Ist die Bildungsdebatte eine Wertedebatte?

Meine Rede an der TU vom vergangenen Freitag.

Liebe Freundinnen und Freunde,

 

ich danke Euch für die Einladung, hier zu sprechen. Das ist ja meine zweite öffentliche Lecture im Rahmen dieser Studierendenbewegung und ich muss Euch nicht sagen, dass das natürlich auch eine große Freude ist, solche Einladungen wahrzunehmen. 

 

Dies als Vorwort, sozusagen. Und jetzt zu meinem Thema, das ich so übertitelt habe: „Ist die Bildungsdebatte eine Wertedebatte?“

 

Vielleicht hat ja der eine oder die andere von Euch die Vorlesung gehört, die ich vor ein paar Wochen im Audimax gehalten habe. Die Rede handelte ja primär vom Thema „Freiheit“, aber in ein paar Absätzen habe ich mich darin auch mit dem Verhältnis von Interessen und Werten beschäftigt. Darin sagte ich:

 

„Ihr setzt Euch ein für Eure Interessen. Das ist, wenn man es so formuliert, eine zweischneidige Sache. Viele Leute setzen sich für ihre Interessen ein: Die Gymnasiallehrer setzen sich für die Partikularinteressen der Gymnasiallehrer ein, die Bauern für die Interessen der Bauern, die Piloten für die Partikularinteressen der Piloten, die Banker für die Interessen der Banker (die besonders erfolgreich). Es ist nicht automatisch emanzipatorisch, wenn sich Menschen für ihre Interessen einsetzen. Es kann sogar antiemanzipatorisch sein, dann nämlich, wenn sich alle für ihre Partikularinteressen einsetzen und wir am Ende in einer Gesellschaft leben, in der der Begriff „Gemeinwesen“ vollkommen hohl geworden ist, weil alle möglichen gesellschaftlichen Interessensgruppen gegeneinander konkurrieren. Es reicht also nicht, sich für seine Interessen stark zu machen. Man muss das schon auf Basis von Werten machen, von geteilten Werten.“

 

Ich möchte in dieser heutigen Lecture diese Spur wiederaufnehmen und etwas vertiefen und die Frage stellen, inwiefern die Bildungsdebatte eine Wertedebatte ist.

 

Schon wenn man diese Frage so stellt hat man natürlich Erklärungsbedarf. Wenn man das Wort „Werte“ in den Mund nimmt, denkt jeder gleich an die Leute, die sonst so gern das Wort „Werte“ verwenden: Leute, mit Geweihen an der Wand, Leute, die sich gern in Jankern mit Hirschknöpfen kleiden. An Leute, die am Sonntag in die Kirche gehen und am Montag Abschiebebescheide unterschreiben. Dann riecht’s irgendwie verdammt nach Weihrauch.

 

Da fällt mir als Anekdote die Wortmeldung eines Posters im Standard ein – sie wissen ja, diese Postercommunity ist ja ein Hort der Weisheit -, der folgendes schrieb, nachdem ich vergangene Woche in meinem Videoblog von Werten sprach: Misik sei ein Flipflop-Misik, der jede Woche etwas anderes behaupte. In der einen Woche Vorkämpfer des Neo-Marxismus und in der anderen Wertkonservativ.

 

Naja, das mit dem Neomarxismus kann man auch diskutieren, aber „wertkonservativ“? Das kann man natürlich nur behaupten, wenn man „Werte“ praktisch automatisch mit „konservativen Werten“ identifiziert. Und der zitierte Poster-Boy ist ja kein Einzelfall. Es kann ja als eines der bizarren Paradoxa der Gegenwart gelten, dass die Konservativen trotz ihres oft sehr zynischen Verhältnisses zur Moral und trotz ihrer oft menschenfeindlichen Haltungen – ich sage nur: Maria Fekter -, als die „wertorientierte“ Kraft gelten. In unserem Sprachgebrauch werden „Werte“ nahezu automatisch mit konservativen „Werten“ gleichgesetzt. Die Konservativen sind es, die die „wahren Werte“ hochhalten – und deshalb dafür sorgen, dass gleichgeschlechtliche Partner ihre Partnerschaft nur am Salzamt eintragen können – , die dauernd den „Werterelativismus“ oder den „Wertezerfall“ beklagen, überhaupt können die keine drei Sätze sagen, ohne dass das Wort „Werte“ fällt. Kein Wunder also, dass man „Werte“ und „Konservativismus“ schnell aufeinander reimt, wenn man nicht viel nachdenkt.

