Auf zu neuen Zielen!

Rede auf der „Linken Medienakademie“, Berlin, 13. März 2011

Liebe Freundinnen und Freunde,

es ist mir eine große Freude, bei dieser Linken Medienakademie sprechen zu dürfen, die ja ihre Themenstellung sehr weitgehend interpretiert. Hier wird ja nicht nur diskutiert und praktisch in Workshops erarbeitet, wie Linke Medien nutzen können, also gewissermaßen als technologische Tools, sondern darüber hinaus in einem sehr weit gefassten Sinn, welche Kommunikationsstrategien Linke einschlagen können und sollen. Dies betrifft damit nicht nur Linke in Medienberufen oder Linke, die mit primär mit Medien arbeiten, sondern alle, die sich zum Ziel setzen, unsere Gesellschaften gerechter, fairer zu machen, das, was sie als verbesserungswürdige gesellschaftliche Zustände betrachten, zu besseren gesellschaftlichen Zuständen zu verwandeln. Es werden hier also nicht nur Fragen verhandelt, die etwa für linke Blogger oder linke Journalistinnen von Relevanz sind, sind, sondern Fragen, die für jeden linken Aktivisten wichtig sind, oder für jede linke Politikerin.

In diesem Sinne bin ich gebeten worden zum Thema zu sprechen: Braucht die Linke eine neue Sprache?

Die Freundinnen und Freunde vom Organisationskomitee haben diese Frage vorgeschlagen, weil ich mich ihr in einem Kapitel meines jüngsten Buches widme und sie haben als Anriss, hier im Programmheft, einen Absatz aus diesem Kapitel gewählt, den ich hier jetzt gleich frech aus Ausgangpunkt nehmen will, von dem ich weiter denken will. Hier heißt es:

„ Letztendlich haben heute alle progressiven Milieus ein Kommunikationsproblem, nicht nur die sozialdemokratischen Parteien, über deren aseptische Polit-Sprache sich viele lustig machen. Ähnliches gilt für die radikaleren Linksparteien mit ihren oft leeren halbstarken Worthülsen und ihrer toten Klassenkampfrhetorik aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts oder für die Gewerkschaften mit ihrem Funktionärs-Sprech und auf andere Weise für linke Intellektuellenmilieus, für manche NGOs und antirassistische Aktivistengruppen mit ihren aseptischen, hermetischen Wortgirlanden, die ohne Begriffe wie „Multitude“, „Diversity“, „Biopolitik“ und „radikale Intervention“ nicht auskommen. Jede dieser Sprachen ist bestens geeignet, die kleinen Truppen der jeweiligen Gesinnungsgruppen auf einen gemeinsamen Jargon zu stimmen und von anderen Milieus abzugrenzen, aber völlig ungeeignet, über die überschaubaren Häuflein hinaus große Bevölkerungsgruppen für eine progressive Politik zu gewinnen, einen moralischen Referenzpunkt zu bilden, ein Ferment gewissermaßen, das einen neuen ethischen Block, eine progressive Mehrheit zusammenhält.“

Hier ist also von einer Sprache die Rede, die gar nicht mehr versucht, die breite Mehrheit der Bürger kommunikativ zu erreichen, im Extremfall sogar, weil das gar nicht mehr das Ziel solcher linken Politik ist. Ich möchte das an einem fiktiven Beispiel illustrieren, das, wenngleich etwas zugespitzt und rein erfunden, vielen von Euch dennoch vertraut sein dürfte. Stellen wir uns eine politische Organisation vor, eine Partei, aber es funktioniert auch mit einer loseren, unverbindlicheren Organisation und nennen wir sie, weil wir hier nun mal in Köpenick sind, die Partei zur Verbesserung Köpenicks, PVK. Diese PVK hat mehrere Strömungen, darunter die Volksfront zur Verbesserung Köpenicks und die Köpenicker Volksfront. Diese beiden Fraktionen haben nicht nur verschiedene Auffassungen, beispielsweise, über das Verhältnis von Reform und Revolution in Köpenick, möglicherweise ist die Köpenicker Volksfront, ausgehend von einer soziologischen Analyse von Köpenick aus dem Jahre 1870, der Meinung, dass die Befreiung der Bauern nur das Werk der Bauern selbst sein kann, obwohl es in Köpenick heute fast gar keine Bauern mehr gibt. Des weiteren hat die Volksfront zur Verbesserung Köpenicks nicht nur andere sachlich-politische Überzeugungen als die Köpenicker Volksfront, sondern beide haben eine sprachliche Tradition, einen Jargon, die sie unterscheiden. So dass ein Anhänger der Köpenicker Volksfront, wenn sich einer zu Wort meldet, schon an Hand weniger Worte weiß: Aha, das ist einer von uns. Oder: Das ist einer von denen. Die Sprache funktioniert als Marker in einer politischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Fraktionen.

