Wird das Wohnen unleistbar?

Erst Goldgräberstimmung, jetzt Inflation: Die Wohnkosten wachsen vielen Menschen über den Kopf. Massive Investitionen in gemeinnützigen und sozialen Wohnbau sind jetzt ein Gebot der Stunde.

Arbeit & Wirtschaft, November 2023

Martin Orner hat es nicht weit von seinem neuen Büro im eben eröffneten Volkshilfe-Standort Sonnwendviertel zur „Mann“-Konditorei im Helmut-Zilk-Park in Favoriten. Bei der „Volkshilfe“ ist Orner heute für alle Immobilienfragen zuständig, von den eigenen Standorten bis zur Beschaffung von Notquartieren für Bedürftige. Früher war er einer der Geschäftsführer der EBG-Wohnbaugenossenschaft. Im Zilk-Park sprießen wilde Blumen, ein paar Schritte weiter jäten, gießen und pflanzen Anrainer im Urban-Gardening-Feld, Kids legen atemberaubende Balanceakte am „Motorik-Spielplatz“ hin. Ein ganzes neues Stadtviertel ist auf den ehemaligen ÖBB-Gründen entstanden.

Das „Sonnwendviertel Ost“, das bis hinüber Richtung Arsenal reicht, ist in den letzten Monaten endgültig fertig geworden. Hier stehen „Quartiershäuser“ mit variantenreichen Stilsprachen. Das etwas ältere „Sonnwendviertel West“ auf der anderen Seite des Parks besteht vor allem aus größeren Wohnblöcken, mit begrünten Innenhöfen, angelehnt an den architektonischen Spirit des Gemeindebaus des Roten Wiens, Ruheoasen nach Innen, Spielplätze, Gemeinschaftsräume. Ein Großteil davon gemeinnützige Genossenschaftsbauten, davon einige preisgekrönt und Magnet für Architekten-Reisegruppen aus aller Welt wie etwa das von der EBG miterrichtete „Wohnzimmer Wien“ mit seinen unterschiedlichen Formensprachen und spektakulären Übergängen zwischen den einzelnen Wohnquadern.

„Natürlich ist das österreichische System, und besonders in Wien, immer noch ein Paradies im internationalen Vergleich“, sagt Orner. „Das System des kommunalen und gemeinnützigen Wohnbaus und der Wohnbauförderung ist gut, weil es lange ungestört gewachsen ist.“

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Aber es ist durchlöchert worden. Es litt zudem an der Goldgräbermentalität der vergangenen zehn Jahre, die Investoren in „Betongold“ lockte und damit beispielsweise Bodenpreise, aber auch Baukosten explodieren ließ. Neoliberale Reformen im Mietrecht haben die Mieten im Altbau, noch mehr aber freifinanzierten Neubau nach oben getrieben. Der Wildwuchs der befristeten Mietverträge hat junge Familien zu Spielbällen der Märkte gemacht. Und jetzt, mit Inflation, Baukostenexplosion, Zinsanstiegen für die Finanzierung haben auch die Gemeinnützigen ein Problem, kostendeckend zu bauen. „Es steht still. Kaum jemand kann im Augenblick neue Projekte stemmen“, sagt Orner.

Linke sehen die Sache ja grundsätzlich meist so: Wohnen ist ein Menschenrecht. Quartiere sollen keine Beute von Investoren sein. Der Wohnungsmarkt soll möglichst vom Irrwitz von Boom und Spekulation geschützt sein. Deswegen ist man leidenschaftlich für den sozialen Wohnbau. Und, beispielsweise, stolz auf die Errungenschaften des Wiener Gemeindebaus, der vor hundert Jahren Denkmäler der Baukultur schuf, die bis heute bewundert werden. Über diese grundsätzliche Haltung hinaus beschäftigen sich die allermeisten mit dem Thema nicht genau. Aber bei den „Gefühlsreflexen“, wie das der linke Philosoph und Sozialwissenschaftler Karl Czasny nennt, dürfe es nicht bleiben. Denn der Teufel liegt im Detail, oder besser: Ob etwas gut oder schlecht funktioniert, hängt vom Zusammenspiel vieler sehr konkreter Regeln ab.

Wien etwa hat 220.000 Gemeindewohungen. Rund noch einmal so viele sind im gemeinnützigen Wohnbau. Beinahe 80 Prozent der Stadtbewohner leben zur Miete, entweder in Gemeindebauten, im gemeinnützigen oder geförderten Wohnbau oder in privaten, gewerblichen Mietwohnungen. In ganz Österreich verwaltet der gemeinnützige Sektor (vor allem Genossenschaften) 970.000 Wohnungen, davon sind 640.000 eigene Mietwohnungen.

Das an sich gute System, das regelmäßig begeisterte Titelseiten in der Weltpresse findet, beruht im Wesentlichen auf zwei Standbeinen: Dem System der öffentlichen „Wohnbauförderung“ und dem „Gemeinnützigkeitsgesetz“.

