Ökonomische Dissharmonielehre

Der Berliner Kulturtheoretiker Joseph Vogl zeigt, dass die Prämissen der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft für die Analyse realer Marktgeschehnisse nichts taugen. Falter, 9. März 2011

Das Bild, das die Wirtschaftswissenschaften von der Ökonomie zeichnen, ist eines der vollendeten Harmonie. Diese Wissenschaft ist seit jeher auch und vor allem eine große literarische Kunstform, die suggestiv zu beschreiben vermag, wie aus den erratischen Handlungen vieler eine große Ordnung entsteht, wie aus irr- oder nicht-rationalen Impulsen Vernunft wird. Von Adam Smith‘ „unsichtbarer Hand“ bis zu den „Effizienzmarkttheorien“ jüngerer Zeit lässt sich das unschwer zeigen. Da wird nachzuweisen versucht, wie Märkte zum „natürlichen Gleichgewicht“ tendieren, wie das Spiel von Angebot und Nachfrage zur vernünftigen „Selbstkorrektur“ führt, wie aus einem Gewirr an Zahlungen auf einer Metaebene „ideale Märkte“ entstehen. Die Wirtschaftwissenschaft ist eine versöhnliche Ideologie, die uns glauben macht, das Unvernünftige würde mit Hilfe der großen Verwandlungsmaschine der Märkte in Vernunft, das Amoralische in Moral, die Selbstsucht zum allgemeinen Vorteil verwandelt und die irrationalen Exuberanzen in Stabilität. Das beginnt schon bei der Morallehre, die der freien Marktwirtschaft zugrunde liegt, bei der Vorstellung nämlich, dass der Eigennutz und die Gier der Einzelnen zum allgemeinen Nutzen umschlagen würde. Es ist ja, wie uns Adam Smith so eindringlich klarzumachen versuchte, nicht die Menschenfreundlichkeit des Bäckers, die unsere Versorgung mit Brot garantiert, sondern dessen Gewinnstreben.

 

Angesichts eines solchen wirtschaftwissenschaftlichen Narrativs müssen die Ausschläge und Zusammenbrüche, die Krisen und Finanzgaus völlig unerklärlich bleiben und sie werden regelmäßig auch als solche beschrieben: als völlig überraschende Geschehnisse. Aber, so fragt der Berliner Kulturwissenschafts-Professor Joseph Vogl in seinem klugen Großessay „Das Gespenst des Kapitals“: „Sind die irrationalen Exuberanzen wirklich Ausnahmefälle oder nicht eher reguläre Prozesse im Getriebe kapitalistischer Ökonomien? Reicht die Unterscheidung von rational und irrational überhaupt hin, die Effekte dieses Systems zu fassen?“

Joseph Vogl hat ein kluges und gelehrtes Traktat vorgelegt. Als Sozialtheoretiker und Kulturwissenschaftler, dessen Brot ökonomische Studien nicht notwendigerweise sind, hat er sich in den vergangen Jahren durch die Fachliteratur gelesen, aber auch reale Marktgeschehnisse studiert. So ist er in der Lage, genau hinzusehen.

Auf Gütermärkten, so Vogl, mag die Harmonielehre ihre Berechtigung haben. Wächst die Nachfrage nach Zahnstochern, das Angebot aber nicht, so steigen die Preise, was wiederum in aller Regel die Nachfrage reduziert. Soweit so simpel. Auch bei komplizierteren Operationen sind Gleichgewichtsreaktionen durchaus nicht bloß eingebildet.

Aber für die modernen Finanzmärkte gilt das nicht. Wertwachstum gebiert neuen Kredit und damit weiteren Wertwachstum, der Boom bläht die Geldmenge auf, was wiederum den Boom aufbläht. Das ist schon auf simpel strukturierten Finanzmärkten der Fall, und erst recht auf immer unregulierteren, immer ausdifferenzierteren, auf denen ein neues Finanzierungsinstrument nach dem anderen erfunden wird. Dieses System tendiert zu keinem harmonischen Gleichgewicht. „Mit Fragen der Finanzökonomie verlieren die notorischen Gleichgewichtsmodelle der politischen Ökonomie ihr verlässliches, gleichsam naturwüchsiges Statut.“ Und das, obwohl der affirmativen Fachliteratur gerade die Finanzmärkte als besonders effiziente, ideale Märkte erscheinen, weil hier potentiell gleichberechtigte Akteure, mit hohem Grad an Information, nicht gebremst durch Sentimentalitäten oder durch die Behäbigkeit der stofflichen Welt agieren.

Doch die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, so Vogl, gelten nur für einen Bereich, „in dem man mit fixen Budgets operiert“, aber dort, wo optimistische Zukunftserwartungen sofort zum Wachstum der Geldmenge führen – und umgekehrt: verdüsterte Erwartungen zu einem Schrumpfen der Geldmenge -, gilt das natürlich nicht. „Gerade darum aber sind Trendverstärkungen und positive Rückkopplungen keine katastrophischen Ausnahmen, sondern endogene Funktionselemente des Systems“. Die Finanzmärkte, kurzum, tendieren zu keinem Gleichgewicht, sondern sind von sich aus ruinös.

Gewiss, Vogl ist nicht der erste, der das erkennt: Bei John Maynard Keynes oder Hyman Minsky, oder in jüngerer Zeit bei Robert Shiller und Robert Skidelsky kann man das alles auch lesen, ohne den manchmal etwas schwerfälligen kulturtheoretischen Jargon. Was Vogl aber in seiner großen Skizze der wirtschaftstheoretischen Literatur zeigt, ist, dass der gängigen Wirtschaftstheorie seit jeher ein harmonisierendes Narrativ zugrunde liegt, dass sie, auch wenn sie mit noch so vielen nüchternen Formeln und mathematischen Gleichungen daher kommt, ökonomische Ideologie ist, deren Prämissen aber mit dem „Markt der Märkte“, den Finanzmärkten, nichts zu tun haben. Vogl schreibt nicht gegen Märkte, aber für eine Säkularisierung der Marktideologie und dekonstruiert, wie er es nennt, die „Metaphysik des Westens“. Er rennt damit offene Türen ein, aber manchmal ist das notwendig.

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes-Verlag, Zürich, 2010/2011. 224 Seiten, 15,40.- Euro

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