Er malt uns eine bessere Welt

Die Erwartungen sind überlebensgroß. Aber Barack Obamas Wahl kann der Auftakt einer neuen progressiven Ära werden. Was sich moderne Politiker vom nächsten US-Präsidenten abschauen können. Falter, 12. November 2008 

  

Es war ein paar Tage vor der historischen US-Wahl, da klingelte Don Rose an der Tür eines Vorstadthauses. Eine ältere weiße Frau öffnete dem 78jährigen Obama-Wahlhelfer. Der hält ihr Informationsmaterial unter die Nase. Die Frau dreht ihren Kopf und ruft ins Haus zurück: ‚Joe, für wen stimmen wir doch gleich?‘ – ‚We are voting fort the nigger‘, bellt ein tiefe Stimme zurück. ‚Wir wählen den Neger.‘

 

Eine kleine Geschichte einer Wahl, die Geschichte schrieb. Die Wahlbeteiligung erreichte den höchsten Stand seit 1908. Erstmals seit 44 Jahren erhielt ein demokratischer Kandidat mehr als 51 Prozent der Stimmen. 65 Millionen Amerikaner votierten für ihn – noch nie hat ein US-Präsidentschaftskandidat mehr Stimmen erhalten als Barack Obama. 68 Prozent der Jungwähler stimmten für den schwarzen Kandidaten. Allein am Tag vor der Wahl klopften Obamas freiwillige Helfer an eine Million (!) Türen in Ohio. Und: Erstmals seit einem Vierteljahrhundert stand weder der Name Bush noch der Name Clinton am Stimmzettel.

 

Es ist eine dieser Basisüberzeugungen westlicher Retro-Linker, dass die USA eine sehr ausgedünnte demokratische Kultur hätten, mit chronisch niedriger Wahlbeteiligung, einem System der Wählerregistrierung, das vor allem Schwarze und Arme notorisch ausschließt und mit Regierungen, die sich an das Big Business verkaufen. Und dann eine Wahl wie diese, eine Nacht wie die von Chicago. „Diese Wahl in einer der ältesten Demokratien der Welt sah aus wie eine in einer brandneuen Demokratie, mit Bürgern, die aus ihren Häusern strömen und auf den Straßen tanzen, eine Velvet Revolution – eine sanfte Revolution“, schrieb das Magazin Time.

 

„Gratulieren wir uns dazu, in einem solchen Moment am Leben zu sein“, schreibt William Greider, einer der Großen der US-Publizistik, in The Nation, der ältesten amerikanischen Wochenzeitung. Der Essayist Michael Lind fügt hinzu: „Obama kann George Washington, Abraham Lincoln und Franklin Delano Roosevelt auf der kurzen Liste jener amerikanischen Präsidenten folgen, die, dank ihrer Fähigkeiten aber auch Dank des Timings ihrer Wahl, eine Neubegründung der Vereinigten Staaten präsidierten.“ Und Todd Gitlin, linker Soziologieprofessor an der Columbia University, sagt schlicht: „Lasst das 21. Jahrhundert beginnen. Endlich.“

 

Anders als in hiesigen Kreisen des abgeklärten Zynismus, in denen man sich schon ganz sicher ist, dass ein Präsident Barack Obama nicht allzu viel bewegen werde, weil aus Amerika nie Gutes komme, und außerdem Pathos! Personenkult! ganz igitt sind, sind die Erwartungen des progressiven Amerikas ziemlich hoch. Man kann sagen: Obama hat den „Liberals“ etwas sehr Amerikanisches zurück gegeben – ihren Optimismus. Eine Woge der Euphorie geht durch’s Land. Bürgerrechtsgruppen, Aktivistengruppen wie moveon.org, Basisinitiativen wie „democracy-now!“, sehen Obamas Wahl als ihren Sieg. Jesse Jackson, der bei Martin Luther Kings Ermordung neben dem legendären Bürgerrechtler stand, liefen die Tränen über das Gesicht. Übrigens, als Kings Witwe Coretta Scott King 2006 verstarb, saß Obama beim Begräbnis neben Ethel Kennedy, der Witwe von Robert „Bobby“ Kennedy, der 1968 erschossen wurde. „Jetzt musst Du die Stafette übernehmen“, flüsterte sie Obama ins Ohr. „Da lief mir eine Gänsehaut über den Rücken“, erzählte Obama später.  

