Die Marmor-Linke

Das Unbehagen am Kapitalismus zieht Kreise. Wir sind Helden stürmen die Hitparaden. Die linken Parteien erhalten bei drei Bundestags hintereinander eine strukturelle Mehrheit. Und "die Linke"? Die behauptet steif und fest, sie sei in einer Krise. Ein Essay für die Zeitschrift "Kommune", November 2005

 

 

I.

 

Könnten Fische sprechen und könnte man sie fragen, wie es denn am Meeresgrund aussieht, sie würden dies und jenes antworten, eines aber gewiss nicht berichten: dass es dort unten nass ist. Das Offensichtliche wird meist nicht wahrgenommen.

 

Es gehört zu den Standards der linken Selbstbefragung, über den Zustand unserer Gemeinwesen und den Zustand "der Linken" selbst, dass in dieser die Vokabel "Krise" einen fixen und zentralen Stellenwert einnimmt. Wer linke Bücher liest, wer linke Zusammenkünfte besucht, muss die Bereitschaft mitbringen, sich deprimieren zu lassen. Meist herrscht der Ton der Jeremiade vor: alles wird schlechter. Dass es lebendige linke Milieus gibt, dass linke Haltungen Mainstream geworden sind und es eine kaum mehr überschaubare Kultur und Subkultur rebellischer Szenen gibt, fällt nicht auf, und wenn ja, ist das jedenfalls kaum der Rede wert. Allenfalls wird dem ein gewisser aporeitischer Charakter als Oberflächenphänomen zugestanden, etwa auf folgende Weise: Ja, es gibt eine Kultur des Dagegenseins, aber diese äußert sich in der Zeichensprache des Pop- und Gegenkultur, diese sei aber auch nichts anderes als eine Mode, nur eine etwas exaltierte Art des Mittuns eben und speise sich sofort ins konsumistische Universum ein. Kennen wir alles, haben wir alles durch – Hendrix, Hesse, Guevara. Mit der Behauptung, dies sei alles ambivalent, wird die Ambivalenz sofort auch wieder bestritten.

 

Dabei heißt doch Ambivalenz, dass ein Sachverhalt auf Widersprüchliches verweise, aber eben nicht, dass er nur scheinbar ambivalent ist und in Wirklichkeit nur eines bedeutet.

 

Nicht so freilich in der Welt der Diskurse. Wo eine Geste der Widerständigkeit wahrgenommen wird, ist schnell konstatiert: nichts als eine leere Geste. Wann immer linke Meinungen im Kontext einer medialisierten Öffentlichkeit geäußert werden, von Michael Moore bis Gregor Gysi, diagnostizieren wir einen "linken Hype" und Hype bedeutet, darauf sind wir gut trainiert, in Wahrheit natürlich: nichts als ein Hype.

 

Das bedeutet dann im Extremfall: die Linke ist kaum zu übersehen, gerade deshalb ist sie aber in der Krise. Zweifellos gibt es eine regelrechte Lust in gewissen linken Milieus, sich als die Verlierer der Geschichte zu sehen, als Geschlagene, die am Wegesrand zurückblieben.

 

Wollen wir also das Unübersehbare kurz resümieren. Das Unbehagen am Kapitalismus zieht Kreise. Von Pop bis Film, von Wir sind Helden bis Die fetten Jahre sind vorbei – Gesten das Dagegenseins, eine neue Kultur des Protestes. Das reicht bis in die Mitte der Gesellschaft, wo es sich als Verdruss äußert, darüber, dass Menschen nur mehr als Kostenfaktoren auf zwei Beinen gelten, dass alles zur Ware wird, dass, wie an jedem Stammtisch zu hören ist, der Mensch nicht mehr zählt. Selbst sozialdemokratische Kurzzeit-Parteivorsitzende haben das begriffen, mit dem Ergebnis, dass uns das vergangene Frühjahr eine unerwartete "Heuschreckendebatte" bescherte mitsamt einem Angriff auf die "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" durch Franz Müntefering. Sogar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung durften wir daraufhin Sätze lesen wie diesen: "Die Zeit ist reif für neue politische Ideen. Gerade im Moment der größten Ausdehung und Wirksamkeit der neoliberalen Ideologie mehren sich die Zeichen, dass es den Leuten allmählich damit reicht".

