Ewige Wiederkehr des Neuen? Nein!

Innovativ wie die Altvorderen: Richard Barbrooks Montage-Essay „Die Klasse des Neuen“ ist durchzogen von der optimistischen, utopischen Kühnheit, wie sie für die Linke über ein Jahrhundert lang prägend war. Vorwort zum Buch „Die Klasse des Neuen“ von Richard Barbrook. Erschienen im Verlag Neue Arbeit. Das Buch zum freien Download gibt es hier.

 

Es ist noch gar nicht so lange her, da galten eine künstlerische Ader, ein bohemehafter Lebensstil und der Wunsch, sich auf kreative Weise selbst zu verwirklichen als das exakte Gegenteil jener Tugenden, die in der Geschäftswelt gefragt waren. Ja, solche Selbstentwürfe waren nicht nur wenig gefragt in der kapitalistischen Wirtschaft, sie waren sogar so etwas wie die Antithese zum Krämergeist der Geschäftswelt. Aus ihnen speiste sich der Geist der Systemopposition. Kreativität reimte sich auf Intensität und echtes, dichtes Erleben und stand diametral zur sedierten Routine des Erwerbslebens, das mit Begriffen wie Hierarchie, Unterordnung und Entfremdung assoziiert war.

 

Im zeitgenössischen postmodernen Kapitalismus liegen die Dinge signifikant anders. Heute wird das, was ehedem primär die Künstlertugenden konstituierte, direkt in den kapitalistischen Prozess eingespeist. Die Warenproduktion selbst verlangt nach geistiger Ungebundenheit, Improvisationsfähigkeit, Fantasie. Doch die materielle Verfertigung von Waren im engen Sinn ist ohnehin nur mehr ein Teil – und oft nur der simpelste Aspekt – der kommerziellen Operationen. Waren müssen mit Bedeutung, mit einem Image aufgeladen werden – Nike, Cola, Apple verkaufen ja nicht in erster Linie Güter, sondern ein Lebensgefühl. Die „zentralen Werte der Künstlerkompetenz“ – kreative Anarchie, atypisches Verhalten, Zeichenmächtigkeit, ein Sinn für Storys und Bilder – werden, schreibt der französische Sozialwissenschaftler Pierre-Michel Menger, nach und nach auf alle Produktionsbereiche übertragen. Emotionen, Affekte, Kultur werden zu Kategorien des Ökonomischen. Vom „Kulturkapitalismus“ hat der US-Trendforscher Jeremy Rifkin deshalb gesprochen. Das verändert nicht nur die Firmen, sondern alle Lebenswelten. Städte verstehen sich als Wirtschaftsstandorte und Magnete für Touristen, und jene urbanen Ballungsräume, die die höchste Anziehungskraft auf die Kreativen haben, sind heute deshalb auch die attraktivsten Wirtschaftszonen. Kurzum: Schöpferischer Erfindungsgeist wird zum Motor betriebswirtschaftlicher Innovation in den hippen Kleinunternehmen der „Kreativwirtschaft“ – und über diese hinaus. Seit zehn Jahren ist dieses „Kreativitätsparadigma“ nicht nur heftig in Diskussion, es ist auch zentral in den Strategiedebatten von Kultur- und Wirtschaftspolitikern, insbesondere denen großer Kommunen. Schon Ende der neunziger Jahre feierte ein Manifest des Labor-nahen britischen Think Tanks „Demos“ die „Independents“, die „Britanniens dynamischste Industrien“ prägen und der amerikanische Autor Richard Florida wurde mit seinem Buch über „Die Kreative Klasse“ so etwas wie eine internationale Celebrity. In den USA werden den „Cultural Creatives“ bei einer Gesamteinwohnerzahl von 300 Millionen Menschen rund 50 Millionen Menschen zugerechnet – nur unwesentlich weniger, als Frankreich Einwohner hat. „Die Konzentration kreativer und talentierter Leute ist ausgesprochen bedeutend für Innovation“, rechnet Florida vor. Die Städte, die dieses Potential für sich nützen wollen, brauchen eine „coole Umgebung“, müssen sich auf die Bedürfnisse der kreativen Klassen einstellen, sie brauchen schicke Cafés, vegetarische Restaurants und viele minimalistisch eingerichtete Sushi-Läden, sie müssen alte Gemüsemärkte zu hippen Locations umformen, und sie brauchen Musikschuppen mit hohem Grindfaktor. Und natürlich Galerien, Klamottenläden etc. und viel kulturelle Toleranz.  Konservativismus ist heute ein Standortnachteil.

