Wieviel Quote bringt meine Meinung?

Bei uns gibt es Medienfreiheit. Zensur findet nicht statt. Das ist wahr und falsch zugleich. Der Standard, 11./12. Dezember 2010

Nichts wird so allgemein genutzt wie Medien. Schon der Satz, dass doch jeder Medien nutze, trifft die Sache nur oberflächlich. Die Menschen nützen Medien ja nicht nur, sie leben in ihnen. Sie stehen auf, und drehen das Radio an. Sie werfen vielleicht den Computer an und überfliegen ihre Lieblingsstartseite. Sie schmieren sich die Semmeln und haben ein Auge auf das Frühstücksfernsehen. Sie trotten verschlafen zur U-Bahn und nehmen die Gratiszeitung aus dem Selbstbedienungskarton. Die Sachbearbeiter im Magistrat reichen sich die Zeitung weiter, zwischen Frühstück und Gabelfrühstück hat sie das ganze Büro durch. Was sie denken, haben sie aus Medien. Wie sie sich anziehen wollen, das wissen sie aus Medien. Wer sie sein wollen, das haben sie aus Medien. Wer sie nicht sein wollen, das markieren sie mit Medien. Du RTL? Ich Arte! Du Krone? Ich Standard! Ihr Leben ist medial modelliert.

Sie nutzen Medien? Nein, benützen tut man Kartoffelschäler und den Elektrorasierer. Das nutzen von Medien geht über das bloße benützen bei weitem hinaus, so weit, dass der Begriff der Medien-Nutzung selbst schon halb falsch ist. Die Medien benützen den Benutzer mindesten so sehr, wie der Benützer sie.

Und ich habe mich oft schon gefragt, nein, eigentlich ist das anders, die Frage springt mich gelegentlich überraschend an: Wie wenig Begriff kann man eigentlich von dem haben, was das Leben so massiv prägt? Nehmen wir nur einen x-beliebigen Normalbürger. Der sagt ganz unbedacht den Satz: „Das ist in der Zeitung gestanden…“, was er als selbstverständliche Gewähr für den Realitätsgehalt der Meldung nimmt. Ganz problemlos kann derselbe Bürger aber ein paar Minuten später verächtlich sagen: „Was die wieder zusammenlügen…“, womit das Faktumvertrauen wieder massiv dementiert ist.

Der Umstand, dass das Leben der meisten Menschen massiv von Medien beeinflusst ist, kontrastiert erstaunlich mit dem Sachverhalt, dass die allermeisten Menschen überhaupt keine Ahnung über das innere Funktionieren von Medien haben. Natürlich fällt mir das vielleicht nur besonders auf, weil ich als, ha, Medienmensch davon mehr Ahnung habe als über das innere Funktionieren von Bäckereien, Banken oder Ministerialbürokratien. Womöglich stehen die meisten Menschen den Medien nur mit dem gleichen Unverständnis gegenüber, wie ich den Bäckereien und Ministerialbürokratien. Kann ja sein. Wobei auch dann, so glaube ich, mehr Fehlurteile über Medien kursieren als Fehlurteile über Bäckereien – weil, über Bäckereien macht man sich so im Alltag ja keine Gedanken. Ist ja den meisten Leuten egal, wie Bäckereien funktionieren.

Nun wollen wir einmal ein paar Dinge vorausschicken. Medienunfreiheit, der Kampf um elementare Pressefreiheit – das ist etwas, um das andere kämpfen müssen. Nicht wir. Es gibt Länder, wo Reporter erschossen werden, investigative Journalisten in den Kerker wandern. Wo man für einen Leitartikel, der es mit dem Präsidenten aufnimmt, seine Existenz riskiert. Sofern es überhaupt Zeitungen gibt, in denen Leitartikel theoretisch erscheinen könnten, für die man die Existenz verlieren könnte. Aber diese Länder sind weit weg.

Bei uns gibt es Medienfreiheit. Zensur findet nicht statt. Aber wenn man diese beiden Sätze so schreibt, würden wohl schon die meisten Menschen aufjaulen. Medienfreiheit? Bei uns? Zensur ist doch alltäglich! Nur viel subtiler! Schau doch rein in die Zeitungen! Überall die gleiche Meinung. Überall ein Medienkonzern, der wiederum mit irgendwelchen Parteien verbandelt ist, oder eine Landesregierung, die wiederum mit irgendwelchen Medien verbandelt ist, sodass von Medienfreiheit doch keine Rede sein kann. Oder das Kapital, das sich seine Zeitungen hält.

Und das ist nicht falsch, aber auch nicht richtig. Ich frage mich, was das bedeutet, dass über ein solch elementares Thema lauter Urteile kursieren, die irgendwie richtig und irgendwie falsch zugleich sind. Das heißt ja zunächst, dass wir überhaupt keinen klaren Begriff davon haben, worum es eigentlich geht.

