„Das große Beginnergefühl“ – aus den Notizbüchern 1

Vorankündigung: Im Mai 2022 erscheint mein Buch „Das Große Beginnergefühl“, ein Parforceritt durch 200 Jahre moderner Kunst. Es beschreibt, wie radikale Kunst, revolutionäre Ideen und Politik und der „Zeitgeist“ aufeinander einwirken.

Keine zwei Wochen mehr bis zum Erscheinen meines Buches „Das große Beginnergefühl“, salopp gesagt eine linke Geschichte der kulturellen Moderne. Näheres, wie zB. das Inhaltverzeichnis findet sich hier unter diesem Link.

Das Ganze stützt sich unter anderem auch auf digitale Notizblätter, die ich seit bald 30 Jahren führe. Manches ging in das Buch ein, vieles auch überhaupt nicht, einfach aus Platz- oder Kompositionsgründen, wie etwa das geplante und dann verworfene Kapitel über George Orwell. Ich werde das also hier auf dem Blog in lockerer Folge vermischt mit paar Takten aus dem Buch präsentieren, vielleicht regt es ja jemanden zum Weiterlesen oder zu irgendwelchen Gedanken an.

„Der bürgerliche Roman und sein »Realismus«, wie er sich ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, steht am Ausgang der hier gewählten Darstellung. Honoré de Balzac hat mit seiner Comédie Humaine ein Panorama der modernen bürgerlichen Gesellschaft schon im Moment ihres Ursprungs gezeichnet. Balzac war so ziemlich das Gegenteil eines sozialistischen Revolutionärs, er war ein reaktionärer Monarchist. Aber er hat die zeitgenössische Gesellschaft beschrieben, deren charakteristische Typen, die verwitternde Prunksucht der Aristokraten, die kriecherische Posiererei der Reichen, der bürgerlichen Geldleute, die um Anerkennung und Karrieren rangen, den lächerlichen Konkurrenzkampf aller gegen alle, das Elend der Armen. Balzac hat das Geld in die Literatur eingeführt, den Wettlauf um monetären Wohlstand, der alles motiviert, selbst die Liebe, die Ehe. Und die Kunst übrigens, denn Balzac hätte niemals so viel geschrieben, wenn er nicht ständig auf der Flucht vor Gläubigern gewesen wäre. Karl Marx pries den alten Reaktionär Balzac dafür, dass er »alle Schattierungen des Geizes so gründlich studiert« habe. Friedrich Engels formulierte später, er habe von Balzac mehr gelernt »als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen«.“

Aus den Notizbüchern:
Balzac: Die Frau von dreißig Jahren
Schlecht zusammen gestückeltes Buch, auch bisschen wie ein Groschenroman, vor allem diese Sehnsucht nach Liebe plus die Piratenstory am Schluss

FAZ: Immer wieder zwischendurch las Gide Balzac, den er natürlich längst kannte von früher – wollte er sich Balzacs vergewissern? seiner selbst? wer er geworden war seither? und wo Balzac abgeblieben war? Als er weit über siebzig war, las er wieder einmal die „Frau von dreißig Jahren“, zum letzten Male wohl, und vielleicht ein bißchen zu spät (Balzac war gute dreißig beim Schreiben gewesen). Nach dem Lesen jedenfalls notierte er ins Tagebuch: Balzac sei ein unerklärliches Rätsel, und er frage sich, ob er, also Balzac, je etwas Schlechteres gemacht habe als diesen Roman. Gide war klug, er hat recht, dieser Roman ist grauenhaft zusammengestückt, er selber, Gide, hätte so etwas niemals getan. Hier heiratet eine junge Frau den falschen Mann, im schöneren Alter dann verliebt sie sich, aber es wird nichts draus, danach, im noch schöneren Alter (beglückte Leserinnen! und erst beglückte Liebhaber!) verliebt sie sich wirklich ernsthaft.

Die Ehe, ein Hort des Unglücks

Mit Die Frau von dreißig Jahren führte Balzac ein neues Thema in die Literatur ein: die unglückliche Ehegattin.

Balzac: Verlorene Illusionen
Gerät in die Welt der Boheme, auch der ernsthaften Geisteswelt, von Armut, aber genauso in die Welt der Blender, Geschäftemacher, Spekulanten, Aristokraten. Geld regiert alles, auch die Literatur ist ein Geschäft und Zeitungen erst recht.
„Es gibt Menschen, denen alles erlaubt ist: Sie können die unvernünftigsten Dinge machen, ihnen steht alles an; alle beeifern sich, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Aber es gibt andere, gegen die die Welt unglaublich streng ist: Sie müssen alles recht machen, dürfen sich nie täuschen, nie einen Fehler machen, nicht einmal eine Dummheit begehen.“
…während die Holzgalerien für die Prostitution ein öffentliches Gebiet waren, das ‚Palais‘ par excellence, denn unter dem Wort verstand man damals den Tempel der Prostitution… Diese ganz verruchte Poesie ist verloren gegangen… Angesehene Personen, hervorragende Männer streiften dort an Menschen mit Galgengesichtern.
Lucien… bewundert Autor Nathan… „und er war aufs höchste verblüfft über diese Kriecherei vor einem Kritiker…“…“Muss man seine ganze Würde aufgeben? Fragte er sich.“

„…das Gewissen ist so ein Stock, mit dem jeder seinen Nächsten prügelt, den er aber für sich selbst nie benutzt.“

„Er ist dankbar aus Berechnung. Das ist die beste und solideste Dankbarkeit.“

„Die Zeitung …ist aus einem Mittel ein Geschäft geworden; und wie alle Geschäftsunternehmungen ist sie ohne Treu und ohne Ehrlichkeit… in der man dem Publikum Worte von der Farbe verkauft, die es haben will… Eine Zeitung ist nicht mehr dazu da, die Meinungen zu klären, sondern ihnen zu schmeicheln. Daher werden alle Zeitungen nach einiger Zeit erbärmlich, heuchlerisch, infam, lügnerisch, mörderisch sein.“

Lucien macht steile Karriere in dieser Welt, spinnt die Intrigen mit, die kleinen Machttricks.

Lucien geht vom Lager der Liberalen ins Lager der Royalisten über, weil er sich davon mehr Vorteile erhofft, sitzt dadurch aber zwischen allen Stühlen, weil er bei den einen nicht für voll genommen wird, bei den anderen aber als Verräter gilt.

Stefan Zweig: Balzac:
Er hat das Geld in den Roman gebracht… gezeigt, wie das Geld selbst in die edelsten, feinsten und immateriellsten Empfindungen eingesickert ist.
…sie haben bald heraus, dass nur Geld oder der Schein des Geldes die Türen sprengt…Pathologe des sozialen Lebens…

Arno Widmann:
Balzac ist eine Fabrik, angetrieben von Schulden, die je mehr er sie abzuwerfen versucht, desto größer werden. Kein Autor hat die Anziehungskraft und die zerstörerische Wucht des Geldes so ins Zentrum des menschlichen Lebens gerückt wie Balzac. Karl Marx, auch zeitlebens ein großer Schuldner, lobte ihn dafür wie er sonst nur noch Shakespeare lobte.

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