Ein Kurswechsel für Europa

Alles in allem überwiegt bei diesen Europawahlen das Positive – sowohl was den Wahlkampf und das Ergebnis als auch die Ereignisse danach betrifft. Phönix, Juli 2014
Gleich zum Positiven: Diese Europawahlen waren die spannendsten in der Geschichte des Europaparlamentes. Erstmals ging es nicht nur um die simple, unreife Dichotomie „bist Du für Europa oder dagegen?“, und auch nicht nur um nationale Fragen wie „Für SPÖ? Oder für ÖVP? Dagegen, wegen der Hypo? Oder für die Grünen? Oder dafür, den Etablierten einen Denkzettel zu verpassen?“. 
Zumindest in einem gewissen Teil des Elektorats wurden tatsächlich Fragen europapolitischer Relevanz verhandelt: Wie soll es voran gehen in der Europapolitik? Weiter mit dem Austerity-Kurs oder nicht? Wie ist das mit dem Demokratiedefizit der europäischen Institutionen? Soll die EU-Kommission so etwas wie eine veritable europäische Regierung werden? Der Umstand, dass die großen Parteienfamilien mit eigenen Spitzenkandidaten ins Rennen gingen – und alle mit mehr als nur ansehnlichen Protagonisten -, gab dem Wahlkampf einen erheblichen Schwung. 
Wie sehr diese europapolitisch „reifere Debatte“ bei den Bürgerinnen und Bürgern angekommen ist, darüber kann man natürlich nur mutmaßen. Aber Hinweise gibt es: Immerhin haben in Deutschland rund achtzig Prozent aller befragten Bürger zu Protokoll gegeben, die beiden Spitzenkandidaten der großen Blöcke – also Jean-Claude Juncker von der Europäischen Volkspartei und Martin Schulz von den Sozialdemokraten – zu kennen; bloß einer von fünf Deutschen kannte mindestens einen der beiden nicht. Das sind Zahlen, die jedenfalls nicht von totaler Ignoranz der Bürger zeugen. Selbst wenn die Werte für Österreich etwas schlechter liegen sollten, ist das doch ein Hinweis auf eine gewisse Aufmerksamkeit für die europäische Ebene bei diesen Wahlen. 
Auch das komplexe Institutionengefüge wurde von mehr Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen als üblich. Dass es „die EU“ nicht gibt, sondern primär Institutionen wie den Europäischen Rat, die Kommission und das Parlament und alle drei unterschiedliche Aufgaben haben – ja, mehr noch, von einem unterschiedlichen „Geist“ durchweht werden -, wurde den einigermaßen Interessierten sehr viel deutlicher. Dass sich das Parlament als Vertretung der europäischen Bürger und Bürgerinnen und als Agent von mehr supranationaler Demokratie gegenüber Kommission und Rat sieht, wurde erkennbar. 

