Plädoyer für den Kompromiss

Miteinander trotz Dissens: Die Philosophin Véronique Zanetti und ihre „Spielarten des Kompromisses“.

Der Kompromiss hat einen schlechten Ruf. Der Kompromiss würde alles verwässern, von guten Ideen bleiben in „lauen Kompromissen“ nichts als ein paar Fußnoten übrig, so die Klage. Kompromisse sorgen für Schneckentempo, wo es eigentlich schnell voran gehen müsste. Noch schlimmer sind die „faulen Kompromisse“, bei denen alle Seiten ihre Werte aufgeben, nur um einen kleinen, nichtssagenden Vorteil zu ergattern. Menschen gehen sogar Kompromisse mit sich selbst ein: Sie haben vielleicht bestimmte Werte, es ist aber unbequem, diese „kompromisslos“ zu verfolgen. Und dann tun sie Dinge, die mit ihren Werten nicht leicht in Übereinstimmung zu bringen sind. „Wenn es um Kompromisse geht, taucht das Wort ‚faul‘ fast schon reflexartig auf“, formulierte vor einigen Jahren die „Süddeutsche Zeitung“.

Kompromisse lassen sich leicht anklagen. Beispiel: Wenn die Grünen mit einer weit nach rechts abgebogenen ÖVP eine Regierung bilden – und dann auch bei schwerem Wetter am Regierungspakt festhalten. Oder: Soll man mit einem bewaffneten Gewaltherrscher wie Wladimir Putin noch verhandeln und einen Kompromiss suchen, um vielleicht „noch Schlimmeres“ zu verhindern – oder muss bei einem Regime, das so sehr das Böse verkörpert, einfach entschlossen dagegengehalten werden?

Diesen und ähnlichen Fragen stellt sich die Bielefelder Philosophieprofessorin Véronique Zanetti in ihrem Buch „Spielarten des Kompromisses“. Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen: der Kompromiss und die Frage, wie labile Einigungen entstehen, seien in der Philosophie bisher weitgehend ignoriert worden.

Zanettis Buch kulminiert in ein „Plädoyer für den Kompromiss“. Dabei macht es sich die Autorin keineswegs leicht. Sie weiß, dass „große soziale Veränderungen“ meist von jenen Menschen vorangetrieben wurden, „die sich kompromisslos für eine Sache eingesetzt haben“.

Aber zugleich sind diese Veränderungen in Kompromissen verwirklicht worden. Mehr noch: Der Kompromiss ist selbst eine Tugend: er lebt von der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Vom Respekt füreinander. Und auch von der Anerkennung des Vorrangs einer friedlichen Lösung.

Echte Kompromisse werden, so formuliert die Autorin, freiwillig geschlossen, in der Einsicht aller Akteure, dass die Vorteile die Nachteile aller anderen Möglichkeiten überwiegen.

Kompromisse, die unter Gewaltdrohung geschlossen werden – in die sich die schwächere oder die friedlichere Seite durch Drohung und Erpressung fügt – sind keine echten Kompromisse. Kompromisse über Sachfragen sind einfacher als Kompromisse in Wertefragen.

Wirkliche „faule Kompromisse“ sind die, die ein inakzeptables moralisches Übel akzeptieren. Auch die soll man nicht per se ausschließen: So verhandelten die Alliierten während des Holocaust mit Adolf Eichmann, der die Rettung von einigen zehntausend ungarischen Juden im Austausch gegen die Lieferung ziviler LKWs vorschlug. Bis wohin kann so ein Pakt mit dem Teufel noch gerechtfertigt werden?

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Im Binnenleben pluralistischer Demokratien, in dem auch die Mehrheit der jeweiligen Minderheit nicht diktieren kann und soll, ist die Kompromissfindung im parlamentarischen Verfahren institutionell verankert – und von der Idee getragen, dass der Kompromiss durch die Abstimmung unterschiedlicher Gesichtspunkte besser sein werde als die ursprünglichen kontroversen Vorschläge der Parteien. Oft ist das in der Praxis der Fall, oft auch nicht.

Der Kompromiss hat eine Ehrenrettung verdient. Zanettis Buch dekliniert die Formen, Umstände und Dilemmata beim Kompromisse-finden durch, ist aber zugleich eine große Lobpreisung des Kompromisses.

Véronique Zanetti: Spielarten des Kompromisses. Suhrkamp-Verlag, 2022. 287 Seiten. 22,70.- Euro.

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