 

Aber es gibt noch einen zweiten Grund, warum die Konservativen den Begriff der „Werte“ scheinbar für sich gepachtet haben: die progressiven Kräfte stehen ja seit jeher mit dem Begriff „Werte“ ein bisschen auf Kriegsfuss. Aus mehreren Gründen: Einerseits hat der Begriff den Geruch des Pfäffischen und des Illiberalen, des moralisch Aggressiven – weil er eben seit jeher von Leuten benützt wird, die anderen Menschen vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Andererseits, und das scheint mir ebenso wichtig, es wird aber oft nicht ausreichend erkannt, schwingt in der Aversion progressiver Menschen gegen Begriffe wie „Werte“, „Moral“ oder „Ideale“ auch ein marxistisches Erbe mit, vielleicht nicht bewusst, sondern eher als mentalitätsmäßige Schwundform. Der Marxismus hat sich ja gegen den phantastischen Idealismus eines utopischen Sozialismus durchgesetzt. Was Marx „historischen Materialismus“ nannte, wandte sich ja gegen sozialreformerische Träumereien, gegen Leute, die sich halt eine bessere Welt nur „wünschten“. Denen entgegnete er, salopp gesagt, dass das Wünschen nichts hilft, wenn die materielle Wirklichkeit und die objektiven historischen Tendenzen in eine andere Richtung wiesen. Marx‘ Pointe war dann natürlich, dass „objektive historische Tendenzen“ tatsächlich mächtige Triebkräfte in Richtung historischen Fortschritt darstellen, dass man also zur Erreichung einer besseren Gesellschaft gar keiner „Ideale“ bedarf. Ich will hier jetzt die Frage, was zum Marxens Zeiten oder später für und was gegen eine solche Auffassung sprach, gar nicht diskutieren, unzweifelhaft ist natürlich, dass eine solche Auffassung eine gewisse objektivistische Schlagseite hat und bei vielen Sozialisten und Kommunisten nach Marx oft so etwas wie einen Determinismus nach sich zog: Der Kapitalismus führt zum Sozialismus, da braucht’s keine idealistischen Schwärmer, die sich aus Gründen der „Werte“ für eine Sache engagieren. Hinzu kommt noch, dass die progressiven Kräfte ganz grundsätzlich ja die Unterprivilegierten organisieren wollten, damit diese für ihre „Interessen“ eintreten können. Und der Kampf für die „eigenen“ Interessen braucht ja auch keine Werte, sondern nur Einsicht in diese Interessenslage.

 

Ich möchte an dieser Stelle den amerikanischen Sozialphilosophen Gerald A. Cohen zitieren, der viele Jahre seines Lebens der These angehangen hat, die er mittlerweile für einen Grundirrtum des Marxismus hält, der These, wie er sie formuliert, dass „der Kapitalismus mit ein bisschen Hilfe von den Freunden des Sozialismus, den Sozialismus selbst hervorbringen wird.“ Heute habe er zu einer „moralischen Auffassung übergewechselt“, schreibt er. Für Engagement brauche es eben keinen Glauben an objektive Geschichtstendenzen, sondern gerade „ein Ethos der Gerechtigkeit“, den „Sauerteig der Moral“. Natürlich gibt es hunderte Fälle, wo Wünschen nichts hilft, wenn das Gewünschte sich nicht im Horizont des Möglichen befindet, aber andererseits befinden sich immer auch mehrere Alternativen im Horizont des Möglichen: Gesellschaften können schon mehrere Wege einschlagen. Und welche sie wählen, das hängt von den Individuen ab, ihren Idealen und den Entscheidungen, die se treffen. Die Entscheidungen, die die Menschen treffen, sind wichtig für den Lauf, den die Politik einschlägt und die Menschen treffen ihre Entscheidungen nicht nur auf Basis ihrer Interessen, sondern auch ihrer Werte.