Nun vergessen wir nicht. Die beiden Gruppen sind gesellschaftlich völlig irrelevant. Die PVK, die Partei zur Verbesserung Köpenicks, ist selbst klein und hat wenig politischen Einfluss, aber aus der Perspektive der beiden Untergruppen ist die PVK natürlich immens bedeutend, weil sie viel bedeutender ist, als jede dieser beiden Untergruppen. Die hauptsächliche politische Aktivität der beiden Gruppen besteht also nicht darin, sich an die breite Mehrheit der Bevölkerung zu wenden oder sich für die Verbesserung deren Lebensbedingungen einzusetzen, die Hauptenergie dieser beiden Gruppen wird in den Kampf um Einfluss innerhalb ihrer gemeinsamen Organisation investiert. Es wird jeder dieser beiden Gruppen möglicherweise darum gehen, dass sich die Rhetorik der Führung der PVK am Jargon der einen, oder der anderen Gruppe orientiert, weil das als Beweis für ihren jeweiligen Einfluss ihrer beiden kleinen Gesinnungsgemeinschaften innerhalb der größeren Gruppe herhalten muss.

Umgekehrt, stellen wir uns vor, die PVK hat eine Vorsitzende, die keiner der beiden Gruppen angehört, aber beide Gruppen, so irrelevant sie gesamtgesellschaftlich sind, haben innerhalb der PVK doch Gewicht, nicht zuletzt deshalb, weil ihre Mitglieder ja hauptsächlich Energie und Kraft in den innerparteilichen Kampf um Einfluss investieren. Die Vorsitzende wird deshalb möglicherweise versuchen, die beiden Gruppen auszubalancieren, sodass sie mal Versatzstücke des Jargons der einen Gruppe, dann welche des Jargons der anderen Gruppe benützt in der politischen Kommunikation. Aber was heißt das denn genau? Das heißt, wenn die Parteivorsitzende spricht, wenn sie sich anscheinend an die gesamte Bevölkerung Köpenicks wendet, spricht sie in Wirklichkeit in ihre Organisation hinein, die Adressaten ihrer Rede sind nicht primär die Bürger von Köpenick, sondern die aufmerksamen Zuhörer der Köpenicker Volksfront und der Volksfront zur Verbesserung Köpenicks, die eifersüchtig darüber wachen, dass keine andere Gruppe an Einfluss gewinnt zu ihren Lasten. Bei den Bürgern selbst wird der Politkauderwelsch natürlich bei einem Ohr rein und beim anderen Ohr wieder raus gehen.

Ich will mit meinem kleinen Beispiel schon wieder enden und Sie werden jetzt vielleicht lachen über mein kleines Exempel von der Funktionsweise des Sektierertums. Aber ich möchte zu bedenken geben, dass diese Mechanismen nicht nur für K-Gruppen-Karrikaturen des obigen Beispiels gelten, sondern das sie auf ähnliche Weise auch wirken, wenn keine Volks-, Einheits-, und sonstige Fronten beteiligt sind. Die selben Mechanismen wirken, wenn sich die Linkspartei ein Programm geben will, die selben Mechanismen wirken möglicherweise, wenn sich der Vorstand von Attac trifft, und die selben Mechanismen wirken sogar, wenn sich die Parlamentsfraktion der SPD trifft. Die Namen sind andere, der Jargon ist ein anderer, der personale Habitus der Akteure ist ein anderer, aber bestimmte grundlegende Mechanismen sind identisch.

