Systemfehler

Der Finanzkapitalismus macht die Marktwirtschaft ungerecht und instabil? Aber ja doch, darauf kann man sich heute schon mit fast jedem einigen. Bloß: Folgen hat das kaum welche. Der Freitag, 11. März 2010.

 

Es waren die bestbezahlten Bankmanager, mit Nobelpreisen überhäufte Ökonomen, genialische Mathematiker und Statistiker, die bewiesen haben, dass freie Kapitalmärkte, die immer raffiniertere Finanzinstrumente anbieten, zu einer immer effizienteren Allokation von Kapital führen; und sie haben auch mit eleganten Modellen dargelegt, dass solche Märkte nicht nur effizient funktionieren, sondern auch eine nie gekannte Stabilität erreichen: schließlich erlauben ja all die Finanzinstrumente, synthetischen Produkte, Swaps, Leerverkäufe, verbriefte Hypothekarkredite, dass man sich gegen jedwedes Marktrisiko absichert.

 

Dagegen haben kleine NGOs wie Attac gesagt, dass die Dominanz der Finanzmärkte nicht nur den Kapitalismus immer ungerechter, sondern auch noch instabiler macht.

 

Nun, Attac hatte recht, und all die CEOs und Nobelpreisträger und Risikorechner mit ihren Glockenkurven hatten unrecht.

 

Die Staaten und Regierungen, von denen es vorher hieß, sie sollten sich bitte schön aus der Wirtschaft raushalten, mussten den Kapitalismus retten. Denn die Banker haben geschafft, was heute kaum mehr ein Linker wagen würde: Sie hätten ihn glatt kaputt gemacht, den Kapitalismus. Der wäre kaputt gewesen, wäre der Staat nicht im letzten Moment eingesprungen, hätte er die zerbrochenen Teile nicht notdürftig zusammengeklebt. Seither kocht sie hoch, die Wut auf die Banker. Wohl nur mehr das Ansehen von Kinderschändern ist unter dem der Banker. Und die Broker und Fonds-Leute tun auch alles dafür, ihr Image weiter zu beschädigen. Zuletzt setzten sie ihre exaltierten Instrumente dafür ein, ein paar schnelle Milliarden beim Zocken gegen Griechenland zu verdienen. Die Finanzmarktakteure, die es allesamt nicht mehr geben würde, hätten die Staaten sie nicht gerettet, wetten schon wieder gegen ganze Volkswirtschaften. Vertrauensbildende Maßnahmen sehen anders aus.

Kreditausfallsversicherungen (CDS) für griechische Staatsanleihen wurden wie wild gehandelt: Nicht nur von jenen, für die sie einen Sinn machen würden – also von Besitzern griechischer Staatanleihen. Sondern von Investoren, die hofften, die Kreditausfallsversicherungen könne man morgen teurer verkaufen, als man sie heute gekauft hat. Das Geschäft geht nur auf, wenn man Griechenland ordentlich schlecht redet. Im Ergebnis muss Griechenland heute deutlich höhere Zinsen für Kredite zahlen als vor der spekulativen Attacke.

 

Wie man mit Leerverkäufen Firmen in den Ruin treiben kann, genauso kann man mit solchen CDS ganze Länder in den Keller zocken. Wenn man aber Banker fragt, was denn der positive Nutzen solcher Tradingpraktiken ist, dann sagen sie gebetsmühlenhaft: Die effiziente Allokation von Kapital. Danke schön, davon konnten wir schon nach der Asien- oder Russland-Krise ein Lied singen, erst recht nach der Kernschmelze der Finanzmärkte.

 

Aber mit all dem rennt man heute ja offene Türen ein: Ansichten, für die Sarah Wagenknecht vor zwei Jahren noch der Verfassungsschutz an den Hals gejagt worden wäre, werden heute von jedem biederen CDU-Mann vertreten. Dass das mit den Bankern also jetzt wirklich unmöglich ist – kaum eine Meinung ist so konsensual wie diese. Und überhaupt: die Boni. Kohle für die Dodelbanker.

 

Ein bisschen von der Rage auf die Banker ist auch Selbsthass. Waren  die raffinierten Finanzjongleure, die Phantasiesummen verdienten, nicht die Role-Modells des globalen Kapitalismus? Ja, als „Masters of the Universe“ waren sie bei manchen verhasst, aber viele bewunderten sie offen oder zumindest insgeheim, diese Magier die aus Geld viel Geld machten, die am Tag Abermillionen umsetzten und digitales Geld durch Glasfaserkabel ans andere Ende der Welt jagten. Ihr Lebensstil, auch die Ruchlosigkeit im Umgang mit großen Summen, wurden als Ausweis von Individualität und Genialität genommen. Und irgendwie wollte ja jeder Mitspielen bei dem Spiel. Der Opa kaufte für die paar Tausender, die er auf der hohen Kante hatte, Immobilienzertifikate, und wenn ihm jemand nur sechs Prozent Rendite versprach, dann war das zu wenig. Zehn sollten es mindesten sein, wenn doch die Deutsche Bank 25 Prozent Eigenkapitalrendite schafft.

 

Die geprellten Anleger sind voller Zorn auf die Banker. Bloß, wenn ihnen jemand „eine einmalige Gelegenheit“ versprach, bekamen sie glänzende Augen. Wie in allen Epochen des Spekulationsfiebers mussten sie die Erfahrung machen, dass solche einmaligen Gelegenheiten vor allem dazu da sind, die Dummen um ihre Ersparnisse zu bringen. Geld blendet und große Summen blenden derart, dass sie eine ganze Zeit in ihr Licht tauchen können. Was in der Euphorie als Geschäftstüchtigkeit erscheint, wirkt, wenn die Euphorie vorbei ist, wie Diebstahl, Korruption und arglistige Übertölpelung.

