Der Egalitarismus – die nächste „große Idee“

In der internationalen Debatte wird Richard Wilkinsons und Kate Picketts Buch »Gleichheit ist Glück« bereits als »game changer« gesehen – als eine Studie, die das Zeug dazu hat, die Diskurse zu verändern und vielleicht sogar die Politik auf eine ganz neue Bahn zu bringen. Was passiert da eigentlich gerade? Berliner Republik, Juli 2010

 

Schon lange nicht hat ein Buch in gesellschaftswissenschaftlich und politisch interessierten Kreisen derart eingeschlagen wie „Gleichheit ist Glück“ von Richard Wilkinson und Kate Pickett. Es ist, als eröffneten sie uns einen neuen Blick auf unsere Gesellschaften – als würden sie uns helfen, etwas zu erkennen, was wir bisher schon so „irgendwie“ wussten, aber nur eher unscharf gesehen haben. Als fiele uns etwas wie Schuppen von den Augen. Nämlich: Dass egalitäre Gesellschaften besser funktionieren als solche, die durch grobe Reichtumsdifferenzen zerrissen sind. Nun würde man annehmen, dass dies keine große Neuigkeit ist. Was ist aber dann das Spezifische dieses Buches, warum schlägt es gerade jetzt so ein? Wieso wird es schon als „Game Changer“ in der internationalen Debatte gesehen, als Studie, die die Diskurse und möglicherweise sogar die Politik auf eine neue Bahn bringen könnte?

Die Ergebnisse ihrer Arbeit müssen hier nicht allzu ausführlich referiert werden – man lese hierzu etwa das Interview mit Richard Wilkinson auf Seite ???.

Sie fügen sich auch ein in eine Reihe von Forschungsergebnissen der modernen „Glücksforschung“ der vergangenen Jahre, die den Wert der Gleichheit herausstreichen. Schon Richard Layard hat in seinem Buch „Die glückliche Gesellschaft“ unterstrichen, „dass die Menschen heute nicht glücklicher sind als vor 50 Jahren. Und das, obwohl sich das reale Durchschnittseinkommen in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt hat“. Wenn der Reichtum einer Gesellschaft wächst – also das Nationaleinkommen pro Kopf -, aber mit ihm auch die Ungleichheit, dann werden die Menschen oft sogar unglücklicher. Denn dann setzt ein „Statuswettlauf“ ein, und „wir fühlen ein großes Bedürfnis, mit anderen mitzuhalten“. Wilkinson und Pickett beweisen nun mit einer Fülle an Fakten aus rund 200 internationalen Datensätzen, dass in Gesellschaften mit groben Ungleichheiten die Menschen im Durchschnitt unglücklicher sind. Gewiss sind auch in diesen Gesellschaften die Reichen glücklicher als die Armen, aber es sind in jedem Einkommenssegement die Menschen unglücklicher als in egalitären Gesellschaften. Also: In Gesellschaften, die schroff in reich und arm gespalten sind, sind die Reichsten keineswegs besonders glücklich, im Gegenteil. Egalitäre Gesellschaften sind also für alle besser, nicht nur für die, die heute unterprivilegiert sind. Kurzum: Der Egoismus ist sogar für die Egoisten unkomfortabel. Und die Autoren stützen sich nicht nur auf sanfte Parameter wie „subjektive Lebenszufriedenheit“, sondern vor allem auf harte Lebensqualitätsparameter wie Lebenserwartung, Krankheitsrisiko, psychische Probleme, Gewaltkriminalität, Fettleibigkeit, Teenagerschwangerschaften, soziale Mobilität etc. Ungleichheit setzt alle unter Stress, die auf den unteren Sprossen der sozialen Leiter zahlen freilich den mit Abstand höchsten Preis. Deklassiertheit, Unterprivilegiertheit, materieller Mangel, gestörte soziale Beziehungen, kulturelle Abgehängtheit, Respektlosigkeit – all das grassiert in Gesellschaften mit krassen und wachsenden Ungleichheiten. Wenn die Gewinner in solchen Gesellschaften uns glauben machen wollen, Ungleichheit sei funktional für Prosperität, weil sie eben Leistung belohne, dann übersehen sie gerne die Kosten, die sie einer Gesellschaft damit aufbürgen. Wer in einer Gesellschaft mit verschärfter Statuskonkurrenz unten ist, der fühlt sich erniedrigt. Depraviertheit und Abgehängtheit macht psychisch krank, oft auch gewalttätig und lässt Menschen, die unter anderen Bedingungen ein gutes Leben führen und einen produktiven Beitrag zu einer Gesellschaft leisten könnten, absacken. Die sozialstaatliche Garantie des existentiellen Minimums kann daran nicht wirklich viel ändern. Wer Unten ist, wird täglich gemobbt, ist Respektlosigkeit ausgesetzt, Ziel fortwährender Kränkungen, ist zum Loser gestempelt, wird zum Opfer, und das heißt auch: hat keinen Subjektstatus mehr, ist nur mehr Objekt sozialarbeiterischer Verwaltung. Wenn viele Menschen täglichen Demütigungen ausgesetzt sind, dann verrotten Gesellschaften von innen.

