Nützlich sein

Der Parteiapparat schottet sich ab, talentierte junge Leute werden chronisch frustriert und wie man an den zornigen kleinen Mann wieder rankommen kann, dafür gibt es offenbar kein Rezept. Es steht also nicht gut um die Sozialdemokratie. Aber das kann man ändern. Die Zukunft, September 2009

 

 

 

24 Prozent der Wählerstimmen erhielt die österreichische Sozialdemokratie bei den vergangenen Wahlen zum EU-Parlament. Angesichts einer Wahlbeteiligung von knapp über vierzig Prozent heißt das: Gerade einmal jeder zehnte Wahlberechtigte hat noch für die SPÖ votiert. Ziemlich läppisch für die einst mächtige Sozialdemokratie. Nun kann man einwenden, EU-Wahlen haben ihre eigenen Gesetze. Aber legt man die Nationalratswahl des Vorjahres zugrunde, sehen die Dinge nicht fulminant besser aus: Hier haben zwei von zehn Österreichern und Österreicherinnen die Sozialdemokratie gewählt. Es steht also offenbar nicht sehr gut um die Fähigkeit der SPÖ, Menschen an sich zu binden, ihre Stimme zu gewinnen. Von „für sich begeistern“ kann ohnehin schwer die Rede sein. Aber abseits dieser manifesten, gewissermaßen messbaren Krisensymptome gibt es noch eine Reihe weichere, schwerer zu beschreibende. So gibt es da eine gewisse Kleinmütigkeit, diese verdichtete Ahnung sozialdemokratischer Parteifunktionäre, dass man gegen den grassierenden Populismus ohnehin nicht gewinnen kann, weil gegen das Ressentiment, das der leicht ausnützt, scheinbar kein Kraut gewachsen ist. Der agiert zwar nur mit simplen Parolen, fühlt sich in diesen aber sicher, er ist gewissermaßen eins mit sich, während die Sozialdemokratie auf vieles keine Antwort hat und selbst ihre aktive Mitgliedschaft oft nicht zu überzeugen vermag. Die Slogans des Ressentiments, wie sie von „Krone“ bis FPÖ geschürt werden, sind ja längst in die Parteisektionen hineingesickert, und dem wird meist begegnet, indem man kommunikativ halb nachgibt, halb dagegen hält. Es gibt also innerhalb der Sozialdemokratie so etwas wie eine massive Überzeugungskrise, sodass der durchschnittliche sozialdemokratische Funktionär primär laviert. So nach der Art: Ja, wir wissen eh, mit den Ausländern da gibt es ein Problem, aber die Leute gegeneinander aufhetzen, das ist auch nicht gut. Zu oft schummelt man sich auf diese oder vergleichbare Weise durch, auch auf anderen Politikfeldern. Man war ein bisserl angesteckt vom marktliberalen Zeitgeist, nicht ohne bei besonderen Anlässen den Neoliberalismus zu verdammen. Man will ja nicht unmodern sein, und so preist man auch die Individualisierung, beschwört zwischendurch aber die soziale Wärme. So wissen die Leute letztendlich nicht, wofür die Sozialdemokraten stehen. Und warum? Natürlich, weil die Sozialdemokraten sehr oft selbst nicht mehr wissen, wofür sie genau stehen oder stehen sollen.

 

Wer als politischer Publizist so oder ähnlich die Lage der SPÖ analysiert, der sieht sich übrigens schnell dem Vorwurf ausgesetzt, er wolle die Sozialdemokratie nieder machen, oder er sei auf gemeine Weise einseitig oder gar, er besorge irgendwie das Geschäft der Konkurrenz. Natürlich ist das nicht der Fall, ja mehr noch: dass auf solche Weise reflexartig auf – ja: nicht einmal Kritik, sondern nüchterne Analyse des Offenkundigen – reagiert wird, ist selbst Teil des Problems. Man schließt die Augen vor der Realität, man schottet sich gegen alle und alles ab, errichtet eine Firewall, durch die nur ja keine Kritik, aber damit auch keine neuen Impulse hereinkommen.