 

Das hat mit sozialer Bedrängnis zu tun, mit nacktem Elend, Abstiegsängsten und dem Kompex, der hierzulande auf den Namen "Hartz" hört. Aber nicht nur. Was ebenso für schlechte Stimmung sorgt ist die Kultur der Alternativlosigkeit und der Umstand, dass das Ökonomische über die Ufer dessen tritt, was allgemein und traditionell als "der Markt" akzeptiert ist. Dagegen gibt es nicht nur Aversion – sondern auch eine Fülle von Verweigerungs- und Ausbruchsstrategien.

 

Um dies zu verstehen, muss man den Blick auf eine Konstellation richten, die man mit dem schönen Wort von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auf den Begriff bringen könnte. Die Zeit, die den Durchbruch der Totalökonomisierung erlebte, ist auch vom Durchbruch der immateriellen Produktion, dem Aufstieg der Wissenskulturen, der postmaterialistischen Kreise zu den gesellschaftlichen Leitmilieus gekennzeichnet.

 

Für sie gilt: Sie erwarten in ihrem Erwerbsleben mehr als nur eine Stelle, sondern eine sinnvolle Tätigkeit. Geld ist nicht alles, man will sich in seinem Tun verwirklichen. Dies übrigens ganz im Einklang mit den Imperativen des zeitgenössischen Kapitalismus, der ja, ganz anders als dies eine traditionelle linke Kulturkritik immer unterstellte, nicht Konformismus und Anpassung fordert, sondern Kreativität, geistige Regsamkeit, permanente Änderungsbereitschaft.

 

Auftritt: Die Sinnfrage. Man muss nur gelegentlich mit jungen Menschen sprechen, dann begegnet man überall Leuten, die recht zielstrebig, aber gleichzeitig auch locker – und das heißt: nie konsequent – versuchen, nicht mitzutun. "Das trifft genau das, wie ich lebe", sagt etwa eine junge Frau, die ihren Lebensunterhalt mit Jobben in einem neoliberalen Wirtschaftsblatt bestreitet, ihr "Sinnvakuum" aber (wenn man das so nennen darf) damit füllt, dass sie für ein freies Radio arbeitet, das über Sozialbewegungen berichtet. Eine 22jährige, die studiert, nebenbei beim Arbeitsamt ein Mädchenprojekt betreut und, wenn dann noch Zeit bleibt, gratis für eine Sozialinitiative Asylbewerbern aus Afrika hilft, sagt, für sie komme "nur ein Beruf in Frage, in dem ich mich für meine Ideale engagieren kann". Ein erfüllender Beruf "mit begrenztem Einkommen ist mir lieber als ein gut dotierter", bekundet sie. Wer  Tiefeninterviews nachliest, die etwa empirische Sozialforscher machen oder nur kurz aufmerksam im Internet surft, wird eine Unzahl von Menschen finden, die – wie die 15jährige Annika – äußern, sie wollten "sinnvoll leben" und nicht immer nur das tun, "was einem selber nutzt".

 

Es sind diese Milieus, die das Potential einer neuen Linken bilden. Und es ist der Aufstieg dieser Milieus, und die Verallgemeinerung der von ihnen bevorzugten Werthaltungen, die abseits von tagespolitischen Details auch das Ergebnis von Wahlen beeinflussen.

