So arbeitet der Tod

Im Sommer 1995 starb mein enger Freund, der Schriftsteller Thomas Strittmatter in seiner Wohnung in Berlin. Wir wohnten damals übereinander. Im Jänner startet in Wien eine größere Retrospektive mit Arbeiten, Lesungen, Vorträgen von und über Thomas. Aus diesem Anlass hier schon einmal ein Text, den ich anlässlich Thomas‘ ersten Todestages 1996 in der Berliner Zeitung veröffentlicht habe.

 Viel Aufhebens hat er nicht gemacht um sein Leben. Thomas Strittmatter, der Dramatiker, Romancier und Drehbuchautor aus dem Schwarzwald, war am 29. August 1995 in Berlin gestorben. Abends, knapp vor neun, ist er im Bad seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, Rodenbergstraße, Vorderhaus, vier Treppen rechts, umgekippt. Das Herz stand still, plötzlich. Eine späte und zugleich frühe Folge des Aortaklappenfehlers, an dem er seit Jugendtagen laborierte.

Viel Aufhebens hat er nicht gemacht um sein Leben. Thomas Strittmatter, der Dramatiker, Romancier und Drehbuchautor aus dem Schwarzwald, war am 29. August 1995 in Berlin gestorben. Abends, knapp vor neun, ist er im Bad seiner Wohnung in Prenzlauer Berg, Rodenbergstraße, Vorderhaus, vier Treppen rechts, umgekippt. Das Herz stand still, plötzlich. Eine späte und zugleich frühe Folge des Aortaklappenfehlers, an dem er seit Jugendtagen laborierte.

Es war ein kühler Nachmittag, eine Wohltat für Strittmatter, der oft an Beklemmungen litt. Die letzten Lebensstunden am Kollwitzplatz, der letzte Grappa im „Torpedokäfer“, seiner Stammkneipe im Norden von Prenzlauer Berg, wurden von heftigen Bezeugungen der Fröhlichkeit begleitet. „Erstmals seit Wochen fühle ich mich wieder wunderbar“, sagte Strittmatter.

25 Minuten später war er tot.

Der Erzähler

Strittmatter verfügte über etwas, was man ein unsystematisches Vermögen zur Erinnerung nennen könnte. Manche Dinge vergaß er chronisch. „Kennst du den Aufsatz ,Der Erzähler` von Walter Benjamin?“ konnte er Freunde Dutzende Male fragen, um die zustimmende Antwort im Handumdrehen wieder zu vergessen. Man neigt dazu, Vorlieben eines Toten, Gedanken, die er faßte, Texte die er schrieb oder mochte, aus der Perspektive dessen zu deuten, der weiterlebt. „Ein Mann“, zitiert Benjamin den Erzähler Nicolai Lesskow, „der mit fünfunddreißig stirbt ( ) ist auf jeden Punkt seines Lebens ein Mann, der mit fünfunddreißig stirbt.“ Nichts, schreibt Benjamin, „ist zweifelhafter als dieser Satz“. Denn er wird bloß „dem Eingedenken an jedem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fünfunddreißig Jahren stirbt“.

Strittmatter starb mit dreiunddreißig.

Der Tod war Thema seiner Literatur. Der Tod des Korbflechters Hungerbühler im „Polenweiher“; der der Polin Anna im selben Stück. Der Tod vom Steinmetz in seinem Roman „Raabe Baikal“. Und der des „Viehjud Levi“ im seinem gleichnamigen Dramaerstling. In einem Interview sagte Strittmatter einmal: „Für mich ist der Tod ein großes schwarzes Nichts.“

Manche Weinflasche öffnete er mit dem Hinweis darauf, er müsse sich nun bald eine Schweineherzklappe einsetzen lassen. Das Todesthema strich er durch, indem er auf die moderne Medizin verwies – die er dann dennoch in buchstäblich radikaler Ignoranz nicht in Anspruch nahm. Und so war er schließlich doch schon zu Lebzeiten einer, der mit dreiunddreißig Jahren verstarb. Insofern, als für ihn mehr als für andere galt, daß die Zeit drängt, daß seine Zeit mehr drängt, als sie bei jedem drängt.

„Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann“, schreibt Benjamin und behandelt in der Folge den Tod in der Erzählung als Folie seiner Gedanken über den Tod des Erzählers. Die Neuzeit, so Benjamins These, tötet den Erzähler. „Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffend etwas erzählen können“, heißt es als Auftakt des Essays. Weil die Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, „im Kurse gefallen“ ist, wird die Erzählung von der Information getötet.

Gedanken, die eine spezifische Faszination auf Strittmatter ausübten. Er, der in den achtziger und neunziger Jahren schrieb, war so einer, der rechtschaffend etwas erzählen können wollte

Also ließ er sich, als er seinen Roman „Raabe Baikal“ schrieb, von Johann Peter Hebel inspirieren: „Dies war der Lauf der Zeit. In Asien wurden Revolutionen ausgedacht, geplant, durchgeführt und niedergeschlagen in der fernen Sowjetunion, in der Ukraine, drohte ein Atommeiler zunächst zu explodieren, dann aber zu schmelzen, um sich glühend mit dem Erdkern zu vermengen, hier wurde ein Spion enttarnt, ein anderer dort eingeschleust. Eine Feuersbrunst zerstörte die Stadt Lissabon “

St. Georgen, Schwarzwald

Er war einer, der sich in seinen eleganten Anzügen und den übergroßen Schuhen – die maßgeschneidert werden mußten, wegen seiner Senkfüße, aber glücklicherweise von der Krankenkasse bezahlt wurden – sehr bedächtig und still durch die Welt bewegte. Er sprach, wenn er denn sprach, langsam, manchmal quälend langsam.

