Wir sind links

Seit Oskar Lafontaines Revival ist Deutschland im Linkspartei-Fieber. Im Kampf um jede Stimme hetzt der Ex-SPD-Chef gegen Zuwanderer. Nun grübelt die deutsche Linke, ob das neue Bündnis eine Chance oder eher eine Totgeburt ist. Falter, Juni 2005

 

 

Hirnoperation und Herzinfarkt hat Gregor Gysi gerade erst überstanden, doch im Momenten wie diesen hält es einen wie ihn nicht im Rehabilitationsprogramm. Schließlich, so der Medienstar der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS), gibt es in Deutschland "offenbar ein zunehmendes Bedürfnis nach einer linken Alternative". Gysi: "Eine historisch einmalige Chance".

 

Erst Franz Münteferings Kapitalismuskritik, jetzt das Antreten der neuen Partei, die, wenn sich nicht noch etwas ändert, auf den schlichten Namen "Linkspartei. PDS" hören wird, mit Gysi, vor allem aber mit Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine an der Spitze – der Drall nach Links ist der Dernier Crie im medialen Dorf.

 

Hatte die "Bild"-Zeitung nach der Wahl Joseph Ratzingers zum Pontifex Maximus noch "Wir sind Papst" getitelt, liegt Deutschland nun in einem neuen Fieber, wie die Frankfurter Rundschau mit leiser Ironie formuliert: "Wir sind Links"

 

Kann daraus etwas werden? grübelt nun nicht nur die kommentierende Klasse, sondern das gesamte heterogene Milieu der deutschen Linken. Unumstritten ist nur eines: Ein Wahlerfolg kann daraus ganz leicht werden. Ein Potential von bis zu 18 Prozent ermittelten Demoskopen, bei der Sonntagsfrage gaben zuletzt neun Prozent an, sie wollten für das fragile Bündnis aus ostdeutschen Postkommunisten, metropolitanen Junglinken und frustrierten westlichen Gewerkschaftern sowie Ex-Sozialdemokraten stimmen. Ob daraus aber schon das linke Modell für das 21. Jahrhundert werden kann, darüber gehen die Meinungen ziemlich weit auseinander.

 

Da ist einmal Oskar Lafontaine: Herr der Talkshows, großer Trumpf der Partei – und gleichzeitig ihre umstrittenste Figur. Als habe er seinen neuen Genossen schon zu Beginn klarmachen wollen, wen sie sich da ins Bett geholt haben, stellte er sich gerade in Chemnitz auf eine Bühne und beschwor die Pflicht des Staates, deutsche "Familienväter und Frauen" davor zu schützen, dass "Fremdarbeiter ihnen zu Billiglöhnen die Arbeitsplätze wegnehmen". Deutlicher hätte er die Botschaft nicht unter die Leute bringen können: Der Populist Lafontaine ist bereit, sehr weit zu gehen, um Stimmen zu sammeln – der Nazijargon von den "Fremdarbeitern" (seinerzeit in Euphemismus für Zwangsarbeiter) war da nur der Zuckerguss.

 

Fauxpas war das keiner. Dass Lafontaine als Säulenheiliger des Fortschritts gilt, ist seit jeher nur durch die Bereitschaft der linken Traditionsmilieus zu erklären, viel zu verzeihen, wenn einer nur behauptet, er sei einer von ihnen. Schon Anfang der neunziger Jahre war Lafontaine der sozialdemokratische Politiker, der als erster hoher SPD-Mann in die Kampagne gegen das liberale deutsche Asylrecht einstimmte. "Wir haben eine Zuwanderung von einer Million. Diese Zahl muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen", verteidigte sich Lafontaine damals, den Zeigefinger der Rechten nach oben gereckt, in der Linken ein Glas Bier. Wer ihm da mit Grundsätzen kam, der bekam Lafontaines berühmte arrogante Selbstgewissheit zu spüren. "Populistisch ist besser als unpopulär sein und am Volk vorbeireden", sagte er dem "Spiegel" damals. Und der deutsche Stammtisch sei zuweilen "klüger als die Politik". Den Xenophoben warf er ein paar Brocken hin und sich selbst dabei in die Pose des lupenreinen Demokraten: Er könne da "einen entscheidenden Hinweis geben: Die Bürger der Bundesrepublik wollen auch mitentscheiden darüber, wie viele Menschen sie aufnehmen wollen".

 

Schon damals nannte ihn die Berliner tageszeitung einen "politischen Triebtäter" und die Hamburger Zeit hatte bereits in den achtziger Jahren erkannt, Lafontaine sei "kein Linker oder Rechter, zunächst einmal nur – ich". Ein kleiner Mann mit großem Ego, die Diva unter den deutschen Politikern.

 

Das heißt nicht, dass er nicht Überzeugungen hätte. Dass Deutschland mit einer keynesianischen Wirtschafts- und Finanzpolitik besser fahren würde als mit dem Patchwork-Neoliberalismus, den die Schröder-Regierung praktizierte, davon ist er schon überzeugt. Nicht zuletzt darum, weil er ohnehin immer ganz fest davon überzeugt ist, dass er recht hat und die anderen unrecht haben. Wenn es einen Menschen gibt, dem Selbstzweifel unbekannt sind, dann ist das Oskar Lafontaine.

 

Er schreibt Kolumnen in der "Bild"-Zeitung, für einstündige Auftritte in Talk-Shows verlangt er Summen, mit denen ein Hartz-IV-Empfänger ein halbes Jahr auskommen muss und in seinem jüngsten Buch "Politik für alle" erläutert er, die "Politik der forcierten Zuwanderung wird in Deutschland einzig von den oberen Zehntausend gefordert". Die sind an allem Bösen in der Welt schuld, gemeinsam mit dem "internationalen Finanzkapitalismus", der "Wall Street", "unseren Bundestagsabgeordneten", Gerhard Schröder und Tony Blair.