Das spiegelt sich letztendlich auch in den Wahlergebnissen wider. Gemessen am Grad des Frustes über die Politik in EU-Europa in den vergangenen sechs Jahren; gemessen an der fatal falschen Politik, die im Zuge von Bankenrettung und Euro-Stabilisierung gemacht wurde; gemessen an den giftigen Ressentiments, die die Art der Finanzmarktrettung geschürt hat („fleißige Deutsche“, „deutsches Diktat“, „faule Südländer“, „solide gegen unsolide Länder“…); gemessen an all dem, hätte man vor ein paar Monaten noch viel schlimmere Wahlausgänge erwarten können. Der Sieg des Front National in Frankreich und der rechten UKIP-Partei in Großbritannien sind gewiss Alarmzeichen – nur, es hätte noch sehr viel schlimmer kommen können. Die im weitesten Sinne proeuropäischen Fraktionen – Sozialdemokraten, Christdemokraten, Grüne, Liberale und Linke – stellen mehr als zwei Drittel der EP-Abgeordneten. In Österreich selbst haben fundamental EU-kritische Parteien diesmal einen deutlich geringeren Anteil als vor fünf Jahren. Und, ja, die FPÖ hat dazugewonnen, aber deutlich weniger als die proeuropäischen Grünen und Neos zusammen. Das heißt, wer eine andere EU-Politik haben will, hat in stärkerem Maße Parteien gewählt, die für einen Kurswechsel in der Europapolitik stehen, aber nicht für einen Kurswechsel gegen die europäische Integration. 
All das ist keine Kleinigkeit und wird angesichts der üblichen Jeremiaden über Wahlergebnisse gerne übersehen. Dass das möglich war, ist auch Folge eines leisen Stimmungswandels, der aus der Nominierung von eigenen, gesamteuropäischen Spitzenkandidaten für die EP-Wahl folgte. Das war eine kleine demokratische Revolution. Genauer gesagt: Ihr erster Akt. 
Der zweite Akt folgte unmittelbar nach der Wahl, indem sich die Präsidiale des EU-Parlaments – namentlich Christdemokraten, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale – sofort hinter den Wahlsieger Jean-Claude Juncker stellte. Man muss das in all seiner Paradoxie verstehen, ist das doch Resultat des unfertigen Institutionengefüges der Union. Die politisch rivalisierenden Fraktionen werden als Europaparlamentarier zu Verbündeten, weil sie ein gemeinsames Anliegen gegenüber Kommission und Rat verbindet: das Anliegen, EU-Europa mehr in Richtung supranationaler Demokratie zu entwickeln. In einer solchen kleinen demokratischen Revolution wird das Parlament selbst zu einem Akteur, eben beispielsweise gegenüber den Rat, der sich gerne die Dinge weiter hinter verschlossenen Türen und ohne größere demokratische Kontrolle ausmachen würde wollen. Man darf ja übrigens auch nicht vergessen, dass, trotz der formalen Stärkung des Parlaments durch den Lissabon-Vertrag, die EU-Institutionen in den vergangenen Jahren faktisch noch undemokratischer geworden sind, weil viele der Notmaßnahmen zur Krisenbewältigung (vom ESM-Vertrag über den Fiskalpakt bis zur Etablierung der Troika), sowohl jenseits der Nationalstaaten als auch jenseits der europäischen Ebene als reine multinationale Abmachungen der beteiligten Regierungen organisiert wurden, was sowohl die demokratische Kontrolle durch die nationalen als auch durch das EU-Parlament einschränkt – oder besser gesagt fast vollends verhindert. 
Wir stecken gerade mitten drinnen in diesem veritablen Machtkampf und wie er am Ende ausgehen wird, ist noch nicht abzusehen, während ich diese Zeilen schreibe. Er ist in keinem Fall ungefährlich: Nominieren die Regierungschefs Juncker nicht, ist das ein Affront gegenüber dem Parlament und würde als Wahlbetrug angesehen. Beugen sie sich dem neuen Machtanspruch des Parlamentes, werden das einige Regierungen ihrerseits als Anmaßung und als Vertragsbruch durch das Parlament ansehen (jener Verträge, die dem Rat das Nominierungsrecht des Kommissionspräsidenten einräumen, und nicht die bloße faktische Pflicht, einen Wahlsieger diskussionslos zu bestellen). Die Situation ist also so und so heikel. 
Neben dieser demokratiepolitischen Aganda, die über die Legitimität der europäischen Institutionen entscheiden wird, gibt es natürlich noch und vor allem die eigentliche politische Agenda. In den vergangenen Jahren wurde in Europa extrem vieles falsch gemacht: Die Steuerzahler haben die Schulden der Finanzinstitutionen zu hundert Prozent übernommen und garantiert. Ein flächendeckender Austeritätskurs hat das Wachstum in der gesamten Eurozone lahmgelegt und in den Krisenländern zu sozialen Katastrophen geführt. Vieles, was an Krisenpolitik gemacht wurde, kam, wenn es schon nicht in die falsche Richtung ging, viel zu spät und war viel zu halbherzig. Viele europäische Banken sind immer noch Zombies, die notdürftig am Leben gehalten wurden, aber ihrer Aufgabe, Kredite an Unternehmen zu vergeben, nicht nachkommen können. Die Liste ließe sich fortsetzen. 
Wird es einen Kurswechsel weg von dieser Politik geben? Sowohl die Wahlverluste für die Konservativen und das relative Aufholen der Sozialdemokraten (allen voran in Italien), als auch das Erstarken der Linken (allen voran in Griechenland) und zudem die Gewinne der Rechten und Populisten haben den Merkelschen „Elitemodus“ (Jürgen Habermas) delegitimiert. Ein künftiger Kommissionspräsident wird wohl auch mehr denn je als Chef einer „Koalitionsregierung“ agieren, die im Europaparlament Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne umfassen wird, und weniger als Marionette der Regierungschefs. Die stramm neoliberale und konservative Kommission aus Barroso, Barnier, Rehn & Co. wird ersetzt, die nächste wird höchstwahrscheinlich deutlich in die politische Mitte rücken, man könnte sogar sagen: In Richtung Mitte-Links/Linksliberal. 
Natürlich wird das, den europäischen Usancen entsprechend, eher eine Kurskorrektur in homöopathischen Dosen werden. 
Man kann das so und so beurteilen, wie das immer der Fall ist; man kann sagen: Das Glas ist halb leer. Oder man kann sagen: Das Glas ist halb voll. 
Immerhin: Es sieht wenigstens so aus, als ginge es nicht mehr automatisch in die falsche Richtung. 
Und das ist ja immerhin schon etwas. 
Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image for Thumbnail image

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.