Die Datensätze und Forschungsergebnisse lassen also nur einen zwingenden Schluss zu: Gute Politik muss versuchen, das Wachstum grober Ungleichheiten an Einkommen und Vermögen zu verhindern. Nein, mehr noch: Sie muss diese Ungleichheiten verringern.

Nun ist freilich die Gleichheit in den vergangenen Jahrzehnten gehörig aus der Mode gekommen. Schon der Versuch, nicht absolute Gleichheit, sondern nur ein bisschen mehr Gleichheit unter den Menschen herzustellen, wurde als naives Liebäugeln mit gefährlichen kommunistischen Flausen an den Pranger gestellt und kaum etwas gilt als dermaßen altmodisch und total retro wie die „Gleichmacherei“. Worte wie „Verteilungsgerechtigkeit“ haben etwa den abgestandenen Charme von Laminatfußböden. Ungleichheit sei funktional für prosperierende Marktwirtschaften, hatte man erklärt, aber sie sei auch eine schöne Sache, da die Welt doch bunt und alle Menschen doch total unterschiedlich seien. Deshalb wird auch heute noch jeder Versuch, Gesellschaften auch nur ein bisschen gleicher zu machen, von vielen Leuten instinktiv als ein Angriff auf die menschliche Natur angesehen. In der Sozialphilosophie wurden deshalb Begriffe wie „komplexe Gerechtigkeit“ eingeführt, die legitimen Gleichheits- wie Ungleichheitsaspirationen Rechnung tragen wollten und die Parteien der demokratischen Linken – Sozialdemokraten voran – räumten ihren Grundwert „Gleichheit“ in die Rumpelkammer und sprachen nur mehr verschämt von „Chancengleichheit“, „Umverteilung der Möglichkeiten“ oder „Fairness“ – als könnte man „gleiche Chancen“ haben ohne die Nivellierung der Ungleichheiten, als wäre nicht die kumulierende „Ungleichheit im Ergebnis“ für die jeweils nächste Generation notwendigerweise eine „Ungleichheit der Möglichkeiten“.

Das Ergebnis: 59 Prozent der Weltbevölkerung lebten im vergangenen Jahrzehnt in Gesellschaften, in denen die Ungleichheiten zunahmen, und nur fünf Prozent in solchen, in denen sie abnahmen.