 

Schon stellen die Kulturberufe in der BRD mehr Arbeitsplätze als die traditionell zentrale Automobilindustrie, rechnet die frühere Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler vor, die jährliche Wertschöpfung liegt bei 30 Milliarden Euro – ist also mit dem gesamten Energiesektor vergleichbar. Deutsche Bundesländer haben Kulturwirtschaftsberichte vorgelegt. Aus denen geht hervor, dass etwa in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1999 rund 47.700 kulturwirtschaftliche Betriebe und Selbstständige gab. Innerhalb von drei Jahren gab es ein Umsatzwachsum von 21 Prozent – überdurchschnittlich, vergleicht man diese Zahl mit dem Umsatzzuwachs der Gesamtwirtschaft von 10 Prozent. Eine großangelegte Studie über „Creative Industries in Wien“ ergab, dass 14 Prozent der Beschäftigten in den Kreativbranchen Film, Medien, Netzkultur, Galerien, Museen, Theater, Design etc. arbeiten. Mit einem jährlichen Zuwachs von sechs Prozent lag das Beschäftigtenwachstum zwei Prozent über dem Gesamtdurchschnitt. In Wien fördern eigens gegründete Institutionen wie „departure“ diese Branchen mit üppigen Investitionen „in die Zukunft“. Die Kunst und die kunstnahen Branchen werden zu einem Vehikel städtischer Aufwertungsprozesse, für das, was die Städteplaner „Gentrification“ nennen – den Bevölkerungsaustausch in einstmals heruntergekommenen Quartieren, aus denen die Unterprivilegierten weggemobbt werden.

 

So kann nicht verwundern, dass es längst heftigen Zank über die Frage gibt: Ist das eigentlich eher gut oder eher schlecht? Und ist das nicht alles heiße Luft? Die Argumente lassen sich grob so zusammenfassen. Ist das denn überhaupt wahr, oder wird die Sache nicht erheblich aufgebauscht – schon jeder Caterer oder Chauffeur, der für eine Filmproduktion arbeitet, wird der „kreativen Klasse“ zugeschlagen, genauso wie jeder Portier, der in einem Museum arbeitet und jede Redakteurin von „News“. Womöglich ist der Hype um ein kleines Segment von höchstens zehn Prozent der Beschäftigten nur dem Umstand geschuldet, dass es sich bei dessen Angehörigen um jene handelt, die eine hohe (Medien-)Kompetenz darin haben, sich in öffentlichen Diskussion wichtig zu machen. Eine weitere Frage, die im Raum steht, ist die, ob das nicht den „Künsten“ als solches schadet – dessen widerständiges, eigensinniges Potential, dessen Autonomie und ästhetische Rigorosität wird untergraben, wenn man es auf wirtschaftsgängige, bequeme „Kreativwirtschaft“ reduziert, dessen signifikante Gestalt eher der Werbetexter ist als der Dichter. Zieht der berechnende Materialismus der Arbeitswelt durch diese ungeschützte Hintertür in die Kunstwelt ein? Und nicht zuletzt, wie Pierre-Michel Menger meint: Durch die Feier der formalen Merkmale der „kreativen“ Berufe, mit ihrem Ethos der Flexibilität, Mobilität, kurzfristigen Engagements, chronischen Unsicherheiten, dem Arbeiten für schmale Honorare, wird das Geschäft des neoliberalen Sozialstaatszerschlagen mitbetrieben. Dem steht natürlich entgegen, dass das Arbeiten auf eigene Rechnung, dieses „Sein-Ding-machen“, dieses heute dies, morgen das tun, das Leben und Arbeiten in brummenden Quartieren wie Soho, Berlin Mitte oder im Schleifmühlviertel die Welt tatsächlich freier, bunter und innovativer macht. Prekarität ist kein Spaß, aber verglichen mit dem Trott im fordistischen Büro in den allermeisten Fällen ein Fortschritt. Beides versucht, kein Vergleich. Eigensinn und Widerständigkeit ist kein automatisches Resultat, aber das neue Arrangement ist dem Emanzipatorischen zumindest günstig. Die Multitude, das zeitgenössische vielzählige „Subjekt“ der gesellschaftlichen Veränderung, wie es Toni Negri und Michael Hardt mit einem gehörigen Schuss ins Kitschige preisen, ist unverkennbar an diesen Arbeits- und Lebensorganisationen modelliert.

 