 

Die Erwartungen sind überlebensgroß und Barack Obama weiß das. „Dieser Barack Obama scheint ja ein ganz großartiger Kerl zu sein“, scherzte er einmal im Wahlkampf im engsten Kreis. Und fügte hinzu: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dieser Barack Obama bin“. Allgemeines Gelächter.

 

Was kann man von Obama lernen?

 

Vergleichen wir dieses Geschehen nur mit dem, was der politische Alltag in Europa für uns bereit hält. Die einzige Leidenschaft, die gelegentlich im politischen Betrieb noch aufzuspüren ist, ist das niedrige Ressentiment; überall mediokres Technokratentum; die Bürger versinken in Politikverdrossenheit. Und welch ein Kontrast dazu sind Obamas USA. Vier Millionen Menschen engagierten sich freiwillig auf irgendeine Weise für seine Wahlkampagne – das wäre so, als würden in Österreich 150.000 Leute für einen Kandidaten Klinken putzen, von Haus zu Haus gehen, Geld sammeln oder Euros vom Haushaltsgeld abzweigen, damit ihr Favorit Werbevideos schalten kann.

 

Man darf sich darauf einstellen, dass spätestens seit Dienstag der Vorwoche jede politische Partei in unseren Breiten studiert, wie der das genau gemacht hat, der Obama – und sie werden ihn zu kopieren versuchen. Das wird eines gewissen Komikfaktors nicht entbehren. Graugesichtige Karrieristen werden sich in die flotte „Change“-Pose werfen, charismafreie Figuren, die sich in Apparaten hochgedient haben und deren „Bewegung“ aus Sektions-Vereinsmeiern besteht, werden cool „Yes we  can“ sagen, ihre Filmchen auf Youtube stellen und sich in Social-Network-Foren wie Facebook herum tummeln. Nützen wird es ihnen nicht viel. Einen besonders gruseligen Vorgeschmack auf das, was auf uns zukommt, erhielten bereits die Briten. Dort behauptete Premier Gordon Brown, er sei der britische Obama, der konservative Oppositionsführer David Cameron tat das selbe. Cameron hat mit Obama gemeinsam, dass sie beide jung sind, Brown teilt mit dem US-Star die progressiven Überzeugungen. Abgesehen davon gibt es natürlich keine auch nur entfernten Ähnlichkeiten. In Deutschland hofft der ermüdend solide Außenminister und SPD-Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier auf einen Obama-Effekt bei den nächsten Wahlen.

 

Obama taugt als Role-Modell wohl nur bedingt. Erstens ist er ein Jahrhunderttalent. Zweitens konnte er zur Verkörperung vieler Sehnsüchte werden, weil die USA einfach den schlechtesten, gefährlichsten und dümmsten Präsidenten seit langer Zeit hatten. Und drittens ist er ein Schwarzer, der in dem Land, in dem vor hundertfünfzig Jahren seinesgleichen als Sklaven gehalten wurden, einen historischen Durchbruch erzielte. Charaktereigenschaften und Umstände, die nicht kopierbar sind.

 

Aber dennoch kann man ein paar Dinge lernen. Vor zehn Jahren war er noch Sozialarbeiter in Chicago, dann machte er frühe Versuche als Lokalpolitiker in Illinois. Bei den ersten Schritten ist er übrigens ziemlich gestolpert. Als er im Jahr 2000 für den US-Kongress kandidieren wollte, flog er schon bei den Vorwahlen raus – die Demokraten in Illinois nahmen ihn nicht auf das Ticket. Charismatisch war er damals übrigens keineswegs, eher war er ein „pedantischer Schulmeister“, wie ein Beobachter beschrieb. Rhetorisch unbegabt, mit der besserwisserischen Arroganz des Harvard-Absolventen. Die nationale politische Bühne hat er erst im Sommer 2004 betreten – gerade einmal fünfzig Monate bevor er das wichtigste Amt der Welt eroberte. Obama kam vom Rande des Establishments. Er war am ersten Blick als einer zu identifizieren, der etwas Neues in die Welt der Politiker-Politik einführt. Keiner von „denen“.