 

Auf die Bundesrepublik bezogen, läßt sich das so formulieren: Während von 1945 bis in die neunziger Jahre die linken Parteien nie eine eigene Mehrheit hatten, egal ob die Bedingungen für sie nun gut oder schlecht waren, so haben die vergangenen drei Bundestagswahlen, ungeachtet der so unterschiedlichen Situationen der Jahre 1998, 2002 und 2005 jeweils eine Mehrheit der linken Parteien gebracht. Ist das nur ein Zufall? Aber warum gibt es dann drei Zufälle hintereinander und wieso hat es, beispielsweise, 1969 oder 1975 keinen solchen Zufall gegeben? Womöglich handelt es sich aber um keinen Zufall sondern um einen säkularen Trend.

 

II. 

 

Mit Wahlen ist es ganz gewiss eine vertrackte Sache. Wahlen sind nicht alles – aber sie sind auch nicht nichts. Vor allem die politische Linke hat traditionell ein eher ambivalentes Verhältnis zu Wahlen. Erinnern wir uns an die altbolschewistische Gewißheit, dass mit Wahlen das kapitalistische System stabilisiert, niemals aber abgewählt würde und wir deshalb nur mit Revolution und Diktatur des Proletariats weiterkommen. Derart verzopft würde das heute wohl kaum jemand mehr formulieren, aber sind wir uns ganz sicher, dass Ausläufer einer solchen Haltung nicht noch immer ein wenig mentalitätsbildend sind? Wirkungsmächtiger sind freilich heute Überzeugungen, die in Antonio Gramscis Hegemonietheorie wurzeln – dass der politische Kampf ein Kampf um die Köpfe ist, dass viel wichtiger ist, welche politischen Konzepte und Antworten für sich eine selbstverständliche Evidenz beanspruchen können als welche Partei gerade wieviel Prozent habe. Eine gewisse Lässigkeit gegenüber den Ergebnissen von Wahlen klingt schließlich noch in der heutzutage extrem populären These an, die allen voran von Franz Walter unter die Leute gebracht wurde: Regierungsformationen begründen und verstärken säkulare Trends, also gesellschaftliche Prozesse nicht, vielmehr schließen sie sie ab und sanktionieren sie. Die "rot-grüne Epoche", also die achtziger und neunziger Jahre, hätten aus dieser Perspektive viel mehr bewirkt als die rot-grüne Regierung, deren Mehrheitsfähigkeit und Antritt tiefgreifende Veränderungen in Haltungen und Mentalitäten nur mehr beurkundete.

 

Gegenüber einem verdorrten elektoralen Positivismus ist Skepsis gewiss nicht unberechtigt. Und so ist es nicht verwunderlich, wenngleich dennoch paradox, dass die Frage, ob die rechnerische linke Mehrheit bei den vergangenen Bundestagswahlen auch eine politische Mehrheit ausdrückt, unter Autoren und Interpreten, die aus der Linken kommen beinahe stärker umstritten ist als unter solchen, die nicht aus der Linken kommen.

 

SPD, Grüne und Linkspartei haben auf sich 51,5 Prozent der Stimmen vereinigt. "Die Bürger wollen einen eher linken Staat", resümiert diesen Umstand einer, dem das gewiss nicht gefällt – Norbert Walter nämlich, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Und Richard Hilmer vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap betont, es existiere sicherlich so etwas wie "eine Gerechtigkeitsmehrheit". Gregor Gysi dagegen ist sich da gar nicht so sicher: "Wir haben in jedem Fall eine Mehrheit links von der Union und der FDP. Aber", so fragt er, "ob das tatsächlich eine linke Mehrheit ist?" Kluge Köpfe, wie etwa Hubert Kleinert, einst Joschka Fischers engster Weggenosse, oder der Kasseler Soziologe Heinz Bude, fragen nicht mehr bloß, sie dementieren heftig. "Wer jetzt von einer strukturellen linken Mehrheit redet, verkennt, dass das nur wahlarithmetisch so ist", formuliert Kleinert im taz-Gespräch und Heinz Bude erklärt das Gespinst von der linken Mehrheit in der Süddeutschen Zeitung zu einem Traum "der Gefühlslinken". Denn was sich unter dem Appellwort der linken Mehrheit zusammenbraue, sei "eine geistige Ablehnung all dessen, wofür Gerhard Schröder das Vertrauen des Wahlvolkes einholen wollte".