 

62 Jahre ist dieser sonderliche linke Rechte indessen, der einstige Jesuitenzögling, dem es 1966 zur SPD verschlug, in der er vom Bürgermeister zum Ministerpräsidenten, Kanzlerkandidaten, Parteivorsitzenden und Finanzminister aufstieg. Der also soll die Linke in das 21. Jahrhundert führen?

 

Nun, das würden nicht einmal seine neuen Freunde hoffen. Sie wissen, dass er einer ist, mit dem man sich im Grunde nicht verbünden kann und – man soll das auch nicht verschweigen, weil es ja auch eine Rolle spielt – der wahrscheinlich unsympathischeste Typ in der politischen Arena Deutschlands ist. Sie sehen in Lafontaine eher den Zirkusgaul, der sie hochziehen soll. Aber ist Lafontaine nur das zweifelhafte Zugpferd für ein ansonsten vielversprechendes Projekt?

 

Gewiss ist es gut, dass es die neue Linkspartei gibt. Sie bringt eine dissonante Note ins Konzert. Die anderen Parteien – Christ- und Sozialdemokraten, die rechtsliberale FDP, die Grünen – vertreten in Wirtschafts-, Finanz- und Sozialdingen Positionen, die sich nur in Nuancen unterscheiden. Dem Mantra aus ‚Steuern runter‘, ‚der Wirtschaft freie Bahn‘, ‚Investitionshemmnisse wegräumen‘, ‚Kapital anlocken‘ huldigen sie alle. Für die wachsende Zahl jener, denen da Zweifel kommen, ist die Linkspartei zumindest ein Angebot – für kommerzkritische Junge, für frustrierte Ex-Sozialdemokraten oder einfach nur für die Verlierer und die sozial Bedrängten. Und die PDS, mit 60.000 Mitgliedern die mit Abstand stärkste Kraft im neuen Bündnis, hat sich in den vergangenen 15 Jahren auch verändert, weil sie sich verändern musste. Der Nachfolgeorganisation der ehemaligen DDR-Staatspartei SED sind insbesondere in den Städten in Ostdeutschland viele junge Leute zugewachsen, sie verfügt über einen breiten Stamm effektiver, pragmatischer linker Funktionäre: Bürgermeister, Minister, Senatoren. Sie ist eine lebendigere Kraft, als man beim ersten Augenschein glauben mag. Bei der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG), dem zweiten großen Block in der neuen Einheitslinken, ist das anders. Sie besteht aus Resten der westlichen K-Gruppen, also der BRD-Linken der siebziger- und achtziger Jahre, vor allem aber aus enttäuschten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Ihnen sieht man an, formulierte die Zeit jüngst in einer hübschen Reportage, "dass sie einiges hinter sich haben" – vor allem einige Jahrzehnte sozialdemokratische Parteiarbeit.

 

Programmatisch ist das, was sie zu bieten hat, dürftig. Als Alternative zum Neoliberalismus hofft sie auf eine Gesellschaft, die wieder integriert ist, und integriert ist für sie eine Gesellschaft, in der am besten alle Mitglieder in Lohnarbeit stehen. Sie macht, wie das der Sozialwissenschaftler und Publizist Mark Terkessidis formuliert, "keine ernsthaften Vorschläge, wie die Vielfalt in der Gesellschaft gestaltet werden soll". Das neue Linksbündnis fällt so weit hinter das zurück, was etwa in globalisierungskritischen Kreisen Stand der Diskussion ist. Um das mit einem modernen Wort zu sagen: Die Multitude ist anderswo.

 

"Was haben", fragt Terkessidis, "ein 54-jähriger Mann, der vor einigen Jahren nach 30jähriger Berufstätigkeit arbeitslos wurde und nun Alg II (den Hartz IV Satz für Arbeitslose, Anm. d. Red.) bezieht; eine Choreografin und Tänzerin mit Muskelatrophie, die gerade ein von der Bundeskulturstiftung gefördertes Projekt in Brasilien organisiert; und eine Frau mittleren Alters, die jeden Tag für einen schlecht bezahlten Job in der Schlecker-Filiale zwei Stunden mit dem Zug pendelt – was haben diese Leute eigentlich politisch miteinander gemein?"

 

Eine Linke, die auf der Höhe der Zeit ist, müsste, so Terkessidis, argumentieren können, wie auf der Basis solcher Differenzen mehr Gleichheit realisiert, also soziale Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann. Das neue Linksbündnis sei dagegen, so die Hamburger Zeit, eine "Retrolinke".

 

Das läßt sich doch ändern, meint dagegen der Publizist Mathias Greffrath. Und zwar, wenn die originellen linken Köpfe, die Kulturlinke und die Intellektuellen, aufhören die Nase zu rümpfen und mittun. Und Christian Semler, 1968 einer der Führer des Berliner "Sozialistischen Deutschen Stundentenbundes" (SDS), heute unorthodoxer Denker und Autor der tageszeitung, fragt: "Wer sagt uns eigentlich, dass eine neue Linkspartei nicht in der Lage ist, sich zu entwickeln, ‚das Fenster zu öffnen‘, sich von überkommenen Vorstellungen wie ‚Vollbeschäftigung ist möglich‘ zu lösen"?

 

Niemand sagt das. Aber sie wird ihre Fenster sehr weit öffnen und viele Fremdkörper herein lassen müssen.

 

Fremdarbeiter, gewissermaßen.

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