„Lenin war ein kranker Paranoiker“

Alexander Jakowlew, einstiger Gorbatschow-Mitstreiter, kritisiert Wladimir Putins autoritären Kurs und rechnet mit dem Bolschewismus ab wie kein anderer höchster Ex-KPdSU-Funktionär vor ihm. Robert Misik. Falter, taz, November 2004

 

 

Alexander Jakowlew, 81, machte als Sohn armer Bauern eine steile Karriere in der KPdSU. Doch bereits 1972 fiel er, damals Chef der Propagandaabteilung der Partei, in Ungnade. Weil er den russischen Chauvinismus und Antisemitismus anprangerte, wurde er auf den unbedeutenden Botschafterposten in Kanada abgeschoben. Später war er der intellektuelle Vordenker von Glasnost und Perestroika und stieg zum mächtigen Politbüromitglied auf. Man hat ihn auch "Gorbatschows Gehirn" genannt. In einem gerade erschienen, bewegenden Buch rechnet er nun mit der gesamten Geschichte des Bolschewismus ab: Hätten die antibolschewistischen Armeen nach der Oktoberrevolution den Bürgerkrieg gewonnen, wäre das für Russland ein Segen gewesen.

 

Herr Jakowlew, Sie haben in der KPdSU eine steile Karriere gemacht. Wann hat sich bei Ihnen die Überzeugung herausgebildet, dass Russland auf dem falschen Weg ist?

 

Jakowlew: Sie werden es mir nicht glauben: Ich weiß es nicht. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen. Es war eine Entwicklung, die schon im Krieg begann. Ich war damals 18 Jahre alt. Junge Burschen wurde an der Front wegen Nichts erschossen oder weil jemand irgendetwas Nachteiliges über sie gesagt hat. Ganze Dörfer wurden niedergemacht. Da hörte ich erste, kleine Glöckchen des Zweifels erklingen.

 

Die haben sich dann verstärkt?

 

Jakowlew: Ein Einschnitt war der XX. Parteitag der KPdSU. Nikita Chrustschow hat das Denkmal Stalin zertrümmert. Ich war erschüttert, zu hören, dass Stalin nicht der große Vater unseres Volkes war, sondern ein Mörder. Das war ein Schock. Ich habe den ZK-Apparat daraufhin verlassen und bin an die Akademie der Wissenschaften gegangen, haben mich erstmals ernsthaft mit dem Marxismus beschäftigt. Ich habe Marx und Engels und Lenin gelesen, aber auch Kant und sozialdemokratische Kommunismuskritiker wie Eduard Bernstein. Der Marxismus erschien mir zunehmend irreal, dass Gewalt und Revolutionen die "Lokomotive der Geschichte" sein sollten, hat mich abgeschreckt.

 

Gab es einen Schlüsselmoment?

 

Jakowlew: Nein. Aber irgendwann dämmerte mir, dass ich nie eigene Meinungen hatte – nur die Meinungen von Marx, die Meinungen Lenins. Die gesamte Parteispitze hat geborgte Meinungen gewohnheitsmäßig vertreten.

 

Sie haben sich nicht bloß vom Stalinismus losgesagt?

 

Jakowlew: Lenin war ein Terrorist. Die Oktoberrevolution war eine Konterrevolution. Aber noch immer verehrt man in Russland die Henker. Noch immer gelten die "weißen Armeen", die im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gekämpft haben, als Verräter, werden Leute wie Kolschak, Kerenski, Denikin nicht angemessen gewürdigt. Die Bolschewiki haben Russland zerstört. 

 

Wenn die antibolschewistischen Armeen den Bürgerkrieg gewonnen hätten, der auf die Oktoberrevolution folgte, wäre das besser gewesen?

 

Jakowlew: Sicher. Kann ein vernünftiger Mensch daran zweifeln? Es war eine Tragödie, dass Lenin und die Bolschewiki den Bürgerkrieg gewonnen haben.

 

Nicht wenige, auch in Westeuropa, klammern sich daran, dass Lenin ein Idealist war, der allenfalls von den Umständen zu übertriebener Härte gezwungen wurde, wohingegen nur Stalin als der üble Despot gesehen wird.

 

Jakowlew: Lenin hat das Land mit Gewalt und Terror überzogen. Geiselnahmen, Massenerschießungen – das hat alles er eingeführt. Stalin hat in seiner Laufbahn einen einzigen wahren Satz gesagt: "Ich bin nur ein treuer Schüler Lenins". Damit hatte er recht.

 

Aber der Krieg wurde von beiden Seiten brutal geführt. Das muss doch noch nicht heißen, dass Lenin blutrünstig war.

 

Jakowlew: Er hat den Krieg gegen den Imperialismus gepredigt. Auf beiden Seiten sind im Bürgerkrieg rund 13 Millionen Menschen ums Leben gekommen, über 5 Millionen sind an Hunger gestorben. Lenin war nur an der Macht interessiert und an der Weltrevolution. Er war selbst ein Imperialist. Während sein Volk verhungerte, hat er die Kommunistischen Parteien im Westen finanziert – mit mehr als 800 Millionen Goldrubel zwischen 1918 und 1922.

 

Aber der Kommunismus war doch getragen von der Idee der Menschheitsbefreiung. Und während er "die Menschwerdung des Menschen" verkündete, ließ Lenin Millionen erschießen, ohne auch nur ein Gefühl für die Leiden der Menschen. Das ist doch schon noch eine besondere Diskrepanz. Wie ging das zusammen? War Lenin verrückt?