 

Dass sich die Wähler des Hartz-IV-Kanzlers und die wütenden Hartz-IV-Gegner zu einer linken Mehrheit addieren ließen, das könne, deutet man Bude etwas salopp, nur weltfremden Spinnern in den Sinn kommen. Zwar könnte man fragen, ob denn aus einer Mehrheit schon ein Hirngespinst wird, indem man sie, wie Kleinert, als "nur wahlarithmetisch" klassifiziert – schließlich ist in einer parlamentarischen Demokratie die simple Addition von Stimmen beziehungsweise Mandaten zunächst das Wesentliche, was die Mehrheit zur Mehrheit macht und der Versuch, über die Hintertür zusätzliche Kriterien einzuführen, die grundsätzlich interpretativ sind, ist immer auch eine Anmaßung. Freilich bedeutet das nicht, dass nicht auch jedes Wahlergebnis so etwas wie eine nachträgliche Lektüre verlangt.

 

Nur kann man deuteln und drehen, soviel man will, es wird an dem Umstand nichts ändern, dass die Linke etwas hat, was die Rechte genau nicht hat: nämlich eine Mehrheit. Und auch wenn sich dieses Resultat, wie bei Wahlen immer, hinter dem Rücken des einzelnen Wählers vollzieht, so ist es doch nicht einfach ein Zufall oder gar ein Irrtum.  Eine Mehrheit der Wähler lehnt eine Politik ab, die sie für sozial ungerecht erachten. Daraus ist noch nicht zu erkennen, was sie für sozial gerecht erachten würden und genauso wenig ist deutlich, wieviele Wähler etwa der SPD die Stimme gegeben haben, weil sie die Hartz-Reformen eingeleitet hat und wie viele für sie stimmten, weil sie sich in ihrem Wahlkampf leise von diesem – ihrem! – Reformkurs distanzierte. Ebenso wenig ist ablesbar, wieviele Wähler die SPD-Reformen für ungerecht erachteten, die Sozialdemokratie aber dennoch wählten, weil sie sie für weniger ungerecht hielten als alles, was von einer CDU/CSU-FDP-Regierung zu erwarten war. Ähnliches gilt mutatis mutandis für die Grünen, deren Wähler auf eine "moderne Linkspartei" setzen und grundsätzlich alte Zöpfe gerne abschneiden, also auch die paternalistischer Wohlfahrtsbürokratien, die aber wahrscheinlich der kalten Herzlosigkeit der Hartz-IV-Praxis mehrheitlich auch mit viel Skepsis gegenüberstehen. Und selbst bei den Wählern der Linkspartei ist die Sache nur auf dem ersten Blick eindeutig – bei genauerer Betrachtung könnte man durchaus erwägen, ob sie nicht eine erkleckliche Minderheit ihrer Stimmen von Leuten erhielt, die sie für ein nötiges Korrektiv einer Reformpolitik halten, deren Notwendigkeit sie vielleicht gar nicht grundsätzlich bestreiten. Es kann also vorausgesetzt werden, dass sich die "Gerechtigkeitsmehrheit" in diesem Land aus einer Fülle von Haltungen addiert, die, wie das Diedrich Diederichsen so schön sagte, heterogen und auffällig marmoriert ist.

 

Wahrscheinlich sollten wir, um der Klarheit näher zu kommen, diese marmorierte Mehrheit kurz nach Habitus, Mentalitäten und sozialer Lage auflisten.

·        da sind zunächst die schrumpfenden, aber immer noch majoritären sozialdemokratischen Kernmilieus, Arbeiter und Angestellte, die auf sichere, planbare Lebensläufe, Konsum und ihren kleinen Anteil am Wohlstand orientiert sind – und die das Gefühl haben, dass es nicht mehr gerecht zugeht (was immer sie darunter verstehen mögen).

