Unsichtbare Hand, eiserne Faust

Mehr Sicherheit durch „Nulltoleranz“? Die Freunde des neoliberalen
Minimalstaates werden zu Agenten des strafenden Maximalstaats, wenn sie
mit den Verlierern zu tun kriegen. Loïc Wacquants monumentale, zornige
Studie „Bestrafen der Armen“. taz und Falter, Literaturbeilage, Herbst 2008

Verbrechen, Marodeure, Delinquenz
allüberall. „Es kann jeden treffen“, so die allgemeine Auffassung.
Beinahe-Totschläger in der Münchner U-Bahn, Totschlag in Wien im
Drogenrausch. Der Boulevard liefert uns den täglichen Kitzel. Für die
Politik ist es ein gefundenes Fressen. „Volle Härte“, plakatierte
Österreichs Volkspartei im vergangenen Wahlkampf. Frankreichs Präsident
Nicolas Sarkozy schaffte seinen kometenhaften Aufstieg, weil er sich
als „Law and Order“-Politiker positionierte. Aus den USA kommen seit
Jahren Politikrezepte mit schneidigem Namen: „Nulltoleranz“ oder „Three
Strikes And You Are Out“. „Null-Toleranz“, fordert auch Hessens
Ministerpräsident Roland Koch. Kriminalitätsbekämpfung,
brutalstmöglich.
 
Eine neue Straflust schleicht sich ein,
ein „Gefahren-, ja Katastrophendiskurs“, so der aus Frankreich
stammende, in Berkeley lehrende Sozialwissenschaftler Loïc Wacquant.
Die Gefängnisse quellen über – nach US-Vorbild wir mehr und länger
eingesperrt und mehr und mehr Delikte werden unter Strafe gestellt.
Diese „Kriminalitätspornographie“ steigert das subjektive
Unsicherheitsgefühl, beruhe aber keineswegs auf Tatsachen: Die
Nulltoleranz-Politik in den Vereinigten Staaten und der
explosionsartige Anstieg der Gefängnispopulation setzten zu einem
Zeitpunkt ein, als die Kriminalität bereits begann, merklich
zurückzugehen. Auch hierzulande stehen die politisch-medialen
Panikattacken in einem Missverhältnis zur kriminalstatistischen
Realität. Gewaltverbrechen sind seit Jahren rückläufig – teilweise, wie
etwa bei den ganz schweren Delikten wie Mord, sogar signifikant.
Alleine die Einbruchskriminalität nimmt zu und die Anteil junger
Migranten an der Delinquenz. Wobei letzteres möglicherweise ein
Beobachtungsphänomen ist: Weil mehr hingesehen wird, weil die Toleranz
gegenüber Ordnungswidrigkeiten sinkt, steigen die Anzeigen.
 
Alles Panik also? Oder ist gar System
dahinter? Wacquant, ein engagierter Kriminalsoziologe im Geiste Pierre
Bourdieus ist entschieden zweiterer Meinung. Ein veritabler Kampf gegen
die Armen spiele sich vor unser aller Augen ab. Die „Bestrafung der
Armen“ ist für ihn die düsterste Seite des Neoliberalismus. Das mag
widersprüchlich klingen: Ist der Neoliberalismus doch für den schlanken
Staat, für den Abbau der staatlichen Autorität. Dieselbe Ideologie, die
im Ökonomischen den Minimalstaat favorisiert, soll in der
Gesellschafspolitik für den harten, den strafenden Maximalstaat
verantwortlich sein? Kein Widerspruch, so Wacquant: Die „unsichtbare
Hand“ ballt sich, sobald sie es mit den Verlierern zu tun hat, zur
„eisernen Faust“.
 
Der Neoliberalismus präsentiert Arme
als Täter. Dieser Diskurs zieht sich nicht nur durch die
Sicherheitspolitik, sondern auch durch die Sozialpolitik. Wer von
staatlicher Wohlfahrt abhängig ist, ist faul, moralisch verkommen,
liegt „uns“ auf der Tasche. Auch die Sozialsysteme werden mehr und mehr
zu bürokratischen Arrangements modelliert, die die Bedürftigen
„kulturell wie Kriminelle behandeln“. Wer auf Hartz-IV ist, unterliegt
einem ausgeklügelten Kontrollregime, wird mit Sanktionen für jede Form
nichtkonformen Verhaltens bedroht, ist intensiven
Überwachungsprogrammen unterworfen, die an „Bewährungsstrafen für
Verurteilte oder auf Bewährung Entlassene“ erinnern. Wer Bezieher von
Wohlfahrtsleistungen ist, erlebt den Staat als Obrigkeitsstaat, der ihn
anhält, jede Arbeit anzunehmen. Der Kampf gegen jede Form der Devianz
ist insofern nur ein Element einer umfassenden Ideologie.
 