 

Natürlich muss ich die Entscheidungen, die ich auf Basis von Werthaltungen treffe, auch argumentieren und nüchternen Erwägungen aussetzen. Es reicht da nicht, zu sagen, ich trete für dies oder jenes ein, weil das meinem Wertegerüst entspricht. Ich werde nicht nur gut daran tun, andere für meine Werte zu begeistern, sondern ich werde auch gut daran tun, zu erklären, warum diese Entscheidungen einen allgemeinen Nutzen bringen, auch für Leute, die andere Werte haben und die nicht einen unmittelbaren eigenen Nutzen haben, die also nicht aufgrund ihrer speziellen Interessenslage schon Nutznießer dieser Entscheidung sind. Aber das ändert nichts an der Wertebegründung, ja, mehr noch: Wenn ich bestimmte Werte vertrete, sollte ich sie auch vertreten, wenn der allgemeine Nutzen nicht so klar ist. Um das so simpel zu sagen: Es ist eine ethische Haltung, die mich dazu bringt, dass ich für Gleichberechtigung, eine egalitäre Gesellschaft, dass ich gegen ungerechtfertigte Privilegien eintrete usw. Ich bin zudem fest davon überzeugt, dass eine egalitäre Gesellschaft, die allen Bürgern eine Chance gibt und für alle ein menschenwürdiges Leben und eine ordentliche materielle Ausstattung garantiert und in der alle Menschen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe, was auch immer – respektvoll behandelt werden, auch eine in ökonomischer Hinsicht leistungsfähigere Gesellschaft ist. Aber selbst wenn sie das nicht wäre, wenn also der objektive, allgemeine Nutzen von Gerechtigkeit nicht so sicher wäre, würde ich dennoch nicht plötzlich für Unfairness plädieren. Ich wäre sogar für Fairness, wenn die Fairness keinen so eindeutigen Nutzen hätte.

 

Ihr werdet wahrscheinlich schon ahnen, was das mit der gegenwärtigen Bildungsdebatte zu tun hat. Diese Studierendenbewegung hat sich – vordergründig, um nicht zu sagen: oberflächlich – betrachtet, ja an der Frage der Studienbedingungen entzündet, an unhaltbaren Zuständen an den Universitäten und an den Reformmaßnahmen der vergangenen Jahre, an den Tendenzen zur Verschulung der universitären Bildung. Dass diese Bewegung aber so erfolgreich ist, insofern, als sie sehr schnell sehr viel Solidarität erfahren hat, dass viele Menschen bereit sind, sich für die Anliegen der Studentinnen und Studenten einzusetzen, hat natürlich damit zu tun, dass viele das Gefühl haben, dass grundsätzlich sehr viel sehr schief läuft politisch in diesem Land und dass insbesondere am Feld der Bildungspolitik sehr viel schief läuft. Das fängt in den Kindergärten an, das setzt sich in den Volksschulen fort und später in den Hauptschulen und Höheren Schulen. Unsere Gesellschaft wird ungerechter und ungleicher, anstatt dass sie gerechter und gleicher würde und die Art, wie unsere Bildungsinstitutionen organisiert sind hat hierfür keine kleine Verantwortung. Ein Kind, dass aus unterprivilegierten Schichten stammt, dessen Startnachteile werden in den frühen Phasen seiner Entwicklung in viel zu vielen Fällen nicht ausgeglichen. Sehr oft hat ein Kind, wenn es mit sechs Jahren in die Volksschule kommt, schon Startnachteile, die es in seinem ganzen Leben nicht mehr aufholen wird. Ein solches Kind ist dann buchstäblich ein „geborener Verlierer“. Wenn dieses Kind neun Jahre alt ist, wird aussortiert: Die einen kommen in die Schulen für die relativen „Winner“, die anderen in die Schulen für die „Loser“. Und dann sehr oft ohne Ausbildung auf den Arbeitsmarkt, oder besser: eben nicht auf den Arbeitsmarkt.

 

Wir Linken beklagten ja in der Geschichte ja oft die Ausbeutung. Wenn’s nur das wäre, könnte man sarkastisch fast hinzufügen. Das Problem von diesen Kindern ist, wenn sie größer werden, ja nicht so sehr, dass sie ausgebeutet werden, sondern dass sie nicht einmal ausgebeutet werden. Die hängen dann im Park rum oder sonst wo und werden von dieser Gesellschaft wie „überflüssige Menschen“ behandelt.  