·        da sind die Verlierer des sozialen Wandels, von Jobverlust bedroht oder arbeitslos, die das Gefühl haben, zur Verbesserung ihrer Lage wird kaum etwas getan, anstelle dessen würden sie nur schikaniert.

·        da sind die postmaterialistischen Milieus, auf sinnvolle Tätigkeiten orientiert, für die Freiheit und Freiräume wichtig sind, die aber doch schroffe Ungleichheiten ablehnen.

 

diese Großmilieus fransen natürlich aus:

 

·        da gibt es die rebellischen Jungen, die "ihr Ding" machen wollen – darunter auch avanciertere, extravagante Subkulturen -, die Kommerz, Konsumismus und Neoliberalismus verdammen aber doch auch die paradigmatischen Gestalten dieses Zeitalters des Experimentierens, der erschlaffenden gesellschaftlichen Bindekräfte sind.

·        da ist die "Generation Praktikum", junge Leute, die ihr Leben noch vor sich, nicht wirklich Angst vor Scheitern und Abstieg haben, aber doch schon die Erfahrung machen mussten, dass ihr Weg holpriger ist als jener der Vorgängergenerationen. 

 

Wir könnten jetzt diese Liste detaillierter fortführen und um ein paar soziologische Fachvokabel wie "Patchwork-Identitäten", "Non-Konformisten" und "gesellschaftliche Leitmilieus" ergänzen. Doch auch so ist deutlich genug, dass sowohl Lebenslagen wie auch Haltungen und Mentalitäten dieser "marmorierten" Mehrheit stark divergieren. Zudem ist der Common Sense des linksliberalen Mainstreams in diesen Milieus weitgehend durchgesetzt, der in etwa lautet: Akzeptiere Differenzen, planiere nicht, was Dich von anderen unterscheidet und abhebt, schon gar nicht falschen Homogenisierungen wegen. Die Vorstellung vom großen Ganzen, von Gesellschaften, die sich darüber integrieren, dass sie Differenzen nivellieren, gilt weitgehend als romantisches Ideal. Dies macht es noch schwieriger, als es schon ist, aus zerfasernden linksliberalen Milieus eine linke Mehrheit zu machen. Dass mich mit anderen, was immer auch mich von ihnen trennen mag, auch etwas verbindet – eine solche Haltung ist heutzutage jedenfalls nicht extrem en vogue.

 

III.

 

Es gehört zu den eigenartigeren Eigenarten innerhalb des an Eigenartigem auch sonst nicht armen linken Spektrums, dass nun gerade von jenen, die gerade noch die Vielfalt der Vielfältigkeiten als historischen Fortschritt besangen, sofort die Frage kommt: Wie soll das zusammengehen? Wären sich alle auf der Linken politisch einig und folgten alle den selben lebensweltlichen Entwürfen, es gäbe im Parlament gewiss nicht drei Parteien jenseits von Union und FDP und auch nicht unzählige Milieus und Submilieus, die nebeneinander her existieren und sich nicht selten scharf voneinander abgrenzen. Aber es gibt sie nun einmal, und das ist auch gut so.

 

Ist es darum gänzlich unmöglich, in einigen politischen Kernbereichen, aber auch in der grundlegenden Perspektive ein paar Positionen zu skizzieren,  auf die sich alle Schattierungen dieser marmorierten Linken verständigen könnten? Ja, anders gefragt: Könnte es nicht sogar so sein, dass die Zersplitterung der linken Mehrheit eine Chance ist – weil sie dazu zwingt, Konzepte fein gegeneinander auszutarieren, die alle für sich in einzelnen Punkten Richtiges beinhalten, aber Anderes, ebenso wesentliches, ausblenden? 

