Liebling der Muggel

Am Samstag erscheint der neuer Harry-Potter-Band. Der Hype ist programmiert, Rekordabsätze sind jetzt schon sicher. Was genau macht eigentlich die Story von dem kleinen Zauberlehrling mit der Nickelbrille so unwiderstehlich? taz, September 2005

 

 

Weil die Welt schlecht ist, hat der Gute kein Recht, glücklich zu sein. Diesem alten literarischen Muster gehorchend, sitzt Harry Potter am Ende seines sechsten Schuljahres im Garten vor dem Zaubererinternat Hogwarts und zerreißt die gerade erst geknüpften Fäden frühen Teenagerglücks. Sie müssten sich trennen, sagt er Ginny Weasley, seiner ersten Jugendliebe. Sie können nicht zusammen bleiben. Er habe einen Kampf zu führen. Und in diesem Kampf muss er alleine stehen. Macht gegen Macht. Der "Auserwählte", der junge Held, gegen den "dunklen Lord", Voldemort, den Herrn der Finsternis. Damit endet der sechste Band der Harry-Potter-Reihe, dessen deutsche Übersetzung am Samstag dieser Woche erscheint – und sogleich beginnt das Warten auf den siebenten Band. Gut gegen Böse sind in Stellung gebracht, zum großen Entscheidungskampf.

 

"Harry Potter und der Halbblutprinz", heißt der neue Band und er wird wieder ein paar Millionen Leute mehr in die Welt des Jungen mit den außerordentlichen magischen Fähigkeiten hineinziehen. Auch HP6 wird wieder für Absatzrekorde sorgen. Die Eventindustrie hat ihr Event und nörgelnde Kulturpessimisten werden abermals mit molltönenden Sätzen beklagen, dass heutzutage auch das Kulturgut Buch eine Ware ist, zugerichtet von Werbung und Branding; dass Potter auch nur eine Marke ist, und Joanne K. Rowling, die Autorin, nicht anders als all die anderen Multis, die mit ihren Waren auch Illusionen und ein Lebensgefühl verkaufen, von Nike bis McDonalds. Alles nicht ganz falsch: Ihr Held hat die Marketing-Magierin Rowling zu einer der reichsten Frauen der Welt gemacht

 

"Harry Potter ist das beste Buch der Welt", sagt mein Sohn. Er hat derweil einen gewissen Überblick, um das beurteilen zu können. Natürlich darf man die Potter-Bücher nicht mit Goethe vergleichen. Man muss sie mit jenen Büchern vergleichen, mit denen früher Millionen Kinder zur Literatur gefunden haben – mit Karl May und ähnlichem. Und im Verhältnis dazu sind die Potter-Bücher große Literatur. Und damit das vorweg geklärt ist: Das gilt für Band sechs so wie für die Vorgänger.

 

Was den Zaubererjungen mit den Nickelbrillen so unwiderstehlich macht? Zunächst: Der Plott, die Figuren, die Welt, die in den Geschichten aufgespannt ist – nie sind sie eindimensional, immer sind sie gebrochen. Es gibt die äußere Welt, die Welt der normalen Menschen, der Muggles. Es gibt das verborgene Reich der Magier, die Zaubererwelt. Und die eigentlichen Zentralfiguren der Geschichte sind die, die an den Grenzen zwischen diesen Welten entlangstolpern. Harry, das Halbblut; seine beste Freundin, Hermine Granger, ein Menschenkind im Zaubererinternat. Aber  auch durch die Zaubererwelt geht ein tiefer Graben. Hier die hochnäsigen, rassistischen Reinblütler – und ihnen gegenüber die, die das Anderssein akzeptieren; die schwarzen Magier, der "dunkle Lord" Voldemort und seine Schergen, die Todesser – gegen diejenigen, die diese Untergrundkrieger für die Tyrannei besiegen wollen; und zwischen diesen beiden Antipoden torkelt das Zaubereiministerium, gewissermaßen die politische Führung der magischen Welt. Ihm stehen feige Bürokratennaturen vor, verschnarchte Erbsenzähler. Die Geschichte aller Tyrannei des 20. Jahrhunderts ist da die Blaupause.

 

Aber es stehen eben nicht schlicht Gut gegen Böse. Es gibt unter den Guten die Mutigen, aber auch die Feigen und die Eitlen, die sich auch schon mal vielleicht mit dem "dunklen Lord" eingelassen haben, und unter den Bösen die, die dann doch ein Gewissen zeigen – wie etwa Potters fieser Mitschüler Draco Malvoy, der am Ende des neuen Bandes doch nicht zum Killer wird. Es gibt so ein ganzes Geflecht an Beziehungen, das buchstäblich ein politisches Kraftfeld aufspannt – hier die Zaubererbürokratie, da die Vorkämpfer gegen den Totalitarismus, dort das Zauberervolk, das sich lange Zeit gerne einlullen läßt von den falschen Versicherungen, dass die Lage im Griff sei. Und die magische Welt ist nicht bloßes Beiwerk der Menschenwelt. Die magische Welt existiert in den Menschen(=Muggel)-Welt, und die Muggelwelt existiert in der Zaubererwelt. Da knirscht es bisweilen. Und wenn es zu sehr knirscht, dann hüpft der Zaubereiminister im Büro des Premierministers der Muggel aus einem Gemälde, zum Gipfeltreffen von weltlicher und magischer Macht.