Der Schlüssel zum Erfolg ist das System der österreichischen Wohnbauförderung. Es ist komplex, teilweise durchlöchert, heute weitgehend auch in der Regie der Bundesländer mit sehr unterschiedlichen Regularien. 0,5 Prozent von der Lohnsumme zahlen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite als Lohnnebenkosten ein. Dieser Betrag – plus Rückflüsse früherer Darlehen – finanziert den geförderten Wohnbau. Aber: Systemische Änderungen haben dazu geführt, dass heute viel weniger Mittel zur Verfügung stehen als noch in den neunziger Jahren. Damals wurden 3,2 Milliarden Euro an Wohnbauförderung ausgegeben, das waren 1,4 Prozent des BIP. Heute sind es nur mehr 1,9 Milliarden, was nur mehr 0,4 Prozent des deutlich gewachsenen BIP entspricht. Hauptgrund: Die Rückflüsse der Darlehen benützen die Länder für andere Dinge, und die Wohnbau-Mittel selbst sind nicht einmal zweckgebunden. Das beeinträchtigt „die finanzielle Basis und Zukunftstauglichkeit der Wohnbauförderung erheblich“ (so Wohnbau-Experte Wolfgang Amann).

Aus diesen Mitteln kann sich im Grunde jeder bedienen: Auch der gewerbliche Wohnbau (dann bleiben die Mieten nur für einen bestimmten Zeitraum begrenzt), oder auch Familien, die sich ein Eigenheim errichten.

Schon das ist fragwürdig und heikel. In einer „Häuselbauer“-Kultur wagt das ja kaum jemand zu sagen, aber: Die Wohnbauförderung an Privathaushalte führt zu Zersiedelung und Bodenversiegelung. In Zeiten der Klimakrise und der Bodenknappheit nicht unbedingt die beste Sache.

Die gemeinnützigen Wohnbauträger sind in diesem System nicht sonderlich privilegiert. Sie haben kleine steuerliche Vorteile. Dennoch ist das Gemeinnützigkeitsgesetz ein Best-Practice-Beispiel: Gemeinnützige Wohnbaugesellschaften dürfen nur minimal Gewinne an Anteilhalter ausschütten, sie haben eine „Reinvestitionspflicht“ für alle Überschüsse, aber auch ein gesetzliches „Verlustverbot“, sodass immer leicht über der Kostendeckungsgrenze gebaut bzw. vermieten werden muss. „All diese verschiedenen Parameter haben sehr starke positive Lenkungseffekte“, so Wolfgang Amann.

Simpel gesagt: Durch die Wohnbauförderung ist Geld da, durch das Gemeinnützigkeitsgesetz wird es verwendet, ohne dass Investoren Profite machen, und durch die Reinvestitionspflicht bauen Gemeinnützige auch in der Krise, wenn die Bauwirtschaft abschmiert. So ist dieses System praktisch eine Konjunkturlokomotive.

„Wir sind zwischen Markt und Nicht-Markt“, sagt Michael Gehbauer, der Geschäftsführer der WBV, der Wohnbauvereinigung der GPA. Die Gemeinnützigen können Studien zufolge rund 25 Prozent unter Marktpreisen anbieten, und haben damit auch eine preisdämpfende Wirkung auf den gesamten Markt.

Dennoch ist längst nicht alles rosig und die Dinge haben sich in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert. Gabu Heindl, die Architektin und Städtebau-Theoretikerin, fordert in einer großen Studie („Gerechte Stadt muss sein“) für die Arbeiterkammer einen unbedingt „Vorrang der Gemeinnützigkeit“ und die Orientierung des gesamten Systems auf soziale und ökologische Ziele. In den vergangenen Jahren etwa haben „explodierende Bodenpreise“ für private Investoren ein Spekulations-Paradies geschaffen, und zugleich für den sozialen Wohnbau die Kosten nach oben getrieben.

Der Philosoph, Stadtforscher und Stadtplanungs-Experte Karl Czasny sieht das einst so vorbildliche Modell mittlerweile weitgehend zerstört. „Wie unsere Wohnungen unleistbar wurden“, hat er ein Analyse-Paper überschrieben, das eine regelrechte Anklageschrift ist. Noch vor dem gegenwärtigen Inflationsschub haben normale Familien schon bis zu 40 Prozent ihres Einkommens für Wohnen ausgegeben. Subventionsmittel fließen immer mehr in den privaten Markt, in diesem wurden die Mietpreisbindungen gelockert oder abgeschafft, die Zweckbindung der Wohnbauförderung ist Vergangenheit, die Rückflüsse aus den Darlehen wurden am Finanzmarkt durch die Länder versilbert, um kurzfristig die Budgets zu entlasten, gemeinnützige Wohnungen im großen Stil (Buwog!) wurden privatisiert, oder langsam an Mieter verkauft. Diese Entfesselung der Märkte führte zu dem Immobilienboom, der dann wieder die Bodenpreise explodieren ließ und das Bauen für die Gemeinnützigen ebenfalls verteuerte. 30 Jahre verschiedener neoliberaler Anschläge, deren Resultate dann wieder aufeinander einwirkten, haben das Wohnen unleistbar gemacht, so Czasny.