 

Beginnen wir bei der Arbeits- und Sozialpolitik und versuchen wir ein paar Prinzipien zu formulieren auf die sich wohl alle einigen können sollten: Es wird eine Rückkehr zum fordistischen Arrangement mit einer vollbeschäftigten Erwerbsbevölkerung nicht mehr geben; dennoch bleibt Lohnarbeit zentral, nicht zuletzt für viele jener, die heute aus dem Arbeitsmarkt aussortiert sind – wir sind, was wir beruflich sind, und wer keine Arbeit hat verliert mehr als Stelle und Einkommen, er verliert seinen Ort in der Welt, seine Identität; gerade die, die damit gut zurecht kommen, sind eine Avantgarde, die nicht durch bürokratische Zwangsmaßnahmen schikaniert werden sollten; es gibt aber auch viele, die damit nicht so gut zurecht kommen, die Arbeitslosigkeit in Phlegma und Krise stürzt; es ist nicht damit getan, deren Chancen- und Zukunftslosigkeit bürokratisch zu verwalten. Alle zusammen haben das Recht auf ein auskömmliches Leben, mit so wenig materieller Not wie möglich und ihre Würde muss gewahrt bleiben.

 

Die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung gingen von der Prämisse aus, dass es nötig ist, alle Arbeitslosen zu aktivieren, sie aus ihrem Phlegma zu reißen – und dass man ihnen, um dieses Ziel zu erreichen, auch gelegentlich einen Tritt versetzen muss. Das Ergebnis ist am Ende der bürokratischen Kette – wie selbstverständlich nicht anders zu erwarten war – respektloses Verhalten, das die Würde der Betroffenen nicht achtet. Aus dem Prinzip "fordern und fördern" werden in der Realität oft bösartige Anmaßungen irgendwelcher Lynndie Englands, die es hinter Job-Center-Schreibtische verschlagen hat, während das "fördern" im Ungefähren versinkt, solange die staatlichen Bürokratien nicht fähig sind, denjenigen, von denen sie etwas fordern, auch etwas anzubieten – etwa, einen vernünftigen Arbeitsplatz in vernünftiger zeitlicher Frist. Und auch wenn staatliches Handeln dem Prinzip folgen muss, sina ira et studio zu verfahren, also alle, ohne Ansehen der Person fair, d.h. gleich zu behandeln, so muss doch gerade eine aktivierende Sozialpolitik eine Sensibilität für den Einzelnen entwickeln. Es kann im Einzelfall sinnvoll sein, Langzeitarbeitslose, die die Krisenspirale immer weiter nach unten zieht, zur Annahme beinahe jeder Arbeitsstelle zu drängen – angesichts des Mangels an Arbeitsstellen ist das aber wohl eher eine theoretische Frage, die sich im allgemeinen in bürokratischen Gemeinheiten erschöpft. Und es ist gewiss nicht sinnvoll, 48jährige Philosophen ohne Stelle, die dies und jenes tun, hier ihre Zeit in unbezahlte Arbeit für Literaturzeitschriften, dort in die Betreuung ihrer Kinder investieren, in sinnfreie Umschulungen zu stecken und sie mit Fragen wie der Folgenden zu demütigen: "Herr Doktor, wissen Sie eigentlich, wie man sich bewirbt?"

 

Fordern und fördern ist also bei jenen durchaus sinnvoll, bei denen das etwas bringen kann und die das wünschen – und sei es nur insgeheim, weil ihr verfallenes Selbstwertgefühl eine Folge des Umstandes ist, dass sie sich ohne Job nutzlos fühlen und weil es ihnen schwer fällt, eine sinnvolle Existenz ohne die strukturierende Kraft der Erwerbsarbeit zu führen. Doch es ist ebenso absurd, diejenigen mit Zwang in das Korsett der Lohnarbeit im primären Sektor zu zwingen, die es auch so schaffen, ein gelingendes Leben ohne Arbeit zu führen. Herrscht darüber einmal Einigkeit, ist der verengte Blick, wie er durch das Prisma der Arbeitsmarktpolitik auf das Soziale geworfen wird, auch schon erweitert. Dann folgt diese nämlich nicht mehr dem Ideal einer Gesellschaft, "die vor allem deswegen ‚integriert‘ ist, weil alle ihre Mitglieder in Lohnarbeit stehen" (Mark Terkessidis). Dann kann die Arbeitsmarktpolitik – und die ihr benachbarten Terrains, wie die Bildungs-, Familienpolitik oder auch die Stadtplanung – zu einem Hebel der Gestaltung der Vielheit werden.