 

Und das sind nur die krassesten Ungleichheiten: Darüber hinaus gibt es natürlich noch eine Reihe viel subtilerer Ungleichheiten: die einen werden, beispielsweise, weil das halt am Land für Bauernkinder so üblich ist, in die Hauptschule gesteckt, und können schon froh sein in aller Regel, wenn sie den Sprung auf eine Berufsbildende Höhere Schule schaffen und dann Landwirte mit Matura werden oder Wirte mit Sommelierausbildung; wieder andere schaffen es auf die Universität und kämpfen sich durch ein überfülltes Bachelorstudium, während sie nebenbei arbeiten. Für andere wiederum zahlt Papi ein schönes Studium an einer Privatuniversität. Jedenfalls, so sozial durchlässig, wie immer getan wird, ist unsere Gesellschaft nicht, Aufwärtsmobilität und Abwärtsmobilität gibt’s nur im Einzelfall. In aller Regel gilt: Welche Chancen einer im Leben hat, darüber entscheidet, in welche Familie er oder sie hineingeboren wird. Ich will ja gar nicht Hysterisieren: Auch das wär noch nicht gar so schlimm, wenn es halt unterschiedliche Lebenschancen gäbe, für die Begüterten mehr, für die weniger Begüterten weniger, aber immerhin noch welche. Was wir in den vergangenen Jahren aber erleben – und da spielen verschiedene Ursachen zusammen: die gesellschaftliche Transformation zur „Wissensgesellschaft“ in der Ausbildungsdefizite ganz dramatische Auswirkungen haben, oder auch Migration und die Entstehung einer eingewanderten Unterschicht -, was wir also in den vergangenen Jahren erleben, ist, dass die Unterprivilegierten nicht nur weniger Chancen haben, sondern überhaupt keine. Nicht Chancenarmut, sondern Chancenlosigkeit. Die haben es nicht einfach schwerer, die sind die totalen Verlierer.

 

Für die, die ein paar Chancen haben, wird es auch immer schwerer. Kurzum, für alle jenseits der Winner-Classes wird es eng, wird der Kampf härter.

 

Und insofern ist die Misere an den Universitäten Teil einer viel umfassenderen, viel fundamentaleren Bildungsmisere! Aber die Misere ist eben, um das noch einmal zu betonen, nicht gerecht verteilt.

 

So, und jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Dieser ungleiche Zugang zu Bildung, dieses Vorenthalten von Lebenschancen für so viele, führt dazu, dass Talente vergeudet werden. Diese Misere hat nicht nur negative Auswirkungen für die unmittelbar Betroffenen, sondern für uns alle: Sie schafft gesellschaftliche Probleme. So produziert Konfliktpotential. Wenn weniger Menschen etwas aus ihrem Leben machen können, dann können auch weniger Menschen zur Prosperität, zu Fortschritt und Wohlstand einer Gesellschaft beitragen. Das schadet letztendlich uns allen. Die beschriebenen Ungerechtigkeiten sind also nicht nützlich, sondern schädlich. Das ist schon ein sehr wichtiger Umstand. Wir sollten nicht aufhören, darauf zu verweisen.

 

Aber es ist eben nicht der Hauptpunkt: Denn selbst wenn es so wäre, dass die Ungerechtigkeiten nützlich wären, wenn es den meisten von uns nicht schaden würde, acht oder zehn Prozent unserer Mitbürger in einem Zustand der Zukunftslosigkeit zu belassen, dann wären wir, also ich sicherlich, aber ich denke wir alle, dann wären wir immer noch nicht „für“ die Ungerechtigkeit. Wir sind nicht nur gegen die Ungleichheit, weil die Ungleichheit auf so vielfältige Weise schädlich ist, wir sind gegen die Ungleichheit, weil wir gegen die Ungleichheit sind, weil sie gegen unseren ethischen Kompass verstößt. Und insofern ist eben auch die Bildungsdebatte, neben allem, was sie auch ist, eine ethische Debatte. Und ich denke, dass die meisten von Euch hier für qualitativ hochstehende Bildung für alle und qualitativ höchste Bildung für möglichst viele eintreten, und dass sie das letztlich tun, weil sie auf Basis von moralischen Werten handeln. Und nicht nur, weil es Euren Interessen entspricht. Wer eine bestimmte Handlung nur deshalb setzt, wer eine bestimmte Forderung nur deshalb erhebt, weil sie seinen Interessen entspricht, der wird die Unterstützung jener erhalten, die in diesem Augenblick die gleichen Interessen haben. Breitere Unterstützung wird er aber nur dann erhalten, wenn diese Forderung als moralisch gerecht erscheint und auch von vielen jener unterstützt wird, die vielleicht in praktischer Hinsicht gar nicht betroffen sind, denen es egal sein kann oder die vielleicht sogar ganz andere Eigeninteressen hätten. Insofern handelt Politik eben nicht nur und möglicherweise nicht einmal in erster Linie von Interessen, sondern mindestens so stark von Moral. Wenn ich, zumal in einer zunehmend differenzierten und partikularisierten Gesellschaft, mit einer Vielzahl an Lebenslagen und Lebensstilen, bloße Interessen vertrete, dann werde ich vielleicht ein paar von Meinesgleichen dafür gewinnen. Strategische Mehrheiten werde ich aber nur erreichen, wenn ich dem ein moralisches Skript unterlege, eine Werteerzählung.