 

Jakowolew:  Ich weiß nicht, ob er wahnsinnig war, aber ein Paranoiker war er ganz sicher. Ein gesunder Mensch kann gar nicht dauernd Befehle geben, die lauteten: "Sofort aufhängen"; "sofort erschießen". Bauern, die den Schnee nicht weggeräumt haben, ließ er hinrichten. Kann ein normaler Mensch solche Beschlüsse fassen? Pol Pot, Hitler, Lenin, Stalin, das waren auch kranke Menschen. Ich war auch an der Macht, ich hatte Macht, die von niemandem mehr kontrolliert wurde. Ich weiß, wie schrecklich es ist, über das Schicksal anderer zu entscheiden. Das ist ein Gefühl, das krank macht.

 

Sind Sie da manchmal über sich selbst erschrocken?

 

Jakowlew: Oft habe ich mich gefragt: Wer hat mir diese Macht gegeben? Wenn mir die Partei eine solche Macht gibt, dann stimmt mit der Partei etwas nicht, wenn das Land mir solche Macht gibt, dann stimmt etwas mit dem Land nicht. Ich habe das Amt des Generalsekretärs abgelehnt, ich bin freiwillig aus dem Politbüro ausgetreten. Wenn ich das heute irgendeinem Staatspräsidenten oder Premierminister erzähle, dann sagt der: "So ein Idiot".

 

Im Westen gilt der Bolschewismus immer noch als Produkt der Unterentwicklung Russlands. Sie zeigen nun, dass das 20. Jahrhundert im Gegenteil vielversprechend für Russland begann. Der Analphabetismus wurde zurückgedrängt, die Wirtschaft entwickelte sich, demokratische Freiheiten setzten sich durch – bis das von den Bolschewiki zerstört wurde.

 

Jakowlew: Nachdem die Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert aufgehoben wurde, begann die industrielle Revolution. Russland war kein einfaches Agrarland mehr. Ein städtisches Bürgertum entwickelte sich, es hatte den Zeitgeist auf seiner Seite. Im Oktober 1905 wurden die politischen Freiheiten erklärt, Russland hatte eine erste Verfassung. Aber Russland hat diese Freiheit erschreckt. Es gab Korruption, Unruhe. Mit der Februarrevolution 1917 setzte sich die demokratische Freiheit durch. Aber Russland wusste mit der Freiheit wieder nichts anzufangen. Lenin nützte das aus. Russland hat seinen Putsch hingenommen und seinem Terrorregime sogar noch applaudiert. Als wir in den achtziger Jahren wieder eine demokratische Revolution begannen, waren wir mit den gleichen Problemen konfrontiert wie unsere Vorgänger. Sie sehen also: Das einzige, womit die Russen nicht fertigwerden, ist die Freiheit. Warum? Ich weiss nicht.

 

Sie beschreiben, wie 70 Jahre Bolschewismus das Land verwüstet haben. Es gab ja nicht nur Millionen Tote, das Land wurde moralisch, geistig zerstört. Die Intelligenz, die Bauern, das Bürgertum, die Juden – vertrieben, ermordet, ausgelöscht. Gibt es angesichts dieser Misere überhaupt eine Chance für die Demokratie?

 

Jakowlew: Ich hoffe doch. Unsere neue Nomenklatur würde die Zeit gerne zurückdrehen, aber das wird nicht gelingen. Ein Zurück zu den Lagern, den Gulags, dem Imperialismus gibt es nicht.

 

In Europa herrscht Unsicherheit, wie Präsident Putin zu beurteilen ist. Die einen meinen, er etabliere ein neues autoritäres Regime, die andern sagen, er ist einfach das logische Produkt der russischen Misere: Russland ist eben so. Was meinen Sie?

 

Jakowlew:  Er ist mehr als ein Symptom. Niemand zwang ihn, die Wahl der Gouverneure abzuschaffen. Natürlich waren diese Wahlen nicht gerade glänzende demokratische Übungen – aber warum den Leuten das Wahlrecht nehmen? Das war keineswegs notwendig. Warum unterstützt er die Partei "Vereintes Russland"? Warum liquidiert er die Opposition? Sicherlich kann man fragen: Drückt er laute Stimmungen im Land aus? Ja, das tut er. Aber es zwingt ihn doch niemand, der Exekutor der Massenstimmungen zu sein und dauernd die niedrigsten Instinkte zu bedienen.

 

Sollte der Westen ihn, auch in Hinblick auf den Tschetschenien-Krieg, stärker kritisieren?

 

Jakowlew: Ich glaube, im Fall des Tschetschenienkrieges hätte Kritik wenig Sinn. Russland ist, wegen des Zerfalls der Sowjetunion, sehr sensibel, was den Verlust von Territorium betrifft. Russland reagiert fast beleidigt. Der Krieg begann als verbrecherischer Krieg. Mittlerweile ist aber alles so verfahren, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Klar: Dieser Krieg ist eine Schande. Man muss ihn beenden. Aber man muss auch verstehen: Wenn sich Kalifornien von den USA lossagen wollte, würde auch die US-Regierung Truppen schicken. 

 

 

Wenn sich Chauvinismus und die Abspaltungsgelüste eines gepeinigten Volkes gegenüberstehen, mit allen Irrationalitäten und Überreaktionen, die das auslöst, dann ist eine gewaltsame Lösung doch unmöglich.

 

Jakawlew: Natürlich. Und es gibt genügend imperialistische Stimmungen in Russland. Aber ich glaube auch, in der nächsten Generation wird das schon anders sein. In unserer Generation sind die Leute noch nicht von den Barrikaden heruntergekommen.

 

Das Buch:

 

Alexander Jakowlew: Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Berlin-Verlag, 2004. 363 Seiten. Euro 25,60.-

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