Und dazu hat man noch einen irren Automatismus eingeführt, nämlich: In großen Teilen des Marktes sind die Mieten indexiert, steigen also automatisch mit der Inflation, was nicht nur wohnen immer teurer macht, sondern sogar wie eine absurde Preisspirale wirkt: Man erhöht die Mieten entlang der Inflationsrate, womit aber auch die Inflationsrate hoch bleibt, und in der nächsten Runde wiederum zu Mieterhöhungen führt. Ein Perpetuum Mobile, das zu immer mehr Umverteilung von Mieter zu Immobilienkapitalisten führt. All das hat noch einmal negative Folgewirkungen, etwa auf die Konjunktur und die Inlandsnachfrage, da wegen der steigenden Ausgaben fürs Wohnen ein „wachsender Teil der Kaufkraft der österreichischen Haushalte verloren geht“. Jeder einzelne der Faktoren, die hier wirkten, mag für sich genommen nur eine kleinere Veränderung bewirkt haben, in Summe ist es fatal, so Czasny: Wir gleichen schon „dem legendären Frosch im Topf, dessen Wasser ganz langsam erhitzt wird: Er merkt die in kleinen Schritten erfolgende Veränderung nicht und bleibt so lange gemütlich im Wasser sitzen, bis er praktisch bei lebendigem Leibe gekocht wird.“

Mit der Russland-Invasion in der Ukraine, der Wirtschaftskrise, der Baukostenkrise, mit Inflation und Zinsanstieg und restriktiven Kreditbedingungen der Banken hat sich am Immobiliensektor im vergangenen Jahr praktisch alles verändert. In den Jahren zuvor waren die Bodenpreise explodiert und es hatte sich im Konzernwohnbau eine Glücksritterstimmung ausgebreitet. „Absolut irre“, sei das gewesen, sagt Thomas Ritt, der Wohnbauexperte der Wiener Arbeiterkammer. Gemeinnützige haben praktisch keine Grundstücke zu annähernd realistischen Preisen mehr bekommen. Zwischen 2018 und 2021 sind in Wien 58.000 neue Wohnungen entstanden. In dieser Zeit gab es aber nur ein Bevölkerungsplus von 43.000 Einwohnern. Nur mehr ein Drittel sei auf den geförderten oder gemeinnützigen Wohnbau entfallen. Der Rest war reiner kommerzieller Wohnungsmarkt. Ritt: „Früher war das Verhältnis umgekehrt.“ Doch jetzt ist der gewerbliche Wohnbau praktisch zusammengebrochen. Möglich, dass demnächst die Bodenpreise sinken und irgendwann auch die Baukosten. Jetzt müssten wieder verstärkt Mittel in den gemeinnützigen Wohnbau gelenkt werden, auch, damit nicht die gesamte Bauwirtschaft kollabiert. „Eine denkbare Möglichkeit als Sofortmaßnahme wäre: Der Bund führt Zweckzuschüsse zur Wohnbauförderung ein, dafür müssen die Länder aber auch alle Fördermittel und die zusätzlichen Zuschüsse zu hundert Prozent in den geförderten Wohnbau investieren.“

Das ist nicht nur wichtig, um die Konjunktur zu stützen – sondern auch, damit in den nächsten Jahren leistbarer Wohnbau entsteht. Denn sonst haben wir demnächst einen bitteren Wohnungsmangel.

Michael Gehbauer, der WBV-Geschäftsführer, sieht das ähnlich: „Das ist ein Gebot der Stunde.“ Ohne zusätzliche Mittel können Gemeinnützige kaum mehr kostendeckend bauen, ergo: nicht mehr gesetzeskonform. Dann können faktisch keine neuen Projekte mehr angegangen werden. Gehbauer: „Es braucht eine Wohnbaumilliarde, um zusätzliche dringend benötigte geförderte Mietwohnungen errichten zu können.“

Am Immobilienmarkt breitet sich an allen Ecken schon Panik aus. „Baustopp“, „Pleitewelle“, titelte unlängst das Magazin „Trend“. Gabu Heindl, Bauwirtschafts-Professorin an der Universität Kassel, sieht aber auch eine „Chance, die man jetzt nützen sollte“. Der private Immobilienmarkt hat zu viel Betongold, unleistbare Wohnungen und vor allem Eigentumswohnungen für Spekulanten geschaffen. „Dieser Markt bricht jetzt zusammen, und das ist genau der Moment, in dem man die Gemeinnützigkeit braucht.“

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