 

Obamas wichtigstes Geheimnis: Kommunikation. Es ist geradezu frappierend – seine bisher wesentliche Leistung, abgesehen von diesem Wahlsieg, besteht im Reden. Zum Star hat ihn eine große Ansprache gemacht – die bei der demokratischen Convention 2004. Und er begeisterte die Menschen mit seiner Sprache. Es lohnt sich, Obamas Bücher und seine Reden genau zu analysieren. In Teilen der Blogosphäre, unter manchen kritischen Geistern und unter abgeklärten Realisten – einem Biotop also, in dem miesepetrisches Gekeppel zum Lebensgefühl gehört -, wird gerne am angeblich substanzlosen Wischi-Waschi von Obamas Rhetorik herumgenörgelt.

 

Obama hat seine Rhetorik sehr präzise entwickelt – dies wird umso deutlicher vor dem Kontrast seines Scheiterns in seinen ersten Anläufen. In einem Land, in dem sich rund 60 Prozent der Bürger als Konservative bezeichnen, formuliert Obama die politischen Haltungen der Demokraten und des liberalen Amerikas so, dass sie auch an die Instinkte dieser Bürger anschlussfähig sind. Übrigens ist diese Rhetorik historisch und philosophisch grundiert und speist sich aus zwei Quellen. Einerseits die traditionelle amerikanische Linke, die anders als die europäische Linke, den „herrschenden Staat“ nicht bekämpfte, sondern die Realisierung der egalitären Versprechen der amerikanischen „Idee“ einforderte – jene Linke, für die Woody Guthries „This Land is Your Land“ zur Hymne wurde. Die zweite Quelle ist die politische Philosophie des Kommunitarismus, die Gemeinschaftstugenden hochhält, die betont, „dass wir alle miteinander verbunden sind“, und die auch mit einem moderaten Konservativismus kompatibel ist. Damit setzte er sich von der bisherigen Kleingeisterei der Demokraten ab, die – ähnlich wie hierzulande Sozialdemokraten und Gewerkschaften – oft nur mehr partikulare „Interessen“ ihren jeweiligen Klientel artikulierten.

 

Aber er distanziert sich, und das fällt manchmal zu wenig auf, auch von Jargon des unorthodoxen Linksliberalismus und der Bürgerrechtsaktivisten, die die Multikulturalität und die Diversität einfach als „wundervolles Mosaik“ feiern. In einer Gesellschaft, die mehr und mehr auseinanderfällt, ist aber weniger das Problem, dass Unterschiedlichkeit nicht akzeptiert würde, sondern dass diese durch kaum etwas zusammen gehalten wird. Mit seiner „Wir“-Rhetorik macht er einen dicken Strich unter die alten Kulturkämpfe, in denen die Diversität der liberalen Moderne gegen die Homogenität des „true America“ stand.

 

Obama malte ein Bild: Das Bild einer Gesellschaft, in der nicht das „Dem Stärkeren freie Bahn“-Weltbild dominiert. Klar, das ist auch ein bisschen kitschig: Es zeichnet ein Gesellschaft von Menschen, die gemeinsame Werte teilen. Man kann sagen: Das entspricht nicht der Realität. Man kann aber auch sagen: Es ist eine performative Phantasie, die sich ein wenig allein dadurch realisiert, wenn man sie beschwört. Abgesehen davon ist diese Rhetorik auch eingeschlagen, weil die Amerikaner die aggressive Polarisierung, den Lagerkrieg, der seit der „konservativen Revolution“ Newt Gingrich‘ herrschte, einfach satt hatten.

 

Obamas Reden haben einen utopischen Überschuss – sie entwerfen eine „bessere Gesellschaft“. „Es gibt also nicht nur einen idealistischen, sondern auch einen machtstrategischen Idealismus. Die Wiedergewinnung der Macht und die Wiedergewinnung der Utopie sind zwei Seiten derselben Medaille“, wundert sich der Münchner Soziologe Ulrich Beck in der Frankfurter Rundschau.

 

Erst dies generierte jenes „Momentum“, das Obama dann genial nutzte – mit allen handwerklichen Tools. Viele Politbeobachter sind jetzt von Obamas Internet-Kampagne begeistert, die Maßstäbe setzte, von der methodischen Raffinesse, mit der seine Crew Millionen Wähler in Computerprogrammen katalogisierte. Aber sie übersehen dabei, dass sein Team „die neuesten Technologien und die altmodischsten Organisationstechniken benutze, um einen Graswurzelenthusiamus“ (New York Times) zu orchestrieren. Man vernetzte sich im Internet. Man bombardierte Unterstützer mit E-Mails. Aber mit dem Ziel, die Vernetzten zu Aktivisten zu machen, die sich die Hacken ablaufen. Man sollte  nicht vergessen: Wer keine Visionen hat, dem haucht kein Spin-Doktor Leben ein und dem nützt die beste Homepage nichts.

