Vorwärts, und nicht vergessen

Die Fahrradfahrer für den Frieden starten Anfang Juli wieder ihre Tour quer durch Europa, von Paris nach Moskau. Dass man weite Distanzen auf sich nehmen muss, wenn man die Welt verändern will, ist tief im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verwurzelt. Der Freitag, 18. Juni 2009

 

Am 4. Juli geht es in Paris am Fuß des Eifelturmes los: Zum vierten Mal werden sich rund hundert Fahrradfreaks auf eine Tour begeben. 4.444 Kilometer von Paris bis Moskau. Eine Fahrradfahrt halt – zugegebenen eine etwas lange. Aber halt, an dieser Fahrt ist etwas Besonderes: Sie ist nicht nur Sport, sondern auch politisches Statement. Offiziell nennt sie sich „Bike for Peace und New Energies“. Strampeln für den Frieden, Pedaletreten für den Klimaschutz. Auch ein paar Solarmobile sind mit von der Partie. Die Botschaft wird durch die Streckenführung unterstrichen. Eine Etappe führt nach Verdun, das Schlachtfeld, auf dem im Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg Hunderttausende ihr Leben ließen. Buchenwald, Dresden, Lodz, Chatyn. Vilna, Europas Kulturhauptstadt Europas. Man könnte das fast eine Strecke des Grauens nennen. Hier haben in den vergangenen zweihundert Jahren die Völkerschlachten getobt: Napoleons Heer marschierte hier gegen Osten, auf dieser Strecke ließen die Nazis ihre Panzer rollen, hier stieß im Gegenzug die Rote Armee gegen Westen vor. Jede Wegmarke ein Massengrab. Zwischendurch werden Solar- und Windparks besichtigt und Firmen, die irgendetwas ökologisch sinnvolles produzieren.

 

„Man kann ja gar nicht anders, als an belasteten Orten durchzufahren“, sagt Konni Schmidt, der Vorsitzende Bikervereins. „Jeden Tag kommt man an eine Stelle, wo der Napoleon oder der Hitler durchgezogen sind.“ Dieses Jahr wird man etwa zum 65 Jahrestag des Warschauer Aufstands in der polnischen Hauptstadt einfahren.

 

Eine Friedensfahrt, die nicht durch die Menge ihrer Teilnehmer besticht. Nicht die Masse wird hier in die Waagschale geworfen, sondern die Ausdauer von ein paar. Die Entschiedenheit derer, die einen langen Weg auf sich nehmen. Das ist in unserem kulturellen Gedächtnis tief verwurzelt: Dass man weit gehen muss, um eine andere Welt zu erschaffen. Es ist ein biblisches Motiv: Schließlich hat schon Moses die Israeliten vierzig Jahre durch die Wüste geführt, bis die im gelobten Land ankamen. Genauer: Eine Generation ging durch die Wüste, erst die nachfolgende erreichte ihr Ziel. Moses sah das gelobte Land, aber kam nie an. Wie immer sich das real zugetragen haben mag, seither ist die Exodusgeschichte „eine Vorstellung von großer Wirksamkeit und Kraft im westlichen politischen Gedankengut“, wie der berühmte US-Sozialphilosoph Michael Walzer einmal formulierte. Noch Marx schrieb, wenn er vom Weg zum Sozialismus sprach, „das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt“. Weltverbesserung ist ohne Blasen auf den Sohlen also nicht zu haben.

 