Etwa: Politische Organisationen entwickeln ein Eigenleben, was nur natürlich ist, aber schnell dazu führt, dass die Aktivisten und Aktivistinnen viel Energie in das Binnenleben der Organisation richten. Die Sprache ist Mittel, aber auch Einsatz im innerparteilichen Kampf. Der Politjargon, der dann entsteht, erschwert es, mit den normalen Bürgern kommunikativ fruchtbar in Verbindung zu treten. Ja, mehr noch: Wer zehn, zwanzig Jahre im Vorstand einer solchen Organisation verbringt und in vielen hunderten Stunden Gremiensitzung sich die Sprache antrainiert, die im Binnenleben der Partei so wichtig ist, der wird womöglich richtiggehend verlernen, mit normalen Bürgern auf normale Weise zu kommunizieren. Wenn ich oben von aseptischer Politsprache, von toter Rhetorik oder von Funktionärs-Sprech geredet habe, dann hat das seine Quelle nicht zuletzt in diesen Mechanismen.

Jetzt könnte ich natürlich meine Überlegungen an diesem Punkt erheblich abkürzen und sagen: Das Problem der Sprache der Linken ist, dass die verschiedenen Organisationen, Gruppen, Parteien, intellektuelle Milieus der Linken auf jeweils ihre eigene Weise eine Sprache pflegen, die sie voneinander abgrenzt und auf ihr Innenleben orientiert. Und die Lösung wäre dann gewissermaßen der Appell: redet’s auf gerade Weise, so dass Euch die normalen Leute verstehen.

Ich halte das zwar für einen wichtigen Punkt. Nicht nur, weil natürlich kein Weg darum herum führt. Weil man die breite Mehrheit der Bürger nicht für progressive Politik gewinnen wird, wenn man sich gar nicht erst die Mühe macht, sie für progressive Politik zu gewinnen, was, bei einem kommunikativen Tier wie dem Menschen, nun mal nur über Sprache funktioniert. Sondern auch, weil die normale Sprache, nennen wir das jetzt mal provisorisch so, ja auch die schonunglosere Sprache ist, die ehrlichere, die ungeschützere, die authentische Sprache. Ich weiß schon, dass das jetzt angreifbare Begriffe sind, weil, was ist schon authentisch bei etwas, was von Anfang an künstlich ist wie die Sprache? Aber, worauf ich hinaus will: die Politrucksprache, die Funktionärssprache ist ja nicht nur ungeeignet, mit normalen Bürgern zu kommunizieren, sie ist ja oft auch eine Sprache, die etwas verbergen will, vergessen wir das nicht. Hinter der versteckt man sich oft ja auch. Sie zieht ja nicht selten eine sprachliche Nebelwand auf, der politische Funktionär oder die Funktionärin spricht ja oft auch deshalb in Worthülsen, weil man damit vermeidet, zu verdeutlichen, dass man gar nichts zu sagen hat oder weil man sich damit über Probleme hinwegschummeln kann oder weil man Angst hat, sich angreifbar zu machen. Sie wird ja auch als Schutz verwendet, wortreich nichts zu sagen. Sie ist ein Instrument, Klartext zu vermeiden.

Und, umgekehrt, Klartext reden ist schon für sich ein Wert, den ich hier mal hochhalten will.

Aber natürlich ist es mit einem Appell „redet’s gerade“, „redet’s Klartext“ nicht getan. Weil, erstens, natürlich sind manche Dinge, zumal in einer komplexen Welt, nicht einfach auszudrücken und ich will hier sicher nicht dafür plädieren, die Dinge ungehörig zu versimpeln, wenngleich die Aufgabe von politischer Kommunikation schon auch ist, Komplexität zu reduzieren oder die Kompliziertheiten soweit zu übersetzen, dass man auch ohne Doktortitel, ob erschummelt oder nicht, mitreden kann. Irgendein Poster hat mal irgendwo über mich geschrieben, um mich zu dissen, der Misik, der hat ja keine eigenen originellen Ideen, der ist ja nur ein Popularisierer fremder Gedanken. Ich sag Euch, mit dem Vorwurf kann ich leben. Wenn man meinungsbildend wirken will, wenn man gesellschaftliche Mehrheiten verändern will, dann ist die Übersetzung komplexer Sachverhalte und Programmatiken keine Nebensache. Aber das nur am Rande. Zweitens ist natürlich offensichtlich, Klartext kann man so und so sprechen. Die rechten Populisten führen für sich ja auch immer ins Treffen, dass sie Klartext reden, dass sie „es“ endlich mal offen aussprechen. Wobei der Erfolg rechter Populisten natürlich, man muss das nicht extra dazusagen, zu unserem Thema dazugehört. Dass die für sich ins Treffen führen können, sie würden endlich Klartext reden, sagt ja womöglich auch etwas über Unvermögen und Scheitern progressiver Kräfte aus. Aber das nur als Fußnote. Aber wie gesagt: Klartext, ja. Aber Klartext kann man so und so reden und ist deshalb noch nicht progressiv.