 

Franklin Delano Obama

 

Für Obama kommt jetzt der härteste Teil: regieren. Pragmatisch sein und doch nicht allzu viele Erwartungen enttäuschen. Er hat es schwer und in einem gewissen Sinne auch leicht – und zwar aus den gleichen Gründen. Obama übernimmt die USA in einer der vielleicht schwierigsten Phasen der vergangenen sechzig Jahre. Die Staatskasse ist leer, das globale Finanzsystem steht am Rande des Kollapses, der Wirtschaft droht eine Depression – und die USA sind das Epizentrum des Bebens. „In Krisenzeiten ins Amt zu kommen garantiert keine Größe, aber es kann eine gute Gelegenheit dafür sein“, sagt der Philosoph Michael Sandel in der New York Times lakonisch. „Man darf eine Krise nicht nutzlos verstreichen lassen“, formuliert Rahm Emanuel, als präsumtiver Stabschef des Weißen Hauses eine Zentralfigur des künftigen Obama-Orbit.

 

Immer wieder fällt jetzt der Name Franklin Delano Roosevelt, der des letzten wirklich großen Präsidenten der US-Geschichte. Er wurde 1932 ins Amt gewählt und war mit den Verwerfungen der Großen Depression konfrontiert, die dem Börsencrash von 1932 folgte. Roesevelt legte mit dem „New Deal“ nicht nur die Grundlage für den – unvollendet gebliebenen – amerikanischen Wohlfahrtsstaat, er entwickelte auch eine völlig neue Wirtschaftspolitik. Ohne „großen Plan“ übrigens – aber die Umstände machten es ihm einfach nicht möglich, „normal“ weiter zu machen.

 

Obama ist, was das betrifft, in der exakt gleichen Situation. Er wird improvisieren müssen. Er wird nicht alles neu machen. Mit Larry Summers und Robert Rubin hat er zwei Finanzminister der Clinton-Regierung in seinem engsten Kreis, mit Paul Volckers den Mann, der unter Jimmy Carter und Ronald Reagan Notenbankchef war. Jedenfalls, Kleinmütigkeit ist keine Option in diesen „interesting times“ (Nicolas Kristof). Obama hat sich im Wahlkampf für Umverteilung ausgesprochen, ein 150-Millionen-Dollar-Infrastrukturprogramm und eine allgemeine Krankenversicherung angekündigt, er wurde dafür von John McCain als „Sozialist“ punziert. „Amerika hat ihn dennoch gewählt“, sagt Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman: „Das ist ein wirkliches Mandat.“ Und fragt: „Kann Barack Obama eine neue progressive Ära begründen? Yes, he can.“ Schon ist von „Franklin Delano Obama“ die Rede.

 

Man wird sehen. Was er sich vorgenommen habe, könne man nicht in ein paar Jahren, nicht einmal in einer Amtszeit verwirklichen, hat Obama bei seiner Siegesrede schon einmal wissen lassen. Mit seinem Team, Wahlkampfleiter David Plouffe, Chefstrategen David Axelrod, mit Beratern wie Valerie Jerrett und Rahm Emanuel hat er die brillanteste und disziplinierteste Wahlkampagne aufgezogen, die Amerika je gesehen hat. Wer diesen Test besteht, dem darf man ruhig mehr zutrauen. „Nur Präsident sein zu wollen, das reicht ja nicht!“, sagte er im Frühjahr einem Reporter des Rolling Stone: „Man will doch ein großer Präsident sein.“

Ein Gedanke zu „Er malt uns eine bessere Welt“

  1. Ich persönlich bin mir relativ sicher, dass der Sieg von Barack Obama in erster Linie darauf zurückzuführen ist, dass er seine Kampagne so stark auf das Internet zentriert hat und damit verdammt viele Jungwähler angesprochen hat, aber darüber hinaus es auch geschafft hat, eben diese zu motivieren, selbst tätig zu werden, und für ihn quasi zu freiwilligen Wahlhelfern zu werden. Dazu habe ich kürzlich das Buch gelesen, das den Wahlkampf ganz treffend in die Richtung analysiert: http://prodialog.org/content/publikationen/buecher/obama

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