 

Jetzt reiben sich alle die Augen und fragen, wie es denn weiter gehen soll mit den Bankwesen. Selbst unverdächtige Zeitgenossen wie Paul Volcker, der legendäre Ex-US-Notenbankchef und nunmehrige Berater von Barack Obama, fragen jetzt spitz, was denn eigentlich der Beitrag der Finanzindustrie zu Innovation und Fortschritt war in den vergangenen zwanzig Jahren. Volcker bitterböse Antwort: mehr als die Erfindung des Geldautomaten falle ihm da auch nicht ein.

 

Denn die eigentliche Bedeutung der Banken für die Marktwirtschaft ist ja relativ simpel: Sie sammeln überflüssiges Geld von Sparern ein und geben es an Krediten aus, an Leute und Firmen, die damit Investitionen tätigen. Da sie für jeden Euro, den sie an Spareinlagen einnehmen, zehn Euro an Krediten verleihen, wird in diesem Prozess ein wundersames Rad der Geld- und Kreditschöpfung gedreht, so dass selbst dieses relativ simple Geschäft des „Brot-und-Butter“-Bankings Laien schon als reichlich wunderliches Vodoo erscheint. Inwiefern aber verbessert die stetige Erfindung immer neuer Finanzinstrumente dieses Geschäftsmodell? Okay, dass man sich mit speziellen Produkten gegen spezielle Risiken absichern kann, hat seinen Vorteil, auch dass eine lokale Bank nicht nur in ihrer lokalen Umgebung nach Investitionsmöglichkeiten Ausschau hält, mag gewisse Effizienzgewinne haben und vor allem peripheren Weltgegenden den Zugang zu Kapital gewähren (schon diesem Vorteil stehen Nachteile gegenüber: etwa das zunehmende Desinteresse an einem Geschäftspartner, je weiter der weg ist). Aber abgesehen davon hält sich der Nutzen für eine stabil prosperierende Marktwirtschaft in Grenzen.

 

Als Linker ist man mit solchen Einsichten heute in einer paradoxen Situation: Einerseits teilen heute 99 Prozent der Leute Haltungen, die vor zwei Jahren nur von radikalen Kapitalismuskritikern vertreten wurden. Andererseits folgt daraus nicht viel. Ja, nach der Griechenland-Attacke wird es möglicherweise Einschränkungen für CDS‘ geben, Finanzminister Wolfgang Schäuble will jetzt im EU-Rahmen Leerverkäufe verbieten lassen. In den USA machen sich seit Monaten die besten Köpfe schon Gedanken darüber, wie ein neues, regulierteres Bankenwesen aussehen könnte. An Vorschlägen mangelt es nicht: Barack Obama will, beispielsweise, ein strenges Konsumentenschutzgesetz verabschieden lassen, das es Banken nicht mehr erlaubt, Anleger und Kreditnehmer einfach straflos abzuzocken. Und hinter all dem steht die Frage, wie der zentrale Systemfehler des Finanzsystems korrigiert werden kann.

 

Der besteht schließlich darin, dass das Finanzsystem nur ein unvollkommenes Marktsystem ist. Wirtschaftet ein Zahnstocherfabrikant schlecht oder geht er zu große Risiken ein, dann geht er Pleite. Dieses Risiko nimmt ihm niemand ab. Macht das eine Bank, dann wird sie vom Staat gerettet – sie muss nur groß genug sein, um „systemrelevant“ zu sein. Weil die Banker das wissen, können sie unverhältnismäßige Risiken eingehen.

 

Heute sind wir in der paradoxen Lage, dass eigentlich jeder in etwa weiß, was vernünftigerweise getan werden müsste – aber dass niemand es tut. Weil die Macht der Regierungen nicht ausreicht, weitreichende Eingriffe durchzusetzen; weil die Bankenlobby es immer noch schafft, in allen Reformkommissionen so lange zu obstruieren, bis exakt nichts geschieht; weil alles vom Finanzmarkt USA abhängt und sich dort die Banker einfach die Republikaner gekauft haben, die selbst eine Stärkung des Konsumentenschutzes verhindern, weil der ja einer staatlichen Institution bedarf (und nichts hasst die amerikanische Rechte so sehr wie einen handlungsfähigen Staat).

 

Kurzum: So viel Zustimmung hatten linke Kapitalismuskritiker noch nie. Aber es ist nicht recht zu erkennen, dass das so bald etwas ändert.

Ein Gedanke zu „Systemfehler“

  1. Nur wenn man zynisch sein wollte, könnte man Kapitalismus als „heilige Kuh“ bezeichnen. Das war ja gerade das problem. Wir leben zum Glück nicht in einem 100%-igen Kapitalismus. Obwohl sich der Prozentsatz (dank von Misik erwähnten hochbezahlten Bankmanagern und Nobelpreisträgern) in den letzten 20 Jahren immer mehr an den 100% angenähert hat. Als das Ergebnis dieses Irrsinns vor der Tür stand haben wir es dem mittlerweile verkümmerten Sozialismus zu verdanken, dass das gesamte globale Wirtschaftssystem nicht zusammengebrochen ist. Jetzt müsste man den Sozialismus wieder etwas aufpeppeln, den der hat sich deutlich übernehmen müssen.

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