Vielleicht sollte ich Euch hier mitteilen, dass ich hier nicht mit einem fertigen Rezept hergekommen bin. Also, ich werde hier auch im zweiten Teil nicht sagen: So ist es falsch. Und so ist es richtig. Sondern ich will hier vorne eher laut nachdenken, Euch in Gedankengänge verwickeln und ein paar Schlussfolgerungen nahelegen.

Jetzt weiß ich natürlich, dass es „die Linken“ nicht gibt. Die einen sind für eine Revolution, die anderen für Reformen, die das Ziel eines Sozialismus vor Augen, wie konkret oder wie utopisch auch immer, die anderen sind eher für wohlfahrtsstaatliche Reformen, die innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft mehr Gleichheit, radikal gleiche Chancen und ein lebenswürdiges Leben für Alle realisieren wollen. All das weiß ich schon. Man kann natürlich sagen, die allermeisten Linken sind sich zu 90 Prozent einig und zu 10 Prozent haben sie Differenzen – und diese 10 Prozent nehmen sie extrem wichtig, auf die legen sie allen Ton. Aber mit den allermeisten Linken können wir uns wahrscheinlich darauf verständigen, dass es schon unsere Aufgabe ist, die Bürger für unsere Ziele zu gewinnen, vielleicht sogar zu begeistern, sie dazu zu animieren, sich mit uns gemeinsam für diese Ziele zu engagieren und dass es erstrebenswert ist, eine Mehrheit der Bürger für progressive Haltungen zu gewinnen. Einen ethischen Block zu formen, wie ich das in Anlehnung an Antonio Gramsci formuliert habe oder, wie es in einer Wendung heißt, die so berühmt ist, dass sie schon fast wieder abgelutscht ist, die „Hegemonie“ zu erkämpfen. Und das gelingt, wenn es denn gelingt, nicht nur über Kommunikation, aber ganz wesentlich über Kommunikation. Gewiss geht es hier immer um ein Wechselspiel von Kommunikation, Engagement, Organisation, von Kontroversen und Erfahrungen, aber heute ist mein Thema Kommunikation also rede ich über Kommunikation.

Viele Linke würden in ihrer politischen Kommunikation die „Interessen“ der Menschen betonen. Die Gewerkschaften vertreten die Interessen ihrer jeweiligen Mitgliedschaft, die Linkspartei, so formulierte das Oskar Lafontaine einmal, vertritt die Interessen der Arbeitnehmer und Rentner. Und ein imaginierter K-Gruppen-Agitator will dem Proletariat die Augen öffnen für dessen eigentliche, historische Interessen. Das materielle Interesse ist ein wichtiger Begriff in der linken Sprache: Sei es in einem großen, eminenten Sinn, insofern, als man gesellschaftliche Prozesse primär vom Klassenkampf getrieben sieht, der nichts anderes ist als ein Konflikt widerstreitender ökonomischer Interessen, sei es in einem simpleren Sinne, im Sinne von Klientelpolitik: Wir vertreten die Interessen dieser gesellschaftlichen Gruppe gegen die Interessen jener gesellschaftlichen Gruppe und wollen sie durchsetzen oder mit den verschiedenen anderen Interessen vernünftig austarieren.

Je ausdifferenzierter eine Gesellschaft aber wird und je kleiner die Gruppen, die repräsentiert werden umso fragwürdiger wird der Begriff des Interesses freilich. Viele Leute setzen sich für ihre Interessen ein: Die Gymnasiallehrer für die Partikularinteressen der Gymnasiallehrer, die Piloten für die Partikularinteressen der Piloten, Hoteliers für die der Hoteliers, die Banker für die Partikularinteressen der Banker (die besonders erfolgreich). Aus dem hehren Begriff des Interesses wird dann ganz schnell das kleinliche Partikularinteresse eines bestimmten Klientels. Womit nicht gesagt ist, dass die Interessen nicht begründet sind, dass sich nicht begründet für die Interessen argumentieren ließe. Aber die Klientelpolitik hat derart überhand genommen, dass viele Bürger sie einfach satt haben. Ironisch formuliert: Wenn ich es darauf anlege, mein Anliegen zu delegitimieren, muss ich nur sagen, es sei im Interesse dieser oder jener gesellschaftlichen Gruppe.