 

Lasst mich hier ein paar Worte sagen über die zentrale Forderung von Euch, die ja alles irgendwie zusammenhält: Bildung statt Ausbildung. Natürlich kann man mit einiger Plausibilität die Auffassung vertreten, dass eine umfassende Bildung, die ja nicht nur Wissen einschließt, sondern eine Vielzahl an Kompetenzen, dass eine solche umfassende Bildung letztlich nützlicher, ja effektiver ist als eine stromlinienförmige Ausbildung, ein besseres akademischen Berufstraining. Aber das ist doch nicht der eigentliche Punkt: Der Punkt ist doch, dass eine solche umfassende Bildung einen ermächtigt, sich später in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln, dass sie auf eine Basis für Selbstbestimmung ist und für eigenständiges Denken. Und ich bin ja nicht dafür, dass Ihr, dass Du, dass Du und dass Du dazu in der Lage bist, weil mir das nützt oder weil das uns allen und damit auch mir nützt, sondern weil ich es für einen ethischen Wert an sich halte, dass Ihr dazu in der Lage seid. Auch hier liegt eine Moral, eine Vorstellung davon, was ein gelingendes Leben darstellt, zugrunde.

 

Um die Sache noch komplizierter zu machen, muss man natürlich noch ein paar Worte über das Verhältnis von Interessen und Werten sagen. Interessen und Werte sind ja nicht vollständig voneinander geschiedene Kategorien, sie sind enger verbunden, als man das bei einem flüchtigen Blick annehmen würde. Die marktfundamentalistische oder neokonservative These würde in diesem Zusammenhang so lauten: Menschen verfolgen ihr Eigeninteresse. Insofern begegnen ihnen ihre Mitmenschen vornehmlich als Konkurrenten. Für die ist das das basale Grundgesetz menschlicher Existenz und aus dem lässt sich „Moral“, lassen sich Altruismus und das Eintreten für Andere schlichtweg nicht begründen. Zu einer eigenen Art von Moral kommen die erst auf höherer Ebene, dazu benötigen sie so etwas wie eine dialektische Volte. Und die lautet folgendermaßen: Indem alle ihren eigenen Vorteil suchen, indem alle wie wild gegeneinander konkurrieren, wird sich eine Gesellschaft dynamisch entwickeln, so dass am Ende alle mehr davon haben. Die Selbstsucht und der Eigennutz schlagen gewissermaßen zum Nutzen aller um. Fast könnte man sagen: Für die ist die Unmoral die eigentliche Moral.

 

Nun, dass das Gewinnstreben, der Eigennutz und die Vorteilsucht zum allgemeinen Nutzen umschlägt, das haben wir ja gesehen im vergangenen Herbst, als die Weltwirtschaft beinahe kollabiert wäre, des Gewinnstrebens wegen.

 