Aber was genau ist daran falsch? Die allermeisten Menschen, denen ich begegne, glauben, dass Medien mit dem, worüber sie berichten – ja: mit jeder kleinen Meldung – eine Strategie verfolgen. Sie glauben, dass es da eine Strategie eines Eigentümers gibt, die vom Herausgeber oder der Chefredaktion exekutiert wird, und vom emsigen Redakteurinnen und Redakteuren dann in jeden Einspalter einfiltriert wird. Aber das stimmt natürlich so für praktisch kein Medium, für’s Qualitätsblatt nicht, für’s Schundblatt auch nicht. Denen kann man dann erzählen, dass Redakteure durchaus eigensinnige Leute sind, die sich nichts diktieren lassen – oder jedenfalls nicht auf so simple Weise. Aber schon das stimmt ja auch nicht. Weil ihnen in der Regel gar niemand etwas diktiert. Was ja auch dazu führt, dass hochgradig erratisch ist, was in der Zeitung steht. Redakteure haben Geschmäcker und interessieren sich für jenes mehr, für jenes weniger. Zehn Redakteure interessieren sich für zehn Dinge – meinetwegen für zwanzig. Was sie nicht interessiert, findet nicht statt. Man könnte sagen: Redakteure sind auch Menschen. Was ein Teil der Wahrheit ist. Aber wieder nur ein Teil.

Medien dienen zur Verbreitung von Information, aber sie dienen auch zum Entertainment. Zeitungsherausgeber haben womöglich politische Loyalitäten, aber sie haben auch kommerzielle Interessen. Journalisten wiederum haben auch ihre politischen Meinungen, aber auch ein Interesse an Meinungspluralismus, und zwar nicht nur quer über die Medienlandschaft hinweg, sondern auch an Pluralismus in ihren eigenen Medien. Weil, sie wollen schreiben dürfen, was sie möchten, das setzt aber voraus, dass ihre Kolleginnen auch schreiben dürfen, was sie möchten. Wie formatieren sich aber diese verschiedenen Vektoren zum Produkt „Zeitung“? Sie können Meinungspluralismus begünstigen. Aus guten und schlechten Gründen. Über die guten, die heroischen, will ich hier keine Worte verlieren. Die schlechten sind: Es gibt auch kommerzielle Interessen am Pluralismus. Weil Meinungsmonokultur fad ist, Streit aber auch einen Entertainmentcharakter hat, forcieren manche Chefredakteure sogar Meinungen, die quer zur Blattlinie liegen. Nichts ist aufregender als die abweichende Meinung, und nichts knallt mehr als eine skandalöse Abweichung. Auch das ist eine Realität.

Aber ist die normierte Abweichung nicht nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt? Der normale Redakteur weiß, wie weit er abweichen darf. Nirgends stehen Verbotstafeln, aber doch weht so etwas wie ein Geist, und sei es bloß der Zeitgeist, der die ungeschriebenen Regeln diktiert.

Und doch ist auch das nur das halbe Lied. Gibt es nicht so etwas wie den Pluralismus im Rahmen des Erlaubten? Nein, nicht dass es Meinungen gäbe, die zu Äußern verboten wäre (außer in Spezialfällen, etwa, wenn sie gegen das Verbotsgesetz verstoßen oder wenn es sich auf Loblieder auf den Sex mit Kindern handeln würde). Aber es gibt doch so etwas wie einen Korridor der erlaubten Meinungen, sagen wir: von rechtskonservativ bis sehr gemäßigt linksliberal, innerhalb dem die „ernstzunehmenden“ Urteile verortet sind. Dieser Korridor wird enger. Wer sich außerhalb dieses Korridors positioniert, kann einen hübschen Haufen Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ja, er wird es womöglich sogar zu einer großen Nummer im Medienbusiness bringen, aber wird immer so mit einem Bein eine Lachnummer sein. Man wird ihn Quergeist nennen, oder Spinner. Er darf seine Meinung frei äußern, auf dem Platz, den ihm die Gatekeeper zuweisen. Aber als Gatekeeper hat man sich notwendigerweise innerhalb des Korridors zu bewegen.

All dies sind paradoxe Bewegungen. Einerseits gibt es kaum eine Meinung, und sei sie noch so abstrus, die nicht geäußert würde. Ja, je bizarrer eine Meinung, umso mehr wird sie via Talkshows und Coverstorys in die Welt hinausposaunt, weil der „Aufreger“ ja für Aufmerksamkeit sorgt, und sich Aufmerksamkeit in Quote und Auflage und somit in kommerziellen Erfolg übersetzt. Aber gleichzeitig gibt es eine feine, unsichtbare, aber stets zu beachtende Linie, innerhalb derer sich die „ernsthaften“ Positionen bewegen.

Ich weiß nicht, ob das die Meinungs- und Pressefreiheit beschränkt; ich habe meine Schwierigkeiten mit dem Pathos des Freiheitskampfes, wenn eh jeder alles sagen kann, ohne dass ihn jemand behelligt. Aber all das ist Teil der Wahrheit von Freiheit und Beschränkung in unserer Welt, in unserer Zeit. Und es gibt wohl noch ein paar andere Teile der Wahrheit. Und es ist, wie die Briten sagen würden, puzzling, wie schwer es offenbar ist, all diese Teile zu einem konzisen Bild zusammen zu fügen.

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