In St. Georgen, einem kleinen Nest im Landkreis Villingen-Schwenningen, Schwarzwald, lebte seine Familie eng am Waldrand. Vom Fenster seines Jugendzimmers des elterlichen Hauses blickte er auf die unendlich grünen Wiesen der Sommerau, ein schmaler Pfad führte hinauf zu einem kleinen Weiher.

Als er, nach dem Abschluß des Gymnasiums, St. Georgen verließ, um in Karlsruhe Malerei zu studieren, siedelte er sich erst einmal am Stadtrand an – erst später wechselte er in das Stadtzentrum. Danach ging er nach München. Nachdem er Anfang der neunziger Jahre ein Stipendium des Literarischen Colloquium in Berlin antrat, beschloß er, es hierorts schöner zu finden als im noblen Kuhdorf im Bayrischen. Kurzerhand zog er hierher.

Doch er kehrte immer wieder zurück in den Garten vor dem Haus der Eltern und in die Welt der Geschichten des Vaters Emil. Es sind dies Geschichten von kleinen Leuten am Rande der Welt, die die Welt-Geschichte mal verschluckte, mal hinausspie in Gegenden, in die sie nicht zu geraten wünschten. Oder aber Geschichten vergessener Fertigkeiten, wie jene von dem Onkel, der den Schwarzwälder Speck derart kunstvoll zu räuchern versteht, daß ihm dies internationale Auszeichnungen eintrug. Dessen Päckchen erreichten Strittmatter noch bis zuletzt in seiner Berliner Wohnung und sie stärkten manche Zecher nach mancher langen Nacht.

Erzählungen, die der Erzähler Strittmatter im Ohr hatte. Die Figuren seiner Geschichten waren eher maulfaule Typen. Verbrecher waren nie nur Verbrecher, Opfer nie ausschließlich Opfer, Helden nie bloß Helden.

Mit seinem Erstling, „Viehjud Levi“, dem Drama, das er schon mit 17 Jahren geschrieben hatte, gelang ihm wohl der größte Erfolg seines Lebens. Als es in Stuttgart uraufgeführt wurde, war sein Autor gerade 21 Jahre alt. In den letzten Jahren machte er vor allem als Drehbuchautor von sich reden. Mit seinem Freund, dem Regisseur Jan Schütte, bildete er ein Erfolgsgespann. Zuletzt wurde „Auf Wiedersehen Amerika“, die ironisch-sensible Geschichte dreier polnischer und (deutsch-)jüdischer Emigranten aus New York, euphorisch gefeiert und mehrfach ausgezeichnet. Am Ende war er, der früh gefeierte Dramatiker, kein Bühnenautor mehr.

So arbeitet der Tod

29. August 1995. Thomas Strittmatter verabschiedete sich im Treppenaufgang des Hauses, in dem wir übereinandergelegene Wohnungen bezogen hatten. Er trug die Kiste, die ihm jeden Dienstag geliefert wurde und mit Kräutern und Gemüse aus biologischem Landbau vollgefüllt war, die vier Stockwerke hoch. Wir hatten Freunde geladen, die Rohfassung seines neuesten Filmes anzusehen. Ein paar Minuten vor neun fand ich ihn reglos in seinem Badezimmer, hingebogen zwischen WC, Dusche und Bidet. Die Notärzte, schnell herbeigerufen, taten ihre Arbeit. Am Ende mußte, um verstanden zu werden, der Arzt die Nachricht mehrmals wiederholen.

„Wir konnten nichts mehr tun.“

– „Was soll das heißen? Tun Sie doch etwas.“

– Laut: „Er ist tot.“

Ein Freund kam in jenem Moment bei der Tür herein und war mit einem Schlag todesbleich. Ein Mädchen brach heftig in Tränen aus. Das Telefon klingelte. Thomas Strittmatters Freundin fragt am anderen Ende der Leitung, ob er denn zu sprechen sei. In seiner Küche, die dem begnadeten Koch ein beinahe heiliger Ort war, versammelten sich die eintreffenden Freunde stumm, geschockt, umgeben von all den leeren Töpfen. Die halbe Flasche Obstschnaps, die in irgendeinem Eck gefunden wurde, war schnell geleert.

So arbeitet der Tod. „Das ist“, sagte der Notarzt, „als würde man einen Lichtschalter ausknipsen.“

Ein Gedanke zu „So arbeitet der Tod“

  1. „Wenn der Tag beginnt, ist noch lange Nacht…“
    So beginnt die Erzaehlung Milchmusik von Thomas Strittmatter, „und ich wuensche mir, ich koennte besser singen…“.
    Thomas ist ein grosser Schriftsteller, ein Visionaer, modern wie wenige.
    Danke Robert, dass Du die Aufmerksamkeit wieder auf ihn lenkst.
    Thomas darf nicht „Abandon-ware“ werden.
    Antonio

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