiert, aber jetzt beginnt der ÖVP-Teil der Regierung bereits über Steuersenkungen für die Oben und „härtere Einschnitte für die Arbeitslosen“ nachzudenken.

Härte für die Armen und Wohlfahrt für die Reichen.

„Wenn man sich die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ansieht, dann ist der Anteil der Unternehmenseinkommen und Gewinne im Verhältnis zu den Arbeitnehmerentgelten in der Krise gestiegen“, ergänzt David Mum, Ökonom bei der Gewerkschaft GPA-djp, „und das ist in einer Krise wirklich erstaunlich. Normalerweise brechen die Gewinne stärker ein als die Löhne und Gehälter.“

Es wäre ein fataler Fehler, den Schalter jetzt umzulegen und wieder Business as Usual zu betreiben. Erstens würde dann die Konjunktur wohl sehr schnell wieder in den Keller fallen, zweitens bleiben die großen Herausforderungen ja da: das anpacken, was bisher liegen geblieben ist (etwa in der Infrastruktur, die dringend Investitionen braucht), zweitens wieder für mehr Gerechtigkeit sorgen und drittens der massive Umbau, um die Klimakatastrophe zu bekämpfen.

Würde man alles zusammen hin bekommen, wäre ein neues „Wirtschaftswunder“ denkbar, wie in den „gloriosen dreißig Jahren“ zwischen 1945 und 1975, in denen wirtschaftliches Wachstum, Wohlstandszuwachs und mehr Gleichheit Hand in Hand gingen.

US-Präsident Joe Biden verspricht, „das Land wieder von unten und aus der Mitte aufzubauen.“ Sein unmittelbares Rettungsprogramm, sein Infrastrukturprogramm und sein Job-Programm summieren sich auf sagenhafte knapp sieben Billionen Dollar – für die nächsten zehn Jahre. Das klingt aber nur astronomisch. Die Infrastrukturmaßnahmen, um die Klimakatastrophe zu verhindern und für die Post-Carbon-Ära umzurüsten summieren sich gerade auf 0,5 Prozent des US-amerikanischen BIP. „Viel zu wenig“, so das Urteil von Adam Tooze. Und zudem ist nicht einmal ausgemacht, dass Biden einen relevanten Teil seines Programmes durch einen schwer polarisierten Kongress – also die beiden Häuser des US-Parlamentes – bringt. „Wir haben hier eine viel zu bescheidene Größenordnung und wissen noch nicht einmal, ob Biden viel davon durchsetzen kann.“

Man muss kein großer Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Konservativen und Wirtschaftsliberalen schon in den Startlöchern scharren, um wieder zu trommeln: die Schulden seien das größte Problem, die Regierungen müssen die Sparstifte ansetzen, insbesondere bei den großen Ausgaben für Soziales, Pensionen, im Gesundheitswesen. Und die Unternehmen müssten „entlastet“ werden. Dabei ist es völliger Unfug, zu behaupten, dass die Unternehmen zuwenig Geld für Investitionen haben – eher das Gegenteil ist der Fall. Aber man kann das Flüstern förmlich schon hören in den konservativen Parolen-Schmieden: „Es war richtig, Geld auszugeben, aber jetzt müssen wir sparen.“

Genau das war der Fehler, der nach der Finanzkrise von 2008 gemacht wurde: Nachdem zunächst die Banken gerettet und die Konjunktur gestützt wurde, geriet vor allem die Europäische Union auf den Irrweg einer brutalen Sparpolitik – die uns allen am Ende ein verlorenes Jahrzehnt einbrachte. Die Wirtschaftsleistung der gesamten Eurozone erreichte deshalb erst 2015/16 wieder den Vor-Krisen-Wert.

„Es geht hier auch um das Narrativ“, sagt Robert Habeck, der deutsche Grünen-Politiker. „Was sind denn Schulden, die wirklich drückend sind? Die wirklichen Schulden, die wir unseren Kindern nicht hinterlassen dürfen sind stinkende Toiletten in den Schulen, sind fehlende Tablets für die Schüler, ist die Überausbeutung in vielen Branchen, sind zubetonierte Städte.“

„Die unmittelbare Krise mag überwunden scheinen, aber wir haben eine Gesellschaftskrise, und wenn man nichts tut, kommen wir mit noch mehr Ungleichheit heraus“, sagt David Mum. „Wenn alle sparen, geht die Wirtschaft unter“ (Habeck).

Und die Alternative? Investitionen und ein Ausbau des Sozialstaates, weshalb es auch keinen Spielraum für die Senkung von Unternehmenssteuern gibt, sondern auch Vermögenssteuern und höhere Abgaben für die Superreichen braucht, beispielsweise aber auch höhere Besteuerungen der Technik-Multis – durch die von den G-20 paktierte globale Mindeststeuer geht es hier wenigstens erstmals in die richtige Richtung. Prekäre Beschäftigung und Lohndumping müssen bekämpft werden, damit die Einkommen der verwundbarsten Arbeitnehmer auch wieder steigen – und sich dann das gesamte Lohngefüge hebt. „Glücklicherweise wird das durch die Arbeitskräfteknappheit teilweise von selbst geschehen“, sagt Markus Marterbauer, „das hebt die Einkommen“.

„Wir sind in einer permanenten Krise“, sagt auch Lea Steiniger, Forscherin an der WU, die sich vor allem mit Geld- und Finanzpolitik beschäftigt. „Das gute ist aber, dass ein ökosozialer Umbau sowohl das ist, was wir aus Klima-Gründen brauchen, und zugleich stabilisierend für das System als ganzes wirkt.“ Dieser Umbau sorgt für Investitionen, Innovationen, schafft Arbeitsplätze und damit Einkommen, die sich wiederum in ordentliche Nachfrage übersetzen. Ein Win-Win-Spiel, sozusagen. Und die finanziellen Ressourcen haben die Staaten allemal. „Etwas zweites, was immer mehr diskutiert wird, ist eine staatliche Arbeitsplatzgarantie. Wer arbeitslos ist, bekommt einen Job angeboten, etwa bei einer Gemeinde. Zu tun gibt es ja genug. Das würde aber zugleich die Verhandlungsposition aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verstärken, weil die Angst vor der Arbeitslosigkeit zumindest geringer würde. Und dann würden auch die Einkommen wieder stärker steigen.“

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