 

Ich weiß sehr wohl, um nicht missverstanden zu werden, dass das menschlich sehr verständlich ist. Wer sich ohnehin stetig Kritik ausgesetzt sieht – berechtigter, überzogener, ungerechter oder der einfach herhalten muss für die Aversionen des zornigen Durchschnittsnormalbürgers – der fällt leicht in solche Reaktionsschemata. Wer würde nicht die Lust verlieren, auch nur ein normales Überzeugungsgespräch mit den Leuten zu führen, wenn man von denen in zwei von drei Fällen ohnehin nur beschimpft wird? Wer, sobald er die Zeitung aufschlägt, lesen muss, er mache alles falsch, umgibt sich ganz gerne mit Schulterklopfern, die ihm eine Gegenrealität zimmern. Wer käme nicht in Versuchung, sich in solcher Lage am liebsten primär mit Leuten zu umgeben, die alles super finden, oder zumindest sagen, dass sie eh alles super finden. Man kann das durchaus verstehen, bloß macht es die Sache nur schlimmer, weil es eine Spirale in Gang setzt: Wegen der Probleme kapselt man sich ab und das Resultat sind noch mehr Probleme.

 

Natürlich ist auch nicht alles nur hausgemacht. An einigen Aspekten der Malaise ist die Sozialdemokratie selbst schuld, manchmal ist sie aber auch nur Opfer des gesellschaftlichen Wandels und von Modernisierungsprozessen. Nehmen wir etwa die Frage, wie die Sozialdemokratie ihr Führungspersonal rekrutiert. Ohne Zweifel ist das Reservoir, aus dem die SPÖ personell schöpft, in den vergangenen Jahrzehnten deutlich kleiner geworden. Das hat mehrere Gründe. Einer ist der schon genannte: Man kapselt sich ab. Solange einem der Erfolg zuzufliegen schien, war es ja auch leichter, offen zu sein. Wenn man das Gefühl hat, dass einem der Wind ins Gesicht bläst, dann neigt man dagegen eher dazu, die Reihen zu schließen. Ist nicht klug, aber leicht erklärbar. Da die Sozialdemokratie heute nicht gerade hip erscheint, ist es für die meisten jungen Leute auch keineswegs attraktiv, sich in oder am Rande der Sozialdemokratie zu engagieren. Spezifisch kommt hier noch dazu, dass es gerade auf der linken Seite des politischen Spektrums für irgendwie aufgeweckte, rebellische junge Leute oder Menschen, die die Welt einfach verbessern wollen, sehr viele Möglichkeiten gibt, aktiv zu werden, ohne sich lähmende Parteiapparate antun zu müssen: Von NGOs bis kurzfristigen Internetaktivitäten, von Attac bis sonst wohin. Hier kann man protestieren und „echt“ bleiben, man muss sich nicht verbiegen. Anders als auf der konservativen Seite, wo der Weg von der Freiwilligen Feuerwehr in den Bauernbund und dann zur ÖVP oft ein sehr kurzer ist, führt auf der linken Seite zivilgesellschaftlicher Aktivismus nicht schnurstraks in Parteien – um das Mindeste zu sagen. Darunter laborieren die Grünen übrigens nicht viel weniger als die SPÖ. Hinzu kommt dann noch, dass die Aufstiegs- und „Sich-bewähren-müssen“-Rituale eines behäbigen Parteiapparats dem Taktschlag, den junge Leute heute gewohnt sind und erwarten, nicht entsprechen. Man kommt, wenn man einigermaßen talentiert ist, in jeder Firma schneller ins gehobene Management als in der SPÖ in irgendeine relevante Position. Das führt dann automatisch zu Negativauslese. Das ist sicher etwas grob gesprochen und ich stehe nicht an, zu sagen „Gepriesen seien die Ausnahmen!“, aber machen wir uns nichts vor: die Ochsentour tun sich in aller Regel die an, die anderswo keine großen Alternativen haben oder denen es an Biss fehlt, so dass es sie nicht weiter stört, zehn Jahre ohne große Ergebnisse herumzufuhrwerken. Die Talentierten gehen auf solche Art aber beinahe logischerweise verloren. Zumal, wenn junge Leute, die auch schon mal ein kritisches Wort gegen die Parteispitze erheben, gemobbt werden: Dann bleiben, spätestens wenn der Übertritt von SJ oder VSStÖ in die Partei fällig wäre, nur mehr die braven Ja-Sager übrig, die, was immer man sonst noch über sie Kritisches zu sagen hätte, vor allem nie gelernt haben, eine Position auch im Gegenwind zu vertreten, zu verteidigen, ja durchzukämpfen. Auch das nimmt dann übrigens schnell die Dynamik einer Negativspirale an: Weil Niedergang die Folge ist, gibt es weniger Posten und Mandate zu verteilen und die paar klugen, talentierten jungen Leute kommen noch langsamer voran, weil Altfunktionäre die Plätze okkupiert halten. Alles zusammen, also die lange Aufstiegdauer, die innerparteilichen Rituale (Charaktereigenschaften, die nützen, hier hochzukommen, sind nicht die Charaktereigenschaften, die man braucht, um bei den Wählern anzukommen), und die Abschottungspolitik, führen dann auch noch dazu, dass diejenigen, die durch diesen Prozess durchgehen, ins Parteisoldatische hingebogen werden, sofern sie nicht beinahe übermenschliche Kräfte besitzen, die das verhindern. Man taktiert sich so lange durch den Sitzungsdschungel, bis man kaum mehr in der Lage ist, einen untaktischen Satz zu sagen, mithin: so zu reden, dass einem die Leute auch verstehen.

