Bescheiden, intellektuell, integer

Italiens KP-Chef Enrico Berlinguer, Erfinder des Eurokommunismus, war ein Gigant der Linken. Eine neue Biografie erinnert an diese packende Figur.

Es ist ein ergreifendes TV-Dokument: Die letzte Rede von Enrico Berlinguer, 1984 in Padua. Selbstlosigkeit und Verantwortungsgefühl hatten den Anführer der Kommunistischen Partei Italiens stets ausgezeichnet, es waren diese Charaktereigenschaften, die den scheuen Berlinguer zum populärsten Politiker Italiens machten. Und so ist auch diese letzte Wahlkampfrede: Berlinguer wird blass, ringt auf der Bühne nach Luft. Das Auditorium merkt, dass etwas nicht stimmt. Berlinguer greift nach einem Glas Wasser und müht sich, die Rede zu Ende zu führen. Er fühlt sich fürchterlich, hält sich aber diszipliniert aufrecht und bricht nicht ab. Berlinguer hat auf offener Bühne eine Gehirnblutung erlitten, erfüllt seine Aufgabe aber dennoch bis zum Ende. Als er fertig gesprochen hat, wird der gerade einmal 62jährige von der Bühne geführt, bricht zusammen und fällt ins Koma. Zu seinem Begräbnis kommen 1,5 Millionen Menschen. Die größte Trauerprozession in der italienischen Geschichte.

Enrico Berlinguer war die Verkörperung eines westlichen, demokratischen Kommunismus, quasi der „Erfinder“ des Eurokommunismus. Amerikanische Kalte Krieger und Strippenzieher in Washington trachteten ihm nach dem Leben, die linksradikalen Terroristen der Roten Brigaden ebenso, und Leonid Breschnew und seine Kreml-Despoten auch. In Bulgarien überlebte Berlinguer einen Autounfall, der mit hoher Wahrscheinlichkeit vom KGB eingefädelt war.

Er war allen Feinden der Freiheit ein Dorn im Auge.

Ist Ihnen freie Publizistik etwas wert? Ist Ihnen dieser Text etwas wert? Robert Misik, IBAN    AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW

Mit Chiara Valentinis Buch „Der eigenartige Genosse Enrico Berliguer“ liegt nun eine große Biografie dieses „Kommunisten und Demokraten im Nachkriegseuropa“ vor. Sie ist auch zugleich ein packendes Lesebuch zur italienischen und europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Geboren wird Berlinguer in eine großbürgerliche, traditionsreiche Familie in Sardinien, was übrigens zu dem grotesken Umstand führt, dass der junge Revolutionär nach einer Verhaftung in der „Berlinguer-Kaserne“ einsitzt – benannt nach einem Vorfahren. Enrico Berlinguer, gerade einmal 22 Jahre alt, wird Anführer der Kommunisten in Sardinien, steigt in der Partei auf, geht nach Rom, wird Spitzenmann der italienischen Jungkommunisten und Vertrauter der KP- und Komintern-Legende Palmiro Togliatti, des sagenumwobenen „Genossen Ercoli“. Und über all dem schwebt irgendwie auch das Vermächtnis des großen italienischen Kommunisten und linken Märtyrers Antonio Gramsci.

Die Italo-Kommunisten sind ein Sonderfall in Europa. Anders als in den meisten westeuropäischen Ländern waren nicht die Sozialdemokraten die führende Partei der Linken, sondern die Kommunisten. Togliatti bemühte sich, die Partei zur Volkspartei zu machen. Die KPI war eine tief im Volk verankerte Partei der einfachen Leute. Mental ging man früh eigene Wege, und mit dem Tod Stalins und der Entstalinisierung wurde auch explizit und ideologisch eine eigene Spur gewählt. Berlinguer war es, der im Kreml die Breschnew-Leute auf offener Bühne herausforderte – etwa nach der Niederschlagung des Prager Frühlings – und sozialistische Demokratie, kulturelle Freiheit und Pluralismus einforderte. 1972 wird ihm ein junger Sowjet-Funktionär namens Michail Gorbatschow einen Besuch abstatten und bekunden, dass ihm der Mut, den Berlinguer in Moskau zeigte, sehr beeindruckt habe.

Zum Parteichef avanciert, möchte Berlinguer die KPI zur respektierten Kraft der demokratischen Linken machen, vor der niemand Angst haben müsse, und auch einen Ausgleich mit der Christdemokratie herstellen. Zielstrebig verfolgt er diesen Weg, es gelingt ihm viel, er feiert glänzende Wahlerfolge – und scheitert doch am Ende immer. Er schafft den Einzug in die Regierung nicht und die KPI bleibt auch nicht lange ein Modell für demokratischen Kommunismus, Bescheidenheit und utopische Entschlossenheit. Seine Überlegungen zu einem Sozialismus, der auf Ressourcen achtet, Verschwendung entsagt, Energie verantwortlich einsetzt und die Umwelt schont, waren zu seiner Zeit regelrecht visionär. Er war ein glänzender Reformer, dem aber doch jene Triumphe versagt blieben, die Generationsgenossen wie Willy Brandt, Olof Palme oder Bruno Kreisky feiern konnten.

Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist und Demokrat im Nachkriegseuropa. Aus dem Italienischen von Klaus Pumberger, Cristina Dondi und Andrea Bertazzoni. Dietz-Verlag, Bonn, 2022. 480 Seiten. 32,90 Euro.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.