Nun gut, wenn wir nun aber für mehr Gleichheit oder soziale Gerechtigkeit eintreten wollen, dann können wir natürlich argumentieren, sie sei im materiellen Interesse der Unterprivilegierten, weil die dann materiell gewinnen würden, und sie widerspricht den materiellen Interessen jener, die dann verlieren würden, weil sie etwas abgeben würden – was natürlich sehr holzschnittartig formuliert ist, weil es unterstellt, dass eine Gesellschaft ein Nullsummenspiel ist und außerdem unterstellt, dass materielle Wohlfahrt identisch ist mit Lebensqualität. Aber lassen wir diese Details einmal beiseite.

Weil, natürlich ist das eines der Motive, warum Menschen für soziale Gerechtigkeit eintreten – weil sie annehmen, dass sie selbst dann etwas gewinnen würden. Aber auch dieser Fall ist überdeterminiert. Menschen treten dann vielleicht ja nicht aus „egoistischen“ Gründen gegen soziale Ungerechtigkeiten ein, sondern, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, weil sie meinen, dass sie nicht bekommen, was ihnen zusteht, dass dies eine Form ist, sie respektlos zu behandeln, dass sie sich somit auch in ihrer Würde gekränkt fühlen.

Aber es ist sicher nicht das alleinige Motiv. Mindestens ebenso wichtig sind zwei weitere Motive und sie sind sogar entscheidend, wenn wir uns an breite Kreise richten wollen. Das eine Motiv wäre, dass man verdeutlicht, dass soziale Gerechtigkeit eine nützliche Funktion für eine Gesellschaft hat. Dass eine Gesellschaft, in der alle Bürger aus ihrem Leben etwas machen können, in der alle Bürger einen fairen Anteil haben und die nicht in grobe Ungleichheiten zerrissen ist, einfach als Gesellschaft besser funktioniert. Dass die Institutionen besser funktionieren, dass die Wirtschaft besser funktioniert.

Es ist so gesehen schon beinahe paradox, wenn Linke aus der Perspektive von „Interessen“ formulieren – weil sie doch die gesellschaftliche Kraft sind,

Und das zweite Motiv ist natürlich: dass wir womöglich für soziale Gerechtigkeit, für eine egalitäre Gesellschaft eintreten, weil es unserem ethischen Kompass entspricht. Weil wir es als einen moralischen Wert ansehen, der unser Handeln leitet.

Manche von Euch werden da jetzt zucken. Weil, Linke tun sich traditionell schwer, das Wort „Werte“ zu benützen. Weil das predigerhaft klingt, pfäffisch. Weil die anderen, die Konservativen, andauernd von Werten reden, diejenigen, die anderen Leuten vorschreiben wollen, wie sie zu leben haben. Aber auch, weil Begriffe wie „Werte“ oder „Ideale“ auf seltsame Weise wie Fremdwörter wirken im linken Wortschatz, der ja nicht unwesentlich von einem Marxismus inspiriert ist, der sich gegen den „Idealismus“ einen moralischen, schwärmerischen, utopischen Sozialismus wandte und seine strenge Wissenschaftlichkeit behauptete.

Natürlich sollten wir uns vor Moralisieren hüten, denn süßlicher Moralismus hat etwas Uncooles. Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass breitere gesellschaftliche Allianzen immer von einer geteilten Moralität zusammengehalten werden, mag diese auch noch so subkutan sein. Mag jede einzelne Forderung, die aufgestellt wird, noch so plausibel begründet sein, mag sie noch so sehr den „Interessen“ jener entsprechen, die sie aufstellen, so lebt sie doch ganz wesentlich von dem Wertesetting, in das sie sich – scheinbar „wie von selbst“ – einfügt. Erfolgreiche Politik, sei es die „große Politik“ der Mächtigen, sei es die „kleine Politik“ widerständiger Netzwerke, ist immer, um das mit einem Wort des amerikanischen Linguisten George Lakoff zu sagen, „Moral Politics“. Sie wird zusammengehalten von einem Wertekitt.