 

Ich weiß schon: All das ist kein speziell österreichisches Problem und es ist nicht ein Problem der Sozialdemokratie alleine. Die klassischen Volksparteien sind durchwegs in der Krise, weil sowohl Ideologie als auch Tradition und soziale Lebenswelten ihre Bindewirkungen verloren haben und weil es heute nicht mehr nur drei, vier große, relativ homogene Milieus in einer Bevölkerung gibt, sondern viele, viele Submilieus, die sich durch Job, Lebenslage, Alter, Lifestyle und unzähliges weitere unterscheiden. Viele differente Milieus lassen sich nicht so einfach repräsentieren wie früher. Die Schwierigkeiten der Sozialdemokratien sind in Europa in nahezu jedem Land ähnliche. Das ist nicht zuletzt auch eine Folge jener „Modernisierung“, der die sozialdemokratischen Parteien in den vergangenen Jahren unterzogen wurden. Flexibilität der Arbeitswelt, das Loblied auf die Effizienz freier Märkte und auf den schlanken Staat haben sich auch die Sozialdemokraten antrainiert. Ihr Spitzenpersonal versuchte, „modern“ zu wirken, und das war gestisch oft nicht mehr vom Habitus der globalen „Winner Classes“ zu unterscheiden. Gerade die Verlierer und „kleinen Leute“, die Turbokapitalismus und beschleunigte Modernisierung in soziale Bedrängnis brachten oder zumindest unter Stress setzten, fühlten sich von einer solchen Sozialdemokratie nicht mehr repräsentiert. Ja, sie fühlten sich von überhaupt niemandem mehr repräsentiert, was ihren Zorn und ihr Gefühl, dass sich für sie ohnehin niemand einsetzt, ja, dass ihnen überhaupt niemand zuhört, noch verstärkte. Sie sind ein fruchtbarer Humus für Populisten, nicht nur in Österreich. Und wenn die Sozialdemokratien angesichts der globalen Finanzkrise beginnen, andere Töne anzuschlagen und leise umzusteuern, ist das längst kein Königsweg mehr zum Erfolg. Wer einmal verloren gegangen ist, ist schwer zurück zu holen, zudem fördern Kurswechsel natürlich keineswegs die Glaubwürdigkeit – auch notwendige Kurswechsel nicht. Im Gegenteil: Wer heute etwas anderes sagt als gestern, dem glaubt man erstmals eher nicht – selbst in dem Fall nicht, dass er heute das Richtige sagt.

 

Aber auch, wenn das die Dilemmata aller europäischer Sozialdemokraten sind, dann hat die SPÖ all diese Probleme auch – und noch ein paar eigene dazu. Stellen wir uns vor, wir fragen einen durchschnittlichen SPÖ-Spitzenfunktionär, wofür die Sozialdemokratie denn heute positiv steht und worin sie sich denn signifikant von anderen politischen Kräften unterscheidet? Wie er sich denn vorstellt, dass unser Land in Jahr 2020 aussehen soll? Die allermeisten hätten verdammt große Schwierigkeiten damit. Schnell würden sie wahrscheinlich sagen, dass die Sozialdemokratie entschieden gegen die xenophobe Hetze der Rechtsradikalen ist. Prima, jetzt wissen wir, wogegen sie ist (und selbst da kann man sich über das „entschieden“ nicht sicher sein, wenn der Gegenwind der „Krone“ zu stark wird). Aber wofür? Keine Ahnung. Dass so viele einfach nicht einmal mehr wissen, wofür sie stehen sollen, ist lange Zeit den meisten nicht einmal als Manko aufgefallen. Mit einigermaßen durchdachten Konzepten kann man in Österreich angesichts der Medienlage ohnehin nicht punkten (was im Umkehrschluss übrigens heißt, dass undurchdachte Konzepte keineswegs zerpflückt werden hierzulande), als viel wichtiger erachtete man, über „Medienarbeit“ kurzfristige Stimmungen – im wesentlichen über ORF und zeitungsähnliche Produkte wie „Krone“, „Heute“ und „Österreich“ – produzieren zu können, die am Wahltag dazu führen, dass man immer noch zwei Prozent vor der Konkurrenz liegt. Das „funktioniert“ sogar, zumal wenn man es mit einer Prise Negative Campaigning anreichert, wenn man unter „funktionieren“ versteht, dass man auch als Sieger aus einer Wahl hervorgehen kann, wenn man auf 29 Prozent abstürzt, sofern alle anderen noch weniger Zustimmung erhalten. Freilich, strategische Mehrheiten sind so nicht zu gewinnen.