Die andere – fast hätte ich gesagt: die konkurrierende Erzählung – ist die Erzählung der Progressiven, die mir realitätstüchtiger erscheint. Demnach stimmt es ja gar nicht, dass die Menschen sich primär als Konkurrenten begegnen. Die sozialdarwinistische Überzeugung, dass das Leben ein Überlebenskampf ist und nur der Stärkste überlebt, trifft ja nicht einmal für das Tierreich zu. Darwin sprach nie davon, dass der „Stärkste“ überlebe – sondern vom „Survival of the fittest“. Das heißt aber etwas ganz anderes: Der ist am besten gerüstet, der sich am besten an seine Umweltbedingungen anpasst. Dies schließt nicht nur Konkurrenz ein, sondern auch kluge Kooperation. Erst recht gilt das für ein soziales „Tier“ wie den Menschen – dessen „Umwelt“ im Wesentlichen aus anderen Menschen besteht. Fast könnte man also sagen: Nicht der „Stärkste“ überlebt, sondern der „Freundlichste“, also der, der am besten kooperiert und der am meisten zur Entstehung einer kooperativen Ordnung beiträgt. Evolutionsbiologen sprechen neuerdings vom „Survival of the kindest“. Darwin selbst hat sich darüber Gedanken gemacht, warum in menschlichen Gemeinschaften der Kooperationsgeist sukzessive zugenommen hat, und äußerte die Ansicht, dass möglicherweise die kooperativeren frühen Menschengruppen in der Konkurrenz mit unkooperativen evolutionsbiologisch überlegen waren. Wie auch immer, all das soll natürlich nicht heißen, dass es nicht im zwischenmenschlichen Verkehr zu Gewalt, Mord, Totschlag und groben Gemeinheiten kommt – ohne Zweifel geschieht das. Es wäre lächerlich, das zu leugnen. Aber es ist doch ein Unterschied, ob man davon ausgeht, dass die Menschen quasi sozio-biologisch auf Konkurrenz, Wettbewerb gegeneinander und Kampf programmiert sind, wie das die Konservativen tun, oder ob man annimmt, dass sie sehr wohl auch zur Kooperation fähig sind, dass sie vielleicht sogar primär auf Kooperation gestimmt sind, dass sie zu Altruismus und Generosität fähig sind und dass sie möglicherweise auch das Leiden ihrer Mitmenschen bekümmert. Kurzum: Menschen sind auf Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft gestimmt, und zwar, weil das für jeden einzelnen viel nützlicher ist, als andauernd im Kriegszustand mit dem Nachbarn zu stehen, aber auch, weil sie ein moralisches Empfinden haben. Sie wissen, dass sie mit anderen verbunden sind. Die Menschen haben über Jahrtausende gelernt, dass es in ihrem Interesse ist, sich kooperativ zu verhalten. Und diese Erfahrung selbst hat unser moralisches Empfinden modelliert. Insofern sind Werte und Interessen keine Kategorien, die man vollends voneinander scheiden könnte.

 

Um meine Eingangs-Frage zu beantworten: Ja, die Bildungsdebatte ist auch eine Wertedebatte. Sich für eine egalitäres, qualitativ hochstehendes Bildungssystem einzusetzen, das allen die nötigen Kompetenzen bereitstellt, die nötig sind, aus seinem Leben etwas zu machen, ist eine ethische Orientierung. Sich gemeinsam dafür stark machen heißt, sich auf Basis geteilter Werte zu engagieren. Man kann sich auch dann, wenn man unterschiedliche Interessen hat, gemeinsam für etwas einsetzen, wenn man das auf Basis geteilter Werte macht.

 

Nicht diejenigen, die die Werte immer im Mund führen sind eine moralische Kraft. Die, die immer den Begriff Werte im Mund führen, das sind die, die andere Menschen dazu verdammen, ihre „eingetragene Partnerschaft“ beim Salzamt registrieren zu dürfen; die, die die Familienwerte hoch halten, das sind die, die unmenschliche Asylgesetze verabschieden, die ganze Familien und das Leben junger Mädchen zerstören; die, die immer über den hohen Wert von Kindern sprechen, das sind die, die mit Zähnen und Klauen ein System verteidigen, das schon Neunjährige in Winner und Loser aussortiert.

 

Sie sollen aufhören, über Werte zu reden. Wenn jemand Werte zerstört, dann sind die das.

 

Umgekehrt: Jene, die ein hohes Ethos zur Richtschnur ihres Handelns machen, die sitzen nicht nur hier, aber sehr viele von denen sitzen hier.

 

Ich bin am Ende meines kleinen Predigtdienstes. Warum ich auf dem so rumgeritten bin: Wir sollen uns vor Moralisieren hüten, denn süßlicher Moralismus hat – wem sag ich das! – was Uncooles. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass breitere gesellschaftliche Allianzen immer von einer geteilten Moralität zusammengehalten werden, mögen die auch noch so subkutan sein. Mag jede einzelne Forderung, die aufgestellt wird, noch so plausibel begründet sein, mag sie noch so sehr den „Interessen“ jener entsprechen, die sie aufstellen, so lebt sie doch ganz wesentlich von dem Wertesetting, in das sie sich – ja – scheinbar „wie von selbst“ einfügt. Erfolgreiche Politik, sei es die „große“ der Mächtigen, sei es die „kleine“ widerständischer Netzwerke, ist immer, um das mit einem Wort des amerikanischen Linguisten George Lakoff zu sagen, „Moral Politics“.