Wacquant schildert detailliert,
materialreich (gelegentlich ausufernd) die Auswüchse dieser Politik.
Und er ist ein parteiischer, ein zorniger Wissenschaftler: Dass
linksliberale und sozialdemokratische Parteien einstimmen in dem Chor,
der alle Armen zu potentiellen Tätern und alle Täter zu menschlichem
Unrat stilisiert, macht ihn wütend. Und er setzt bekannte Argumente
entgegen, die heute leider allzu oft vergessen werden: Mehr und höhere
Strafen haben keinerlei Auswirkungen auf die Kriminalitätshäufigkeit.
Allenfalls mehr und sichtbarere Polizeipräsenz im Stadtbild kann von
dieser Seite zu mehr Sicherheit beitragen. Ohnehin, wenn Kriminalität
explodiert hat das primär mit demographischen Faktoren zu tun. Wo viele
Jugendliche unter 25 Jahren auf engem Raum leben, wird die Kriminalität
ansteigen. It’s demography, stubid.  Deswegen explodierte die Gewalt in
den sechziger Jahren in den amerikanischen Innenstadtquartieren – und
deshalb ging sie auch wieder zurück. Ansonsten ist Sozialpolitik die
einzige nachhaltige Sicherheitspolitik.
 
Eine intelligente Strategie zur
Bekämpfung der Kriminalität muss zur Kenntnis nehmen, schreibt
Wacquant, „dass delinquente Handlungen das Produkt nicht eines
einzelnen, autonomen Individuums mit abartigen Wünschen oder bösartigen
Zielen sind, sondern eines Netzes von vielen verschiedenen, nach ganz
unterschiedlichen Logiken verknüpften Ursachen und Gründen
(Triebhaftigkeit, Selbstdarstellung, Entfremdung, Demütigung,
Grenzüberschreitung, Angehen gegen Autorität usw.).“ Somit bräuchte es
auch vielfältige Gegenmittel. Das Strafgeheul mag Rachegefühle
befriedigen, ist aber nutzlos. Wer so vernünftig argumentiert, der darf
heute freilich damit rechnen, dass man ihm vorhält, er würde „die Täter
entschuldigen“.
 
Tatsächlich produziert der
Neoliberalismus die Verbrechen, die er zu bekämpfen vorgibt: Wer
Menschen in Chancenlosigkeit hält, braucht sich über die Folgen nicht
zu wundern. Wer die Bedürftigen – am Sozialamt, in der Polizeistation,
vor Gericht – als Objekte staatlicher Reglementierung behandelt und
nicht mit Respekt, wird die intuitive Loyalität zur staatlichen Ordnung
untergraben, auf der letztlich jede Rechtsordnung beruht. Würden die
Menschen die Gesetze nur aus Angst vor Strafe befolgen, es herrschte
Gewalt und Chaos – denn soviel Polizei kann man gar nicht auf die
Straße schicken, um dann noch Sicherheit zu gewährleisten. Wer den
Exkludierten auch noch polizeilich nachstellt, wird deren Gefühl,
ungerecht behandelt zu werden, nur verstärken. Schließlich: Wer zu hart
und zu schnell einsperrt, raubt der Gefängnisstrafe ihre abschreckende
Wirkung. Wenn in bestimmten Vierteln aus jeder Familie jemand einsitzt,
dann „verkehrt sich die negative symbolische Besetzung der
Gefängnisstrafe in ihr Gegenteil“ – dann wird die Gefängnisstrafe zum
„Abzeichen männlicher Ehre“.
 

Loïc Wacquant: Bestrafen der Armen. Die
neue Regierung der sozialen Unsicherheit. Übersetzt von Hella Beister.
Verlag Barbara Budrich, 360 Seiten, 29,90.- Euro

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