 

Das Resultat ist eine innere Sklerose – nicht nur der Partei, sondern des gesamten demokratischen Prozesses. Es gibt zwar Wahlen, aber ein gefährlich hoher Anteil der Bürger hat das Gefühl, dass sie das nichts angeht, dass sie das abstößt, oder gar, dass sie „denen“ bei allen möglichen Gelegenheiten einen Denkzettel verpassen müssen. An diese Leute kommt man kaum mehr heran, und schon gar nicht mit „medialen Kommunikationsstrategien“, denn die Medien, über die man diese erreichen würde, sind ja Teil des Problems, und nicht der Lösung, sie stimmen das Land auf den Grundton, der es den Populisten so einfach macht, sie für sich zu gewinnen, selbst wenn diese Medien die Populisten gar nicht in einem engen Sinne unterstützen. Es gilt hier auf spezifische Art: Das Medium ist die Message.

 

Und gibt es aus all dem einen Ausweg? Ja, ich denke doch. Die Sozialdemokratie benötigt eine politische Programmatik und Konzepte, und sie muss sie so vertreten, dass die Leute merken: die meinen das ernst und glauben daran, die wollen uns nicht bloß häppchenweise doofe Slogans verkaufen. So kompliziert das klingt: Das ist wahrscheinlich noch die einfachste Seite der Chose. Denn eigentlich weiß, wer sich einigermaßen mit den Dingen beschäftigt, wie ein robuster Sozialstaat, eine soziale Marktwirtschaft, die möglichst vielen Menschen Teilhabe ermöglicht, ein gerechteres Steuersystem, eine engagierte Bildungspolitik, eine zukunftsfähige Familienpolitik und eine vernünftige Integrationspolitik in etwa auszusehen hätte. Würde man die nötigen Maßnahmen setzen, wären nicht alle Probleme gelöst und auch nicht von heute auf morgen, aber sehr viele Probleme wären innerhalb von einer Generation, also etwa von 15 Jahren, entschärft. Die sachliche Seite ist also kurioserweise nicht so sehr das Problem, das Problem besteht eher darin, wie man Mehrheiten dafür organisiert und erkämpft. Und das tut man sicher nicht, indem man sich einbunkert und den Leuten Versprechungen macht, an die sie selbst nicht mehr glauben (was dann die eigene Glaubwürdigkeit noch mehr untergräbt). Um das an einem Beispiel zu sagen: Man wird, wenn man die staatliche Rente garantieren und die Sozialsysteme leistungsfähig halten will, um eine Anhebung des Pensionsalters nicht umhin kommen. Dass der Kapitalmarkt auf mirakulöse Weise die Demografie überlistet, das haben die Grassers zwar den Leuten eingeredet, nur, heute weiß der Letzte, dass das Wunschdenken war. Aber eine Erhöhung des Rentenantrittsalters ist ja auch kein Problem – wer will denn schon mit 65 in Rente gehen, wenn er oder sie noch frisch und gesund ist? -, sofern es für die Leute genügend gute und erfüllende Jobs gibt. Und wenn die Jungen allesamt so gut wie nur möglich ausgebildet sind, wird auch die Wirtschaftsleistung so sein, dass wir uns das leisten können (nicht allerdings, wenn wir akzeptieren, dass sechs, sieben, oder zehn Prozent jeder Generation – vor allem Migranten – ohne Schulabschluss und mit eklatanten Bildungsmängel auf den Arbeitsmarkt geworfen werden). Mehr und sicherer Wohlstand für alle ist möglich, wenn man eine kluge Sozialpolitik macht, was heißt, wenn man in die Menschen – modern gesprochen: in Humankapital – investiert. Das ist nützlich für uns alle – und zudem auch noch sozial gerecht. Und eine solche kluge Politik fängt bei Babys an. Denn wer mit sechs Jahren kognitive Mängel kumuliert hat und das erst in der Schule auffällt, der ist ein geborener Verlierer. Wenn also ein paar wesentliche Parameter erfüllt sind, dann ist es vernünftig, das Rentenantrittsalter zu erhöhen. Das soll man den Leuten aber auch offen sagen – und nicht rumdrucksen, weil man Angst hat, die Stammklientel der Alten könnte darauf verunsichert reagieren. Realismus steigert nämlich auch die Glaubwürdigkeit und mit Ernsthaftigkeit gewinnt man Leute eher als mit rosarot gefärbten Good News, die einem ohnehin niemand abnimmt.