 

Bevor ich ganz aufhör noch ein paar Worte zu dem, was ihr hier seit ein paar Wochen macht. Dass diese Studierendenbewegung viel mehr Wahrnehmung und Solidarität erfährt als vergleichbare Aktivitäten in den vergangenen 15 Jahren, hat natürlich auch damit zu tun, dass sie wie ein Kontrastmittel funktioniert. Als Kontrastmittel zu einer verrotteten Politik, die nicht einmal mehr Minimal die Anforderungen ihrer eigenen Logik erfüllt. Die nur mehr an den Problemen vorbei agiert. Die nur mehr verstrickt ist in die Kleinlichkeiten ihres Alltags. Die nur mehr taktiert und überhaupt nicht mehr Grundsätzliches zu verhandeln versteht, von der viele, viele Menschen überhaupt nicht mehr das Gefühl haben, dass sie sie auch nur rudimentär repräsentiert – und die deshalb Tür und Tor öffnet einem rechten Populismus. Was im Audimax und hier und in den vielen anderen Hörsälen vorexerziert wurde, ist, dass man auch anders, ernsthafter mit Problemen umgehen kann, sie von allen Seiten beleuchten und über alle Ambivalenzen und Komplexitäten reden kann, ohne dass man deshalb das, worum es eigentlich geht, aus den Augen verlieren muss. Ihr habt gewissermaßen modellhaft vorexerziert, dass eine Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch kommen kann. „Cockpit des Gesellschafts-Dialogs“ hat das meine Kollegin Verena Ringler genannt. Und auch der altbekannte, altbewährte, altväterliche Hinweis auf die Reibungsverluste solcher direkter Basisdemokratie, solcher Mitmach-Demokratie greift doch längst nicht mehr: größer als die Reibungsverluste in der Großen Koalition oder in jedem halbwichtigen Parlamentsunterausschuss oder in jedem Gemeinderat sind auch die hier nicht. Im Gegenteil: Ihr handelt trotzdem. Bei den anderen kommen nur Kompromisse raus, die vom Nichts-Rauskommen mit freiem Auge oft nur schwer zu unterscheiden sind. Ja, und auch die gewohnte Abwertung funktioniert nicht mehr, dass es sich hier um so was wie unpraktische Schwärmer handelt, die halt große Ideale haben, aber doch die Dinge nicht geregelt kriegen, denn für’s Regeln braucht man doch Pragmatiker. Ihr wisst wie man die Tools der modernen, digitalen Kommunikation benutzt, wie man in horizontalen Netzwerken agiert, welche Töne man da anschlagen muss, ihr könnt das einfach. Während die „normale“ Politik all das überhaupt nicht kann. Die Pragmatiker kriegen ja überhaupt nichts mehr geregelt.

 

Ihr habt da etwas angestoßen. Ein Fenster aufgemacht. Mehr natürlich nicht. Es kommt drauf an, dass man jetzt etwas draus macht. Dass die herkömmliche Politik diesen „Traumpass“, wie das Martin Blumenau nannte, aus sich heraus aufnimmt, na, das ist ja nicht gerade zu erwarten. Ihr müsst da schon selbst am Ball bleiben. Und dieses Land ist seit vielen Jahren auf der schiefen Bahn, das rückt man nicht gerade, indem man vier Wochen Hörsäle besetzt. Wie man das macht, wie man die Euphorie einer Bewegung in Kontinuität transformiert, und das an ganz vielen Stellen, ja, das muss man erst herausfinden. Durch Trial und Error.

 

Ich kann mir vorstellen, wir begegnen uns noch in den kommenden Jahren. Nicht locker lassen, Folks!

Ein Gedanke zu „Ist die Bildungsdebatte eine Wertedebatte?“

  1. Ich weiß nicht recht was ich halten soll von den bildungsprotesten. Im großen freut es mich, dass es sscheinbar immer mehr Leute gibt, die scheinbar willens sind zu handeln und nicht immer nur zu jammern. Andererseits bezweifel ich, dass sich nach einer Einigung viel ändern wird, weil das Land und der Bund eben genau das sagen, was sie schon immer sagen: Wir sind an einem gemeinsamen Dialog interessiert und arbeiten in die selbe Richtung.
    Geändert hat sich durch diesen Dialog allerdings noch nichts.

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