Gewiss gibt es auch Gegenbilder im revolutionären Bilderfundus: Bilder des Erruptiven – der Sturm auf die Bastille, der Sturm auf das Winterpalais. Aber erstaunlich oft verbinden sich Vorstellungen von Nachdrücklichkeit mit der Überwindung großer Distanzen. Große Unternehmungen bleiben im historischen Gedächtnis, wenn sie mit Distanzüberwindung verbunden sind. Wer könnte sich noch an Hannibal erinnern, wäre er mit seinen Elefanten nicht quer durch die Alpen gezogen sondern nur ein paar Kilometer stiefelaufwärts in Italien? Mao Tse Tungs chinesische Revolution ist untrennbar mit dem „Langen Marsch“ verbunden, der seine Rote Armee von den östlichen Küstengebieten weit ins westliche Zentralland und dann in den Norden führte. Eigentlich eine Fluchtbewegung, die aber seine kommunistische Bewegung stabilisierte und die Moral des Gegners untergrub. Mit jedem Kilometer wuchs das Ansehen derer, die eine solche Distanz zu überwinden fähig waren. Nicht zufällig war auch der Höhepunkt der US-Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings „Marsch auf Washington“. Der dauerte zwar nur sechs Tage, aber die Ankunft am Lincoln Memorial war ein moralischer Triumph. „Wir können nicht umkehren“, sagte King in seiner berühmten Rede. „Vorwärts“ ist seit jeher eine emanzipatorische Catch-Phrase.

 

Lange Märsche, lange Fahrten haben aber auch noch ein weiteres, bemerkenswertes symbolisches Surplus: sie stellen eine imaginäre Verbundenheit dar. Indem Mao China gleichsam umrundete, schuf er ein Symbol für die Einheit des damals zersplitterten Landes. Indem die amerikanischen Bürgerrechtler das Land durchwanderten, illustrierten sie gewissermaßen ihre Idee von einem neuen Aufbruch „von Georgia bis Alabama“. Indem die Friedensfahrer über Frankreich, Deutschland, Polen, Litauen, Weißrussland nach Russland strampeln, evozieren sie ein Bild der Verbindung über früher umkämpfte Grenzen hinweg.

 

Denkt man über die Bilder nach, die solche Wege über lange Distanz in uns regelrecht automatisch aufrufen, dann stößt man schnell auf eine Paradoxie: Man geht zwar in eine Richtung, aber das Ziel ist die Umkehr. Schon Moses Weg durch die Wüste diente ja nicht nur dem Auszug aus der Unfreiheit und dem Einzug in ein Land, in dem die Juden in Freiheit leben sollten, die biblische Geschichte beschreibt den Marsch ja auch als Akt der Selbstbefreiung, der inneren Umkehr. Das Volk, das in der Sklaverei eine sklavische Gesinnung entwickelte, sollte diese erst einmal abwerfen („Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist“). Wer heute, und sei es nur aus selbsttherapeutischen Gründen, lange Märsche auf sich nimmt, hat oft die Idee einer Selbstveränderung im Kopf. Wer sich auf den Jakobsweg macht, der will als ein Anderer zurückkehren. Der Wunsch ist offenbar durchaus verbreitet, wie der Verkaufserfolg von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ beweist.

 

In der Bilderwelt des Politischen sind die „langen Märsche“ die Stärke der Schwachen. Es ist gewissermaßen das Gegenbild zur Revolution. Könnte die Weltveränderung in der nächsten Viertelstunde erledigt werden, könnte man sich mühselige Touren sparen. Mao machte sich auf den Marsch, weil Aufstandsversuche scheiterten. Dennoch war sein Marsch nur eine andere Form von Revolution. Viel leichter fügen sich Märsche natürlich in die Ikonographie der Reform ein – schließlich gehen sie Schritt für Schritt vor sich, so wie die Friedensfahrt von Etappe zu Etappe. Verdammt oft führen sie ins Nirgendwo: Wie der berühmte „Marsch durch die Institutionen“, von dem manche nicht ganz zu Unrecht (wenn auch nicht ganz zu Recht) sagen, er habe mehr die Marschierer verändert als die Institutionen. Womit gemeint ist: Nicht gerade zum Besseren.

 

Diese Gefahr zumindest droht den Friedensfahrern nicht. Wenn ihr Unternehmen auch sonst nichts nützen mag, ein Gewinn ist ihnen sicher: Fitness. Konni Schmidt freilich ist überzeugt davon, dass seine Fahrradtour auch dem Frieden nützt. „In Russland berichtet täglich das Fernsehen über uns. Und dann stehen Menschen am Straßenrand und winken uns zu. Für die ist das berührend, dass die Deutschen, die einst mit Panzern kamen, jetzt mit Fahrrädern kommen.“

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