Mit dem Absturz des finanzgetriebenen Kapitalismus in die schwerste und gefährlichste Wirtschaftskrise seit 80 Jahren ist nun mehrerlei eingetreten: Erstens hat die Vorstellung, dass wir Ungleichheiten in Kauf nehmen müssen, weil sie uns eine prosperierende Ökonomie garantieren, gehörig an Plausibilität verloren – um das Mindeste zu sagen (und diejenigen, die sie mit besondere Verve unter die Leute brachten, massiv an Reputation). Zweitens wird sich die Bereitschaft der normalen Bürger, einen unverhältnismäßig hohen Anteil der Mittel aufzubringen, die zur Rettung des Finanzsystems notwendig waren (und die in einem unverhältnismäßig höherem Maße den Besitzern großer Finanzvermögen nützen), bald als sehr beschränkt erweisen. Simpel gesagt: Fairness legt hier eine Abschöpfung der großen Vermögen nahe. Die obersten zehn Prozent in Deutschland besitzen 61 Prozent aller Privatvermögen. Während aber jeder Gutverdiener aus der Mittelschicht 53 Prozent jedes zusätzlich verdienten Tausend-Euro-Scheins an Steuern und Abgaben abführt, überweist jeder Millionär von jeder zusätzlich erwirtschafteten Million durchschnittlich nur 35 Prozent an den Staat. Drittens und vor allem sind die Kräfte der demokratischen Linken – Parteien, aber auch Think Tanks – auf der Suche nach einer neuen Idee. Nicht einfach nach „Konzepten“, „Steuerplänen“ oder „Reformvorschlägen“, sondern nach einer eminenten Idee, einer Story, einem Ziel, das all diese Konzepte zusammenhalten kann. Und dass egalitärere Gesellschaften „gute Gesellschaften“ sind, dass sie besser funktionieren, dass sich der Einzelne in ihnen unbeschwerter lebt, dass in ihnen der Zusammenhalt besser klappt und dass sie den sozialen Stress und die mit ihm verbundenen desaströsen Erscheinungen reduzieren – das ist eine solche „große Idee“.

In diesem Zusammenhang ist der Nachweis Wilkinsons und Picketts von besonderer Bedeutung, dass egalitäre Gesellschaften für alle besser sind, also auch für die große Mehrheit jener, die in unegalitären Gesellschaften zu den Privilegierten zählen. Wäre es anders – wären egalitäre Gesellschaften besser für die Unterprivilegierten, aber schlechter für die Privilegierten -, dann wäre das unter Gerechtigkeitsaspekten gewiss auch ein Grund, für mehr Gleichheit zu argumentieren, man täte es aber von einer anderen Grundlage aus. Es wäre so etwas wie bloße „Interessensvertretung“, fast Klientelpolitik, wenngleich eine, die eine moralische Begründungen durchaus auf ihrer Seite hat. Was Wilkinson und Pickett aber zeigen, ist, dass Maßnahmen zur Etablierung einer egalitären Gesellschaften nicht nur im Interesse der Unterprivilegierten wären – mehr Gleichheit würde sich letztendlich für alle Bürger lohnen. Somit ist die progressive Idee des Egalitarismus die Basis einer werteorientierten Politik, die sie nicht einfach nur an bestimmte Bevölkerungsgruppen richtet, sondern grundsätzlich an alle Bürger.

Dies gibt dem Buch der beiden Forscher seinen spezifischen Charme.

Damit das Buch aber wirklich zum „Game-Changer“ werden kann, brauchen die politischen Akteure des progressiven Lagers dennoch einen gehörigen Schuss an Mut – und es darf schon gefragt werden, ob sie die Courage haben, die notwendigen Schlüsse daraus durchzukämpfen. Egalitärere Gesellschaften entstehen nämlich nicht so einfach, dafür reicht es nicht, den Sozialstaat zum sozialen Dienstleistungsstaat umzubauen oder die Bildungschancen der Unterprivilegierten durch Schulreformen etwas zu verbessern. Damit Gesellschaften mit massiven Reichtumsungleichheiten zu weniger ungleichen Gesellschaften werden, bedarf es einer massiven Kehrtwende in vielen Politikbereichen. Es bedarf der Stärkung der Gewerkschaften und der Einführung flächendeckender höherer Mindestlöhne, aber auch eines dramatischen Umbaus des Steuersystems. Was wäre notwendig? Die Besteuerung hoher Vermögensgewinne ebenso wie die de facto konfiskatorische Besteuerung hoher Erwerbseinkommen – sagen wir: Ein Spitzensteuersatz von 80 Prozent ab einer Einommenshöhe von 200.000 Euro. Steuern auf Vermögensbesitz und hohe Erbschaftssteuern. Anders wäre es kaum möglich, die seit Jahrzehnten akkumulierten Vermögensungleichheiten zu reduzieren. Wir wissen schließlich, welche Maßnahmen es waren, die die „Große Kompression“, also die Nivellierung der Ungleichheiten in den USA im Folge des New Deal möglich gemacht haben: Franklin D. Roosevelt hat in den dreißiger Jahren den Spitzensteuersatz für sehr hohe Einkommen auf 79 Prozent angehoben – später stieg er sogar noch auf 91 Prozent. Die Erbschaftssteuer erreichte zeitweise einen Spitzenwert von 77 Prozent – wohlgemerkt, in den USA, die allgemein nicht als das Mutterland des Kommunismus gelten. In den dreißig Jahren, die durch diese Politik geprägt waren, sind die sozialen Unterschiede tatsächlich nach und nach nivelliert worden.