 

Was aber Harry so zur Identifikationsfigur macht, ist die Tatsache, dass er eben kein großer Held ist, kein Odysseus, kein Herkules. Harry ist zwar irgendwie besonders, aber keine dieser üblichen Zentralfiguren aus dem Motivmuseum großer Internatsliteratur, um die sich Cliquen scharen. Ein brillanter Schüler ist er schon gar nicht. Äußerlich ist er einfach ein Normalo, der gepiesakt wird – und doch nichts weniger als gewöhnlich. Held und Anti-Held zugleich. Unübersehbar ist die Botschaft, die Joanne Rowling ihren jungen Lesern hier sendet: man muss kein toller Hecht sein, um besonders zu sein. Kitschig? Na klar! Aber allemal, wenn Kinder von solchen Figuren ins Leben begleitet werden.

 

Knapp viertausend Seiten umfassen die sechs Bände zusammen, die bisher vorliegen. Alle zusammen wiegen fast fünf Kilogramm, wenn meiner Badezimmerwaage zu trauen ist. Bei allem Abenteuer- und Fantasy-Gespinst sind die Potter-Bücher, so überraschend das klingen mag, viel realistischer als die meisten anderen Kinderbücher. Der kleine Zauberlehrling geht in eine Schule, in der nicht einfach gezaubert wird, sondern zaubern gelernt wir – nach strengen Regeln, die aber meist vernünftig sind -, mit unsympathischen Typen und guten Freunden. Eine Fülle der Figuren, weshalb die Literaturkritikerin Ruth Klüger Rowling auch in der realistischen "Tradition der großen britischen Erzähler des neunzehnten Jahrhunderts" sieht. Die Figuren sind echte Figuren, keine leeren Komparsen, die am laufenden Band lustige oder überraschende oder spannende Dinge erleben, wie sie in so vielen Kinderbüchern herumhampeln. In "Harry Potter und der Halbblutprinz" schwebt über der Szenerie schließlich noch der schwüle Nebel erwachender Pubertierendenerotik. Schließlich sind Potter und Freunde jetzt schon sechzehn.

 

Sechs Bände hat sich Rowling Zeit gelassen, ihre Figuren zu platzieren. Erst wurde Harry in die Zaubererwelt eingeführt, dann wurde langsam deutlich, dass in dieser etwas nicht in Ordnung ist. Und nach und nach wurde klar. Harry ist "der Auserwählte", der die Zaubererwelt vom dunklen Lord befreien kann. Lange konnte Harry seinerseits auf mächtige Beschützer zählen: Auf seinen Paten Sirius Blake, auf Albus Dumbledore, den Internatsleiter. Er war ein Waise, aber nicht alleine auf der Welt. Blake starb in Band fünf. Am Ende von Band sechs – soviel darf verraten werden – gibt es wieder einen prominenten Todesfall und dann sind die Fronten vollends begradigt. Frau Rowling hat ihre Figuren abschließend gruppiert. Das Ende ist kein Ende sondern ein Anfang. Das Endspiel kann beginnen.

 

Das Buch ist, wie Harry selbst – erwachsener. In den Schulkorridoren wird geknutscht. In der äußeren Welt nistet sich Chaos ein. Auch Hogwarts ist jetzt kein sicherer Hafen mehr. Die Schlagzeilen des sonst so drögen "Tagespropheten" werden beherrscht von immer neuen Todesfällen und täglich neuen Verschwundenen. Es wird düsterer.

 

In lange versunkenen bürgerlichen Epochen, als man noch auf Charakterformung und Entwicklungsromane setzte, galt als eine Aufgabe der Literatur: die Herzensbildung. Sie sollte Typen modellieren für eine gelingende Lebensführung. Die Potter-Bücher sind so gesehen großartig altmodisch. Sie propagieren ganz ungeniert Werte. In den Potter-Büchern nimmt der aufgeklärte, linksliberale Mainstream gewissermaßen seine endgültige, kanonische Form an. Der lautet: Ziehe eigene Urteilskraft dem Konformismus vor! Respektiere, was Dir anders und fremd erscheint! Duck Dich nicht weg, wenn Ungerechtigkeiten geschehen! Auch Muggel, sogar Mädchen können wilde Kerle sein!

 

Über den Kitsch, den das streckenweise auch mit sich bringt, kann man stundenlang die Nase rümpfen und das natürlich ganz zu recht. Große Überraschung: It’s Entertainment, Baby. Aber doch gilt auch: Eine Welt, in der 250 Millionen Harry-Potter-Bücher verkauft werden kann keine ganz schlechte Welt sein.

 

Auch wenn sie vorwiegend von Muggel bewohnt wird.

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