Das gute Alte

Richard Sennett analysiert hellsichtig einige kulturelle Effekte des neuen Kapitalismus. Leider durchzieht sein neues Buch aber ein beträchtlicher kulturkritischer Mief. Falter & taz, Juni 2005

 

 

Der Kapitalismus ist nicht nur eine Produktionsweise, er zeitigt auch kulturelle Effekte. Wie jede Form der Ökonomie ist er von einem bestimmten "Geist" durchdrungen. Und wir tun gut daran, nicht vom "Kapitalismus" – im Singular -, sondern von den "Kapitalismen" im Plural zu reden. Jede Phase in der indes rund dreihundertjährigen Geschichte der auf privater Akkumulation und freien Märkten basierenden Produktionsweise hat noch ihren eigenen "Geist" entwickelt. Und dieser Geist regelt nicht nur die Marktbeziehungen, er schlägt auf die Individuen durch: er färbt Gefühle, Sehnsüchte, Affekte spezifisch ein. Die Menschen sind Kinder ihrer Zeit. Wie sie ticken, ist von Geschichte und Gesellschaft vielleicht nicht determiniert, aber doch hochgradig beeinflusst.

 

Was das ganz konkret für menschliche Gemeinschaften und den Einzelnen bedeutet, ist das große Thema des amerikanisch-britischen Soziologen Richard Sennett. In seinem neuen Buch "Die Kultur des neuen Kapitalismus" spinnt er den Faden weiter, den er bereits in "Der flexible Mensch" und "Respekt im Zeitalter der Ungleichheit" aufgenommen hat. Diesmal lautet die Frage des Professors an der London School of Economics etwa so: Wenn der neueste Kapitalismus tatsächlich alle festen Gehäuse zersetzt, eine Kultur der Bindungslosigkeit entwickelt, entstehen dann Freiheitsgewinne? Und läßt sich sich diese neoliberale Spielart von Befreiung ins Progressive wenden? Seine Antworten darauf sind wenig hoffnungsfroh.

 

Zunächst untersucht Sennett, welche Auswirkungen die Auflösung starrer Bürokratien – staatlicher wie privatwirtschaftlich orientierter – hat. Er geht hier von Max Weber aus, zu dessen Zeit die Ministerialbürokratie das Vorbild aller Organisationsformen war. Damals hat man "die Firma" wie Bürokratien organisiert, wohingegen man heute die Bürokratien nach dem Vorbild des flexiblen Unternehmens reorganisiert. In den Firmen alter Art waren die Hierarchien klar, die Aufgaben säuberlich geschieden, jeder stand an seinem Platz. Er war, nach dem berühmten Weber-Wort, eingepasst ins starre "Gehäuse der Hörigkeit". Aber er war nicht unfrei. Erstmals konnten auch die Unterprivilegierten ihr Leben planen, hatten eine Aufstiegsperspektive. Sie konnten – und mussten – spezifische Kompetenzen entwickeln. Und sie waren auch gar nicht so unfrei in ihren Entscheidungen. Das Management gab Anweisungen – doch die wurden verändert, indem sie nach unten diffundierten. Man führte nicht bloß aus – man interpretierte die Entscheidungen.

 

Bürokratien und Firmen waren auf Dauer angelegt. "Das Wesen dieses Modells ist die Zeit", schreibt Sennett. Die Institution war darauf ausgerichtet, dass sie "jeden Sturm da draußen überstehen" könnte. Das gab den Subjekten Sicherheit, und damit Freiheit. Die Freiheit, Potenziale nicht nur zu besitzen, sondern auch zu entwickeln. Was sie auszeichnete, war eine "handwerkliche Einstellung". Für den Ingenieur und die Lohnbuchhalterin galt, was auch für den Tischler gilt – man wollte seine Arbeit nicht schnell, sondern stetig und gut machen. Man hatte einen Beruf, man konnte etwas. Man wusste, man wird in zehn Jahren noch mehr können und in der Hierarchie weiter oben sein. Nicht der schnelle Erfolg lockte, sondern das stetige, langsame Vorwärtskommen. Es gab klare Muster, das Zwischenmenschliche, die "weichen" Fähigkeiten, das Kommunikative etwa, standen weniger im Zentrum.