 

Noch wichtiger als die konzeptionelle oder programmatische Dimension ist aber womöglich die der sozialen Integration. Früher leistete die Sozialdemokratie soziale Integration – man könnte beinahe sagen: Sozialarbeit – über ihre Vorfeldorganisationen, über ihre Präsenz vor Ort, im Gemeindebau, durch die Sektionen. Das funktioniert heute nicht mehr. In den Gemeindebauten, in unterprivilegierten Wohngegenden, gibt es heute einen „Kampf der Kulturen“, relative „Etablierte“ (die autochtonen sozial Schwachen) stehen „Außenseitern“ (der immigrierten Unterschicht) gegenüber. Im Wesentlichen sind es städtische Behörden, die mit den Problemen umzugehen versuchen, die daraus entstehen. Und Behörden sind, mögen sie auf noch so sanften, bürgernahen Pfoten daher kommen, immer: Obrigkeit, Staat, „die da Oben, die uns da Unten was erklären wollen“. Daneben gibt es noch die Parteiorganisationen – Sektionen, Bezirkspartei etc.  Kaum jemand will sich hier engagieren, weil sich eben kaum jemand in einer Partei organisieren will. So führen die Sektionen ihre Schattenexistenz, sind auf das Binnenleben der Partei orientiert. That’s it. Aber jetzt stellen wir uns vor, die Sektionen verstünden sich als Zentren dessen, was man in den USA „Community Organising“ nennt, diese Mischung aus ehrenamtlicher Tätigkeit, zivilgesellschaftlichem Engagements und Sozialarbeit. Stellen wir uns vor, sie würden auch das „Partei-Label“ nicht besonders hervorkehren, sondern sie würden einfach Dinge tun, die von sehr vielen Leuten als nützlich angesehen werden – und zwar nicht nur von den betroffenen, sozial bedrängten Randgruppen, sondern auch von Bürgern, die das Geschick ihrer Mitbürger nicht kalt lässt und die auch ein persönliches Interesse daran haben, dass die sozialen Probleme in ihren Vierteln nicht zu groß werden. Stellen wir uns vor, diese Bürger, die keineswegs Sozialdemokraten sein müssen, machen dann hier mit, weil sie gerne bei etwas mitmachen, das sie als nützlich und wichtig erachten (und weil es sie nicht stört, dass das eine Partei ist, die das Nützliche macht, sofern nur etwas wirklich Nützliches gemacht wird). Selbstverständlich müssten die Parteimitglieder hier etwas lernen: dass die Parteiorganisation nicht in erster Linie für die Partei da ist, dass ihre erste Aufgabe nicht das Werben für die Partei ist und dass die alten Spielchen, das Markieren von Macht, die Leute nur abschrecken und exakt nichts bringen. Aber die Parteimitglieder hätten auch etwas davon: Sie wären wieder respektiert. Ihr Kontakt mit den Leuten würde sich nicht mehr darauf beschränken, dass sie für hundert Dinge beschimpft werden, für die sie gar nichts können. Sie würden sogar Leute für sich gewinnen, ohne dass sie extra „Wahlwerbung“ in irgendeinem klassischen Sinn betreiben müssten. Sie würden schließlich, was ja auch keine Kleinigkeit ist, das Sinnvollste tun, was man heute überhaupt tun kann. Und man wäre irgendwann mal möglicherweise wieder da, wo man schon einmal war, aber nur auf moderne Weise: Man kommuniziert direkt mit den Leuten, man kann sie im direkten Gespräch gewinnen und man hätte wieder Multiplikatoren, also zentrale Figuren in sozialen Milieus, die prägen, wie gesprochen und wie gedacht wird im Viertel, im Straßenzug, im Block. Man hätte sich zumindest ein klein wenig frei gespielt von dem Zwang, seine Botschaft soundbiteförmig über Medien transportieren zu müssen, die immer selbst bestimmen, welche Botschaft beim Empfänger ankommt – und auf welche Weise sie beim Empfänger ankommt.

 

Dies ist nur ein Beispiel, wie Dinge funktionieren könnten. Das Land ist nicht einfach auf einer schiefen Bahn. Es ist nicht so, dass man nicht gegensteuern könnte. Man kann. Wahrscheinlich in sehr vielen Bereichen. Und man muss nur eines tun: Beginnen, die Dinge anders zu tun, als man sie bisher gemacht hat.

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