Würde man all dies durchsetzen, hätten natürlich noch immer nicht alle die gleiche materielle Ausstattung – aber sie hätten eine vergleichbare materielle Ausstattung. Manche hatten zehnmal, zwanzigmal soviel wie der Durchschnittsverdiener – aber kaum jemand mehr das Dreihundertfache. Dass ein Bankvorstand seinen Job hinwirft, weil er der Meinung ist, um 500.000 (!) Euro pro Jahr könne man keine qualifizierten Leute finden – ein solch bizarrer Vorgang wäre dann kaum mehr vorstellbar. Es wäre dann nicht mehr so, dass Bürger in einem Gemeinwesen, aber de fakto auf unterschiedlichen Planeten leben. Und damit wäre aber immer noch nicht alles getan: Wir müssten mehr Institutionen schaffen, die allen Bürgern zur Verfügung stehen – und die auch von allen Bürgern gleichermaßen akzeptiert werden. Ein Schulsystem etwa, das den Unterprivilegierten gleiche Chancen eröffnen – und das dennoch so gut ist, dass auch die Begüterten kein „Opting-Out“ betreiben. Ein Gesundheitssystem statt der gegenwärtigen Zwei-Klassen-Medizin, hervorragende öffentliche Verkehrsmittel, die von Bürgern aller Schichten benützt werden (und in denen sie sich deshalb auch als Gleiche begegnen) etc.

Das Buch von Richard Wilkinson und Kate Pickett kann die Regeln der Diskurse verändern. Aber sind die politischen Kräfte der demokratischen Linken auch bereit, für eine solche Änderung der „Rules of the Game“ zu kämpfen?

 

Obiger Beitrag erschien ursprünglich in der „Berliner Republik“, einem SPD-nahen Debattenmagazon. Link dazu hier. In der selben Ausgabe findet sich auch ein Interview mit Richard Wilkinson. Der Text wurde auch vom Berliner Progressiven Zentrum für ihr Debattenprojekt „Linke Mitte“ übernommen. Mehr dazu hier.

2 Gedanken zu „Der Egalitarismus – die nächste „große Idee““

  1. Es lohnt sich aber auch, die Kommentare zur Analyse zu lesen.
    Nicht desto Trotz fürchte ich, dass dieses Buch der Sache eher ein Bärendienst erweist. Über Zahlen und deren Rechtmäßigkeit lässt sich endlos debattieren – und letztendlich sind sie doch egal. Dass eine egalitäre Gesellschaft letztendlich eine bessere ist, ist durch Zahlen sowohl beweis- als auch widerlegbar.
    Wir bewegen uns hier auf ideologischem Pflaster und da geht es um Ideen und wie diese kommuniziert werden können. Die Idee des Egalitarismus ist auch dann eine gute, selbst wenn sich die de facto Lebenserwartung der Reichsten dadurch nicht erhöht. Mathematik tut hier nicht viel zu Sache und führt eher zum Streit um den Bart des Propheten.
    Und außerdem wären da noch Brüderlichkeit und Freiheit. Auch Kandidaten fürs next big thing?

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