 

Für die Grünen wäre es ohnehin die ureigenste Sache, die Vielfalt zu gestalten und den Versuch zu unternehmen, eine sinnvolle Existenz, jenseits von Fließband und Fabrik für so viele wie möglich zu garantieren; die Linkspartei müsste akzeptieren, dass die Idee, die wohlfahrtsstaatlichen Apparate zu aktivierenden Institutionen umzubauen, nicht grundsätzlich eine neoliberale Gemeinheit ist, sondern gerade Mentalitäten eines weiten Teils ihrer eigenen Klientel entspricht, der die Gewissheiten der fordistischen Ära noch in den Knochen stecken. Und die SPD muss sich vom sozialtechnischen Ingenieursglauben verabschieden, die Krise der Erwerbsgesellschaft ließe sich mit ein paar gouvernementalistischen Peitschenhieben auf die Arbeitslosen lösen – der paternalistische Fürsorgegestus verträgt sich nämlich nicht mit der Kultur der Freiheit und der Differenz, wie sie in unseren Gesellschaften Common Sense geworden ist.

 

IV.

 

Man kann sagen, was hier mit ein paar Strichen skizziert wurde, sind Kernelemente einer neuen Großidee, die die alten Leitsterne der Linken zusammendenkt – Freiheit und Gleichheit. Freiheit heißt in diesem Fall: das Potential an Kreativität zu begreifen, an Vielfalt, an Möglichkeiten, auch an fröhlicher Dissidenz, das unsere Gesellschaften prägt. Das Ende des fordistischen Arrangements ist auch eine Befreiung und wird von vielen als solche begriffen. Gleichheit heißt in diesem Fall: nicht zurück zur formierten Gesellschaft, aber Respekt gegenüber der Würde aller. Gleichheit heißt, die Schere der Lebenslagen nicht weiter aufgehen zu lassen und vor allem alles dafür zu tun, dass sich die Ungleichheiten nicht generational verfestigen. Sorge um Aufwärtsmobilität, die Vermittlung von Kompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben für alle beginnt heute bei den Dreijährigen und resultiert erst in drei Jahrzehnten in einer egalitäreren Gesellschaft. Vorbilder gibt es: Die klassenlosesten Gesellschaften der Welt sind die skandinavischen, wo die Steuern hoch sind, die öffentlichen Schulen ausgezeichnet arbeiten und die Kultur durch gegenseitigen Respekt gekennzeichnet ist (und die, was sicherlich kein Zufall ist, über die international konkurrenzfähigsten Ökonomien verfügen).

 

Freiheit und Gleichheit sind, kurzum, keine Antipoden, sondern Zwillinge: Grobe Ungleichheiten haben freiheitseinschränkende Wirkungen für die Unterprivilegierten.

 

Der Witz ist: Man kann solche politischen Haltungen formulieren, man kann das auch in vielen anderen Branchen der Politik tun – und wird feststellen, dass die Postulate fast ohne Widerspruch von allen Schattierungen dieser marmorierten Linken geteilt werden (sowohl von den parteiförmigen als auch von den subkulturellen oder unabhängigeren). Man wird weiter feststellen, dass solche Positionen von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit unterstützt werden. Und man wird auch noch feststellen, dass es eine Mehrheit im Parlament gäbe, die eine solche Politik favorisiert.

 

Aber die Linke ist natürlich in der Krise.

 

Robert Misik, 39, lebt als Publizist in Wien. Im vergangenen Frühjahr erschien von ihm zum Thema: "Genial dagegen. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore." Aufbau-Verlag, Berlin, 194 Seiten, 17,90 Euro.

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