 

Heute gilt die "Bereitschaft, die eigene Organisation zu destabilisieren, plötzlich als positives Signal", so Sennett. Die paradigmatische Figur ist der Unternehmensberater, der das Unternehmen aufmischt. Seine Anwesenheit ist ein "Zeichen für die Investoren, dass im Unternehmen etwas geschieht". Lange auf einem Posten zu bleiben, ist ein Nachteil, man gilt dann schnell als inflexibel. Gefragt sind Mitarbeiter mit einem weiten Spektrum an Potenzialen, die nichts Spezielles können. Wichtig ist, den Chefs das Gefühl zu geben, man werde in jeder Situation schon wissen, was zu tun ist. In den driftenden Institutionen "müssen die Menschen proaktiv mit schlecht definierten Situationen umgehen können". Zwischenmenschliche Beziehungen spielen eine größere, spezifische Kompetenzen eine geringere Bedeutung. Die Erfahrung ist entwertet, das junge, hungrige Talent der Heros der Epoche. Managemententscheidungen – oft auch erratische – werden aufgrund flacher Hierarchien und digitalisierter Kommunikation in Echtzeit von Oben nach Unten weitergegeben. Der Spielraum zur freien Interpretation der Entscheidung reduziert sich.

 

Die Menschen können weniger, stehen häufiger vor Situationen, mit denen sie schwer umgehen können und haben nicht unbedingt mehr Freiheit zur Gestaltung ihrer Arbeit – so das Fazit Sennetts.

 

Und weil ihnen die "handwerkliche Einstellung" abhanden kommt, fehlen ihnen zunehmend auch in anderen Bereichen die Möglichkeiten, gut von schlecht zu unterscheiden. Neu schlägt alt – etwa in der Welt des Konsums. Das gut gemachte Produkt ist vom schlecht gemachten auch für den informierten Laien nicht zu unterscheiden. Die Differenz zwischen Coke und Pepsi macht das Marketing.

 

Dieser Geist, so Sennetts Schlusspointe, schlägt auf die Politik durch. Langfristige Orientierungen haben keine Chance mehr, die Perspektiven verkürzen sich. Die vermittelnden Instanzen von Politik lösen sich genauso auf wie die hierarchische Mehrebenen-Vermittlung in der Firma. Politiker agieren am Markt der Meinungen, auf dem die Menschen wie Konsumenten agieren. Die Bereitschaft, sich mit Inhalten zu beschäftigen, sinkt, "wenn die Demokratie sich am Vorbild des Konsums" orientiert.

 

Das ist alles nicht ganz falsch, verströmt teilweise aber doch einen beträchtlichen kulturkritischen Mief. Wer der Meinung ist, dass früher alles besser war, findet sich bei Sennett weitgehend bestätigt (und, das soll der Ehrlichkeit halber nicht unterschlagen werden, punktuell auch irritiert). Stringenz ist Sennetts Argumenten nicht abzusprechen, aber ein paar Fragen stellen sich doch: Hatte der Dreher an der Werkbank tatsächlich eine so viel solidere "handwerkliche Einstellung" als der Gymnasiast, der Computer programmiert und Netzwerke installiert, als wäre es die einfachste Sache der Welt? Zieht nicht im Gegenteil die "handwerkliche Einstellung" weite Kreise? Grassiert nicht die Sehnsucht, etwas "Sinnvolles" zu tun, worin man seine "Kreativität" entwickeln könne? Ist dieser Wunsch nicht viel augenfälliger als zu Zeiten, als die Mehrheit noch im Morgengrauen ins Büro trottete, den Tag weitgehend hinbog und sich ab Mittag schon seelisch auf den Feierabend einstellte? Können die Menschen heute wirklich weniger als gestern, der Wissensrevolution zum trotz?

 

Gewiss hat der neue Kapitalismus neue Zwänge etabliert. Spielräume vergrößern sich und engen sich sofort wieder ein. Um das Soziale neu zu denken, reicht Handwerk nicht aus – dafür braucht es Kunst. Aber die Orientierung muss schon sein, um das mit Brecht zu sagen: Nicht ans gute Alte, sondern ans schlechte Neue gilt es sich zu halten.

 

Richard Sennett: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff. Berlin-Verlag, 2005. 160 Seiten. 18.- Euro (D), 18,60 (AUT)

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