Vom Sprachwissenschaftler Lakoff ist viel zu lernen für unser Thema. Er hat sich in einer Reihe von Studien seit Ende der neunziger Jahre der Frage gestellt, warum die progressiven Kräfte in den Vereinigten Staaten so an Terrain verloren haben und warum die Konservativen mit Moralkampagnen so gut gefahren sind. „Menschen“, schreibt er, „wählen nicht notwendigerweise nach ihrem Eigeninteresse. Sie wählen nach ihrer Identität. Sie stimmen für ihre Werte. Sie stimmen für den, mit dem sie sich identifizieren.“

Aber die Menschen haben natürlich nicht einfach fixe Werte, denen sie anhängen, so wie die Meinungen, die sie vertreten, nicht unveränderlich sind, und sie wählen ja auch nicht bei Wahlen ewig die selben Parteien. Wir wissen natürlich, dass man Menschen überzeugen kann, wir wissen, dass man sie dafür gewinnen kann, Meinungen aufzugeben, dass sie ihre Meinungen ändern können. Das geht beim Individuum, aber das geht auch bei großen Bevölkerungsgruppen, auf die politische Kommunikation abzielt. Kurzum und simpel: Man kann das Meinungsbild in Gemeinwesen verändern, man kann die Hegemonie verlieren aber auch gewinnen.

Ich will das hier gar nicht im Detail ausführen, weil das schon sehr in die Richtung geht – politische Kommunikation für Politiker und Politikerinnen. Aber nur soviel: Eine der wichtigen Fragen ist, welcher Deutungsrahmen sich in einer Gesellschaft durchsetzt und durchgesetzt hat. Die Sprachtheorie Lakoffs ist an Schnittpunkt von Linguistik und Gehirnforschung angesiedelt und der Forscher ist ein expliziter Linker, ja, wir können sagen, seine wissenschaftliche Arbeit hat nicht nur das implizite, sondern das ausgesprochene Ziel, Progressiven bei der Entwicklung ihrer Argumentationsreihen zu unterstützen. Ich werde versuchen, seine Überlegungen so simpel wie möglich zusammenzufassen.

Unsere Meinungen werden von „Frames“, von Deutungsrahmen, sagen wir, von einem Korridor von Assoziationen geleitet, von Metaphern, die wir im Kopf haben oder die sich in unserem Kopf festsetzen, geprägt. Lakoff hat das, unter anderem, in seinem berühmten Buch „Don’t think of an Elephant“ ausgeführt. Und das ist jetzt schon eine schöne Illustration für das, was in diesem Zusammenhang wichtig ist. Wenn ich Euch jetzt auffordere: Denkt nicht an einen Elefanten? Na, woran denkt Ihr da jetzt? An Pudding? Euren Lover? Ne, ich wette, die meisten von Euch haben jetzt ein großes graues Tier mit riesigen Ohren und einem Rüssel vor Augen. Also: Wenn man sagt: Denkt nicht an einen Elefanten. Dann denkt ihr sofort an einen Elefanten.

Sind „Deep Frames“ im politischen Diskurs etabliert, etwa vom politischen Gegner, den Konservativen, den Neoliberalen, den Rechtspopulisten, dann ist es oft ein zwar ehrwürdiges, aber oft fruchtloses Unterfangen, dagegen sachlich anzuargumentieren. Dann kann ich sagen: Das und das ist nicht so, es ist faktisch falsch, so und so ist es korrekt. Aber ich werde dann unwillentlich stets den Frame des politischen Gegners aufrufen. Oder, einfacher formuliert: Ich werde mich auf dem Terrain bewegen, auf dem er die Hegemonie hat.

Es ist, wenn man das einmal verstanden hat, schnell klar, was das bedeutet: Dass es vielleicht weniger bringt, innerhalb der Frames der Gegner zu argumentieren, sondern erfolgsträchtiger ist, zu versuchen, die Frames als solche zu zerstören und durch eigene Frames zu ersetzen. Oder die politische Debatte auf ein Feld umzulenken, auf dem die Progressiven selbst in der Lage sind, die Frames zu setzen.

Aber natürlich ist es auch so, dass es auf ein und dem selben Terrain konkurrierende Frames gibt. Frames, die gewissermaßen von metaphorischen Gewissheiten geleitet werden, oder, um das mehr mit Gramsci auszudrücken, den spontanen Gewissheiten des Alltagsverstandes, die sich etwa in Sprichwörtern ausdrücken und die wie Leitplanken des Denkens funktionieren, aber die mit anderen im Streit liegen. „Dem Tüchtigen gehört die Welt“ – unterstellt, dass die Privilegien schon einigermaßen gerecht verteilt sind. „Auch auf dem höchsten Thron sitzt man auf dem eigenen Hintern.“, drückt eher das Gegenteil aus. Es wäre also etwa zu überlegen, wie man diejenigen Frames, jene Ablagerungen des Alltagsverstandes, die die Linke begünstigen, stärkt und in der Mitte der Gesellschaft aktiviert.

