Ich Opfer!

Die Islamophoben empören sich über Faruk Sens Satz, wonach die Türken die „neuen Juden“ seien. Dabei stellt sich die Frage: Warum präsentieren sich diskriminierte Minderheiten so gerne als ohnmächtige Opfer? taz, 10. Juli 2008

 
Schön schrill mit den erwartbaren Reflexen ist die Debatte um Faruk Sens Satz, die Türken seien „die neuen Juden Europas“: Die notorischen Westliche-Werte-Verteidiger, für die diese Werteverteidigung vor allem im Schlechtmachen einer Minderheit besteht, wünschen Herrn Sen zum Teufel, also in die Rente. Wer dagegen der „Islam-ist-Faschismus“-Sekte nicht angehört, wirft sich an der Seite von Faruk Sen in den Kampf.
 
Wenden wir uns also dem zu, was Faruk Sen gesagt hat: Die Türken sind die „neuen Juden“ Europas. Das ist reichlich blöd, insbesondere vor dem Hintergrund des Holocaust, mit dem sich die Diskriminierungen, denen Türken hierzulande ausgesetzt sind, nicht einmal vergleichen lassen, wenn man delirös übertreibt. Freilich hat Herr Sen diesen Satz gesagt, um Diskriminierungen entgegenzutreten, denen Juden in der Türkei ausgesetzt sind. Und damit hat er gesagt: Das, was in der Türkei den Juden widerfährt, ist das, was in Europa den Türken widerfährt. Damit verfolgte Sen nicht nur moralisch ein durchaus lauteres Ziel mit seiner Formulierung, mehr noch, sie ist nicht einmal so ganz falsch. Natürlich kann man, wie schon Sergey Lagodinsky gestern an diese Stelle ausführte, die Diskriminierung der Türken heute mit der historischen Diskriminierung der Juden in Europa oder etwa auch in muslimischen Ländern vergleichen.
 
 
Aber dennoch hat so ein Satz einen Subtext, allein schon, wenn er von einem – wenn auch türkischen – Deutschen gesprochen wird, der gar nicht anders kann als diesen Satz im Bewusstseins des Chiffres „Juden=ultimatives Opfer“ zu sprechen. So hat ein solcher Satz immer auch eine zweite Bedeutung: man will sich als Minderheit in eine Opferposition bringen.
 
Das ist uns heute so geläufig, dass uns gar nicht mehr auffällt, wie bemerkenswert das ist. Denn es ist doch keineswegs ausgemacht, dass eine Minderheit, die um ihre Anerkennung kämpft, sich als ohnmächtig darstellt. Es wäre doch durchaus auch denkbar, dass sie sich als stark darstellt, dass sie alle rhetorischen Tricks darauf verwendet, als ebenbürtig zu erscheinen statt als schwach.
 
Tatsächlich ist es wirklich so, dass bis vor dreißig Jahren Ethnien und Minoritäten, die für ihre Rechte eintreten, nicht sonderlich viel Energie darauf verwandt haben, sich als ultimative Opfer zu präsentieren. Erst in den sechziger Jahren setzte dies ein. Nahezu jede diskriminierte Ethnie wollte die eigene Diskriminierung mit „Völkermord“ und „Genozid“ in Zusammenhang bringen. Sehr schnell wurden diese Verbrechen historisch aufeinander bezogen: das Geschick des vietnamesischen Volkes wurde mit dem Genozid an den Juden identifiziert, jede koloniale Unterdrückung wurde auf die gleiche Stufe wie der Genozid am vietnamesischen Volk gestellt usw. Eine oberflächliche Betrachtung könnte nun nahelegen, dass unterdrückte und diskriminierte Völker und Minderheiten sich einfach ein Beispiel an den Juden genommen haben, die nach dem Holocaust das schlechte Gewissen der Täter, vor allem aber jener Länder, die den Judenmord nicht entschieden genug verhindert haben, mobilisiert haben. Es ist dies aber selbst eine sehr fragwürdige These, da auch im jüdischen Diskurs in der Diaspora und im neugeschaffenen Staat Israel diese Identitätsproduktion über die Opferrolle in den fünfziger Jahren weitgehend unbekannt war. Zwar spielte der Holocaust als Hintergrund der Gründung Israels eine Rolle (vor allem im praktischer Hinsicht, weil man einen Ort für die Überlebenden brauchte, die als „Displaced Persons“ in Europa keine Zukunft hatten), aber es wurde weder unter Juden in Europa noch in Israel viel darüber geredet. Individuell saß bei den überlebenden Juden das Trauma zu tief, kollektiv wollte sich Israel eher als stark und zukunftsfroh verstehen, nicht als Land der Opfer.
 
