Chaostage in Wien

Zehn Jahre nach Blair suchen Europas Sozialdemokraten nach einem neuen Mittelweg: dem zwischen Realpolitik und Linkspopulismus. Für Wiens Kanzler Alfred Gusenbauer führte er schon mal ins politische Aus. Berliner Zeitung, 9. Juli 2008

 
Am Schluss war es ein Ende mit Schrecken: Nach eineinhalb Jahren Grabenkrieg in der Regierung und zuletzt hektischen Chaostagen in der österreichischen Sozialdemokratie ist die Große Koalition in Österreich zerbrochen. Kanzler Gusenbauer, der bereits vor zwei Wochen seinen Sessel als Parteichef geräumt hat, wird nicht mehr als Spitzenkandidat für seine Partei ins Rennen ziehen. An seiner Stelle wird der bisherige Infrastrukturminister Werner Faymann die SPÖ anführen. Nun gibt es immer konkrete und lokale Gründe für solche Krisen und so natürlich auch in diesem Fall zuhauf: Gusenbauers eigenwilliger persönlicher Führungsstil ist ebenso für das Debakel verantwortlich wie die heftigen Animositäten zwischen den beiden großen Parteien – Sozialdemokraten und die konservative Volkspartei –, die beide lustlos und nur deshalb in diese Koalition gingen, weil es kaum realistische Alternativen gab.
 
Doch ist, abseits des Lokalen, die Orientierungslosigkeit der österreichischen Sozialdemokratie auch ein Lehrstück für die Identitätskrise der europäischen Mitte-Links-Parteien im Allgemeinen. Zehn Jahre ist es gerade her, da prägten Politiker vom Schlage Tony Blair, Gerhard Schröder oder Romano Prodi die europäischen Sozialdemokratien. Auf der Welle des dotcom-Booms, von New Economy und Börsenhausse legten sie allen Ton auf wirtschaftsliberale Reformen. Aber die Verlierer des Wandels, die einfachen Leute, traditionell das Klientel der Sozialdemokraten, sahen sich immer weniger von diesen Parteien repräsentiert. Davon profitierten in Österreich die Rechten, in Deutschland die Linkspartei, anderswo eher exzentrische Protestpolitiker.
 
Ein Dilemma für die klassischen sozialdemokratischen Parteien, vor allem da, wo sie an der Regierung sind. Umstellt von vielfachen Sachzwängen – sei es ein Koalitionspartner, sei es die globale Ökonomie, sei es die Demographie –, können sie nicht einmal verhindern, dass die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter aufgeht, von „mehr Gerechtigkeit“ ganz zu schweigen. Doch angesichts der Gefahr, dass immer mehr ihrer Anhänger von der Fahne gehen, erliegen sie bisweilen auch der populistischen Versuchung. Sie sind hin und her gerissen zwischen Regierungspragmatik und Sozialrhetorik. Sie wissen nicht, was sie wollen. Und sie haben keine kohärente Geschichte zu erzählen, wohin die Reise mit ihnen gehen soll.
 
In Österreich äußerte sich dies zuletzt in einer ebenso verzweifelten wie panischen Anbiederung an den Boulevard. Gusenbauer und Faymann hatten vorvergangene Woche in einem ranschmeißerischen Brief an den mächtigen Herausgeber der „Kronen-Zeitung“ eine 180-Grad-Wendung in der Europapolitik ihrer Partei verkündet. Die Europäische Union müsse eine Sozialunion werden, künftige EU-Verträge sollen jetzt auch in Österreich einer Volksabstimmung unterzogen werden, ließen sie wissen. Auch wenn man dem grundsätzlich etwas abgewinnen kann, hat das doch einen strengen Geruch, wenn es als Kotau vor einem Revolverblatt daher kommt, das gerade monatelang Anti-EU-Hetze betrieben hatte. Damit liebäugelt die SPÖ-Führung mit dem antieuropäischen Ressentiment, das in simpler Manier „Brüssel“ auf „Neoliberalismus“ reimt. Diesen Kurswechsel nützte nun die Volkspartei zum Ausstieg aus der Koalition.
 
Werner Faymann, der designierte SPÖ-Chef, wird den Wahlkampf nun wohl mit mehr als einer Prise Linkspopulismus würzen, was umso skurriler ist, als der ehemalige Wiener Jusochef Zeit seines Lebens als Machtmechaniker galt, dem böse Zungen nachsagen, er könne keine linken Überzeugungen über Bord werfen, weil er nie welche hatte. Wie nahezu überall in Europa wünscht sich auch die SPÖ-Basis ihre Partei als Schutzmacht der kleinen Leute. Nicht wenige hoffen, Faymann würde ein wenig den Lafontaine machen.
 
Aber vielleicht wäre die besser Referenzfigur Laurent Fabius. Der französische Ex-Premier hatte ja beim Referendum über den EU-Verfassungsvertrag anders als die Parteiführung zum „Nein“ aufgerufen und die linken Euroskeptiker angeführt, wortreich jenen Neoliberalismus angeprangert, den er als Regierungschef noch exekutiert hatte. Frankreichs Sozialisten haben sich davon bis heute nicht erholt.
 
Zehn Jahre nach Blair suchen Europas Sozialdemokraten stolpernd nach einer neuen Art von Mittelweg: dem zwischen Realpolitik und Sozialprotest. Die Landkarte, auf welcher der zu finden ist, muss aber erst noch gezeichnet werden. Für Alfred Gusenbauer, Wiens glücklosen Kanzler, führte er jedenfalls schon ins politische Aus.

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