Du sollst (nicht) lügen!

Nach der Wahrheit: Lars Svendsen hat eine schlaue und geistreiche „Philosophie der Lüge“ geschrieben.

Die meisten Menschen sind die meiste Zeit weitgehend ehrlich, dennoch kommt kaum jemand ohne kleinere Lüge durch den Tag. Extrovertierte Menschen lügen mehr als introvertierte, und nicht nur, weil sie sowieso häufiger Aussagen treffen. Männer und Frauen lügen in etwa gleich oft, jedoch lügen Frauen häufiger, um Gefühle anderer zu schonen und Männer mehr, um die eigene Vortrefflichkeit hervorzuheben. Die allermeisten Leute haben bei solchen Lügen ein schlechtes Gefühl – das Gewissen rührt sich –, finden aber immer gute Gründe, um die Lügen zu rechtfertigen. Womit wir schon bei schwierigen ethischen Abwägungsfragen wären und somit mittendrin in Lars Svendsens „Philosophie der Lüge“. Der norwegische Philosoph schließt damit an kluge Abhandlungen der vergangenen Jahre an, so hat er beispielsweise auch schon eine „Philosophie der Einsamkeit“ und eine „Philosophie der Langeweile“ vorgelegt.

„Fast jeder ist der Meinung, dass es prinzipiell falsch ist zu lügen“, bemerkt Svendsen. Selbst jene, die die Lüge für rechtfertigbar halten. Man baucht keine Begründung, um die Wahrheit zu sagen, jedoch einen Grund, um zu lügen. Was die privaten Seiten des Lebens betrifft: Ganz ohne Lügen kommt man ohnehin nicht durchs Leben und absolute Ehrlichkeit gilt sogar als verpönt. Jemand, der in jeder Gesellschaft stets die absolute Wahrhaftigkeit pflegt, wird wohl bald zu keiner Zusammenkunft mehr eingeladen. Sogar Selbstbetrug und Gigantomanie kann nützlich sein, da sie Menschen dazu bringen, Dinge zu versuchen, die sie bei realistischem Selbstbild niemals wagen würden. Und auch die Flunkerei wird durchaus gerechtfertigt, wenn sie dazu dient, andere vor etwaigen seelischen Verwundungen zu bewahren oder Gruppen von Menschen (oder eine ganze Gesellschaft) vor negativen Entwicklungen. Von Kant bis John Stuart Mill wurde aber auch der Einwand vorgebracht, dass der Preis der Lüge stets ihren kurzfristigen Nutzen übersteigt, da die Unehrlichkeit das Misstrauen sät, nicht nur eine Person etabliert, die einmal lügt, sondern die in einem existenziellen Sinne „ein Lügner“ ist. Die Lüge kann überhaupt nur existieren, weil die Menschen sich im Allgemeinen vertrauen, gerade dieses Vertrauen wird aber durch die Lüge verraten und zerstört.

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Bei der politischen Lüge liegen die Dinge nicht viel anders, aber dann doch auch krasser: Kaum ein Politiker oder eine Politikerin wird ohne Lüge durch die Laufbahn kommen – und wer es versucht, wird wohl keine große Karriere machen, was dann auch wiederum die Konsequenz hat, dass die Ehrlichen mit den guten Absichten scheitern und der ruchlose Lügner reüssiert. Oft ist Lüge sowieso die einzige Option: Wenn ein Premierminister ehrlich sagt, es bestehe die Gefahr des Zusammenbruchs des Finanzsystems, wird er einen Bankrun auslösen, der gerade diesen Zusammenbruch herbeiführen wird. Also muss er nachgerade lügen. „Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung ‚guter‘ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche (…) Mittel (…) in Kauf nimmt“ (Max Weber). Lebte die klassische politische Lüge davon, faktenwidrig die Wirklichkeit zu verdrehen, ist die moderne Lüge einen Schritt weiter. Sie behauptet völlig Faktenwidriges, und die Politiker des „post-truthiness“ von Trump bis Kurz bis Kickl bis Putin wollen gar nicht mehr den Eindruck des Wahrhaftigen erwecken, sondern die Vorstellung von Wirklichkeit selbst zerstören. Jeder Unfug kann gesagt werden, wenn einmal der Respekt vor der Wahrheit und der Realität zerstört ist.

Lars Svendsen: Philosophie der Lüge. Aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach. S. Marix Verlag, Wiesbaden 2022. 223 Seiten, 20,60.- Euro

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