Und dafür ist eben nicht nur die Frage: Was will ich ausdrücken? Sondern wie will ich es ausdrücken?

Ich will damit mit meinen kleinen Überlegungen zu Lakoff schon aufhören. Natürlich, nicht alles, was er sagt ist plausibel, jedenfalls muss man die Dinge auch nicht überspizten. Natürlich kann man auch mit Fakten argumentative Erfolge erzielen. Es hätte auch etwas Fragwürdiges, wenn wir uns, wie das im Titel eines anderen Lakoff-Buches heißt, jetzt gewissermaßen mit linguistischem Handwerkzeug ausgerüstet, auf leisen Sohlen ins Gehirn der Menschen aufmachen. Aber für die Frage, ob die Linke eine neue Sprache braucht, ist Lakoff eine unverzichtbare Quelle.

Oder anders gesagt: Solche Überlegungen sind unverzichtbar für eine Linke, die Selbstvertrauen genug hat, zu sagen: Ja, wir wollen die Mehrheit der Bürger für uns gewinnen, wir glauben, das das geht, wir glauben, dass wir im demokratischen Meinungsstreit die Hegemonie erobern können. Die sagt: Wir finden Widerstand zwar manchmal notwendig und auch Opposition ist ehrenwert, aber wir wollen es uns in der Rolle des kleinen Außenseiters, der Minderheit jetzt nicht gemütlich machen. Ja, klar, wollen wir eine Welt schaffen, nach unseren Vorstellungen, eine bessere, eine gerechtere, eine demokratischere Welt, und dafür wollen wir verdammt noch mal die Mehrheit der Menschen für unsere Sache gewinnen.

Eines jedoch halte ich für ganz wesentlich: Es reicht dafür bestimmt nicht, klientelistisch oder auch pragmatisch für diese oder jene wichtige Reform zu plädieren, da für eine Steuer auf Vermögen, dort für eine auf Finanztransaktionen. Und es reicht auch nicht, dieses oder jenes Unrecht anzuprangern.

Man muss Ziele formulieren. Gewissermaßen: Auf zu neuen Zielen! Das Ziel einer besseren Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben, niemand eklatanten Mangel leidet, niemand zurückbleibt, weil er oder sie in Unterprivilegiertheit hineingeboren ist. Ein konkretes Ziel einer besseren Gesellschaft, das nicht morgen, aber in fünfzehn, zwanzig Jahren realisiert erreicht werden kann. Und das ist nicht nur ein egalitäres Projekt, sondern auch, ja vielleicht primär sogar ein Freiheitsprojekt, eine Gesellschaft, wie Olof Palme sagte, „die allen Menschen Chancen gibt, ihre Lebensprojekte zu verwirklichen“.

Die einzelnen Reformen und Transformationsprojekte auf diesem Weg gewinnen erst ihre Plausibilität, wenn sie sich in so ein Ziel einfügen, erst dann kann man Menschen dafür begeistern. Erst dann, ja, kann man ihnen auch so etwas wie Hoffnung geben. Denn das ist ein progressives Projekt, weil es eine Perspektive nach vorne weist: Weil es den Begriff des Fortschritts, der jahrhundertelang mit der Linken verbunden war und der ihr zuletzt abhanden gekommen ist, wieder zurückerobern kann.

Deshalb will ich zum Abschluss eines noch sagen: Ohne Optimismus, ohne die Zuversicht, dass das geht, eine Zuversicht, die in der Lage ist, andere anzustecken, wird das nicht gehen. Gesellschaften werden nie von Miesepetern verbessert, sie werden von Optimisten verbessert. Wenn sich Martin Luther King ans Lincoln-Memorial gestellt hätte und da gesagt hätte: Alles ist ein Alptraum, aus der Bürgerrechtsbewegung wäre wohl nicht recht etwas geworden. Er hat aber nicht gesagt: Ich habe einen Alptraum. Er hat aber gesagt: Ich habe einen Traum.

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