Auch in Israel setzte der Diskurs, der die Selbstlegitimation, die Raison d’Etre des Landes mit dem Genozid an den Juden Europas verband, erst in den sechziger Jahren ein, zur selben Zeit also, als die Anschuldigung, eine Mehrheitsgesellschaft oder ein mächtiges Imperium würde einen „Völkermord“ an einem wehrlosen Volk begehen, zum Standard der politischen Propaganda wurde – und zwar unabhängig davon, ob der Vorwurf stimmte oder nicht. Es scheint also weniger so zu sein, dass das ultimative Verbrechen des Judenmordes einfach alle anderen diskriminierten Ethnien dazu einlud, sich als die „neuen Juden“ darzustellen, sondern dass die Moralisierung der politischen Diskurse und die wachsende Bedeutung der Menschenrechte in der internationalen Politik seit den sechziger Jahren dazu geführt hat, dass Bevölkerungsgruppen, die um ihre Anerkennung kämpfen, viel gewinnen können, wenn sie sich als Opfer darstellen. Man rüttelt die internationale Öffentlichkeit wach, indem man sich als wehrloses Opfer präsentiert. Allerdings: Angesichts der knappen Ressource Aufmerksamkeit führt das gelegentlich zu einem Wettlauf, wer am meisten Opfer ist.
 
Dies untergräbt auch die wechselseitige Solidarität von Diskriminierten, es kann auch zum Neid auf die anderen führen, denen man vorwirft, sie würden ihr Opferprivileg ausschlachten, obwohl man selbst doch viel mehr diskriminiert ist. Man soll das nicht verschweigen: Auch solches ist zu hören – oder besser: subtil zu spüren – im türkischen Diskurs über die Juden. Unter radikalen Schwarzen in den USA klag das nicht viel anders übrigens, als die Bürgerrechts-Koalition zwischen jüdischen und schwarzen Amerikanern in den siebziger Jahren porös wurde. 
 
All dies lässt sich aber nur vor dem Hintergrund eines Wettlaufs um die Opferposition erklären. Die Opferposition kann strategische Vorteile bringen. Freilich auch einen langfristigen negativen Folgeeffekt, namentlich: Selbstviktimisierung. Es ist für den Einzelnen nicht gesund, sich stets nur als Opfer zu fühlen, und es ist für die Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe noch viel ungesünder, wenn sie sich über lange Zeit gegenseitig darin bestärken, dass sie Opfer sind, den schrecklichsten Diskriminierungen ausgesetzt, sodass sie tatsächlich ja keine Möglichkeiten hätten, an ihrem Geschick etwas zu ändern. Leicht richtet man sich dann ein in der Lage, die man beklagt. Man will in seiner Rolle als Opfer entschädigt werden, aber man will diese Rolle nicht mehr verlassen. Oft führt das sogar zu ehrlichen, nichtsdestoweniger aber neurotischen Identifikationen mit Opfern.
 
Selbstviktimisierung schadet den Diskriminierten. Es steht freilich der Mehrheitsgesellschaft schlecht an, darüber die Nase zu rümpfen. Mag die Opferposition auch eine Falle sein, in der sich die Diskriminierten leicht verfangen, so ist die Diskriminierung meist dennoch real.

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