Richard Barbrook geht mit seiner Deutung über die bisherigen Debatten hinaus, er fügt ihnen einen wesentlichen Gedanken hinzu – nicht, dass der nicht schon gelegentlich angedeutet wurde, aber bei ihm ist er zentral. Die Kreativen, die Prosumenten, das Cybertariat, die immateriellen Arbeiter, die Profi-Amateure, die Symbolanalysten, die Digitale Boheme und wie man sie auch immer nennen möge (er benützt mit Absicht die Vielzahl der Begriffe, die kursieren) könnten die heutige, zeitgenössische „Klasse des Neuen“ sein, wie sie seit Anbruch der kapitalistischen Moderne in schnellem Wechsel immer wieder prägend war. Eine Klasse, die das Alte zerstört und dem Neuen zum Durchbruch verhilft. Es waren immer Minoritäten, die innovativ waren, aber mehr noch, die, ungeachtet ihrer zahlenmäßigen Kleinheit, neue gesellschaftliche Paradigmen prägten. Für diese Klasse des Neuen galt immer, wie Barbrook richtig schreibt: „Was sie heute tut, wird morgen gang und gäbe sein.“ In freier Assoziation, die keinen Regeln wissenschaftlicher Strenge folgt und gerade deshalb erhellend ist, präsentiert er im zweiten Teil seines Großessays Montagen von Zitaten historischer Denker des Neuen, in denen die signifikanten Träger der Veränderungen früherer Zeiten porträtiert werden. Bei Adam Smith ist es der wache Geschäftsmann, der „alles beobachtet“. Bei Hegel ist es der Staatsbeamte, der nicht deshalb ein wichtiges Amt bekleidet, weil er durch Geburt privilegiert ist, sondern weil er durch Wissen und Kompetenzen dafür geeignet ist – er war der Motor für die Entwicklung wohlgeordneter Staatswesens. Da marschieren die Bohemiens des 1840er Jahre auf und Karl Marx Proletariat, das, als ihm der Denker der Revolution die Zukunft voraussagte, eine zahlenmäßig verschwindende Gruppe verlauster Fabrikarbeiter war, die oft gerade erst vom Land in die Stadt gespült worden waren. Da wird auf Lenins politisches Avantgarde-Prinzip verwiesen und auf Frederick Winslow Taylors Prinzipien des wissenschaftlichen Management in den durchgeplanten Fabriken – zu ihrer Zeit ein unerhörtes Neues. Joseph Schumpeter, der Ökonom der Innovation wird als Zeuge aufgerufen, der, anders als klassische aber auch keynesianische Wirtschaftswissenschaftler nicht das „Gleichgewicht“ suchte, in das die kapitalistische Wirtschaft (sei es durch die Aktivität der unsichtbaren Hand, sei es durch staatliche Wirtschaftstätigkeit) geraten könne, sondern dem mehr interessierte, wie das stabile Gleichgewicht immer wieder durcheinander gebracht werden könne, durch Prozesse „schöpferischer Zerstörung“, vollbracht von innovativen Unternehmern. Und der sich fragte: Was treibt diese Unternehmer eigentlich an, was ist das für ein Typus, was für ein Charakter, was für ein Menschenschlag? Da wird die Managerklasse präsentiert, die in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Klasse des Neuen war. Und jetzt die Netzwerkklasse der Kreativen, die Multitude, die Cyberinnovateure.

 

Barbrooks Montage, die wenig erklären will – im Sinne von dozieren -, die eher durch Assoziation etwas sichtbar machen will, zeigt, wenn ich sie recht deute, wie Innovation entsteht. Man kann diesen Begriff des – paradox gesagt – mittlerweile auch schon routinemäßig Neuen  aber durchaus missdeuten: als ewige Wiederkehr, wenn auch nicht des gleichen, so doch des gleichen Prinzips. Auf Barbrook selbst kann sich eine solche Deutung, dies sei unterstrichen, nicht stützen. Die Konsequenzen des Neuen sind nicht einfach „Erneuerung“, sie sind in jedem Moment radikal offen. Er legt sich, auch und insbesondere in unserem aktuellen Fall, nicht fest. Jede Klasse des Neuen hat dann doch ihre eigenen Prinzipien, sie reiht sich ein in eine Abfolge, ist aber doch ein Fall für sich. So ist für Barbrook nicht ausgemacht, dass auch diese neue Klasse des Neuen nur ein weiterer Agent kapitalistischer Modernisierung ist. „Je nach Belieben kann der numerische Zuwachs an Informationsarbeitern als immanenter Erfolg des Dotcom-Kapitalismus oder des Cyberkommunismus interpretiert werden“, schreibt er. Das ist sehr lapidar gesagt, als Beschreibung von Interpretation „nach Belieben“, aus der sich Barbrook scheinbar heraushält. Aber natürlich hat er eine eher optimistische Deutung der emanzipatorischen Potentiale dessen, was er den „kognitiven Kapitalismus“ nennt. In die neuen Technologien sind die Prinzipien freier Kooperation eigensinniger Wissensarbeiter eingeschrieben – sie haben daher fortschrittliches Potential im Sinn einer Entwicklung zu mehr Freiheit. Das Internet nennt er „ein Instrument für die Verteilung und gemeinsame Nutzung von Wissen, nicht für den Verkauf von Information“, es ist für ihn geprägt von der akademischen „Geschenkwirtschaft“. In einem Schlüsselsatz schreibt er: „Die Wissensökonomie repräsentiert nicht nur eine neue Phase des Kapitalismus, sondern auch eine evolutionäre Stufe jenseits von Kapitalismus.“

 

Eine etwas zu optimistische Weltsicht? Man kann dieser Auffassung sein. Aber Barbrooks Buch ist durchzogen vom Zukunfts- und Fortschrittsoptimismus, der über ein Jahrhundert lang zum emotionalen Grundbestand der Linken zählte. Weiten Teilen der heutigen Linken ist dieses „der Zukunft zugewandt“, dieser Drang, „absolutly contemporary“ zu sein, in den letzten Jahren verloren gegangen. Die Luft hat das nicht besser gemacht. Utopische, optimistische Kühnheit – davon haben wir heute deutlich zu wenig. Deswegen gefällt mir Barbrooks Buch über die „Klasse des Neuen“.

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