Der Maiaufmarsch

Das Pathos des 1. Mai – ziemlich verweht. Trotzdem nicht ganz verflogen. Falter, 27. April 2011

Kampftag der Arbeiterklasse! So hat man früher den 1. Mai genannt. Aber das Proletariat ist heute auch nicht mehr das, was es einmal war, und Kampfpathos, also bitte, das ist auch reichlich angestaubt. Aber gerade deshalb ist der 1. Mai in Wien immer noch etwas Besonderes. Hier gibt es ihn immer noch: Den großen Maiaufmarsch der Sozialdemokraten. Und immer noch kommen jedes Jahr ein paar Zehntausende zusammen. Und wenn die Sozis fertig sind dann wackeln noch die Kommunisten, Grünen, die unabhängigen Gewerkschafter und die Türkischen Stalinfans hinterher. Wo gibt’s denn so was noch? Eben! Nirgendwo, nicht einmal in Moskau. Und so kommen neuerdings sogar Touristen extra in die Stadt, um sich das nicht entgehen zu lassen. 
Vor 112 Jahren, 1889, fand die Maidemonstration erstmals statt. Der internationale Sozialistenkongress hatte kurz davor beschlossen, den Tag zum Kampftag zu machen, vor allem zur Durchsetzung des Acht-Stunden-Tags. Und schon damals war die Manifestation in Wien besonders eindrucksvoll. Ohne Zweifel sei, schrieb Karl Marx‘ alter Kumpel, der greise Friedrich Engels damals, „dass auf dem ganzen Festland Österreich, und in Österreich Wien, den Festtag des Proletariats am glänzendsten und würdigsten“ begangen hat.
Natürlich kann man das alles heutzutage ein bisschen retro finden. Immerhin erst um 8:25 Uhr (vor ein paar Jahren ging es noch um 7:55 Uhr los), treffen sich, beispielsweise vor dem Arbeiterheim in Favoriten, die kleinen und die großen Genossen mit ihren Fahren, ihren roten Nelken und Transparenten. In längeren oder kürzeren Kolonnen ziehen die nach vorne hin diszipliniert, nach hinten hin lose angeordneten Reihen aus allen Teilen Wiens Richtung Innerer Stadt, der Ringstraße entgegen, um später entlang dieser dem Rathausplatz zuzuschlendern. Die Innenstadt ist großräumig abgesperrt. Bis vor wenigen Jahren fuhren bis zum Nachmittag keine Busse, keine Straßen-, keine U-Bahnen. Das sollte dem Personal der Verkehrsbetriebe die Gelegenheit geben, selbst am Marsch teilzunehmen. Das hatte aber eine hochsymbolische Auswirkung: der Rhythmus der Stadt war verändert, verlangsamt. Mit den Autos kam man nicht durch die Stadt, und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auch nicht. Wer Distanzen überwinden wollte, musste längere Fußmärsche einplanen oder auf das Fahrrad oder den Tretroller umsteigen. 
So war der 1. Mai auch immer ein Tag, an dem sich ein anderer Rhythmus über die Stadt legte, an dem die Routine des Üblichen unterbrochen war. Und ein bisschen ist das bis heute der Fall. 
Der 1. Mai ist, wie der große Historiker Eric Hobsbawm schrieb, „die vielleicht einzige unzweifelhafte Spur, die eine säkulare Bewegung im christlichen oder einem anderen offiziellen Kalender hinterlassen hat“. Dass dies gelang, hängt sicher mit dem Datum zusammen. Frühlingsfeiertage sind Teil des rituellen Kreislaufes des Jahres. Hobsbawm: „Zudem ist es ein Feiertag, der nicht von Regierungen oder Eroberern oktroyiert wurde, sondern die Errungenschaft einer völlig inoffiziellen Bewegung armer Männer und Frauen ist.“
Und das gibt diesem Tag doch eine Würde, die ihm kein Faymann nehmen kann und auch nicht der Zug ins manchmal dumpf-volksfesthafte, den ihm die Wiener SPÖ mit ihrem sicheren Gespür für schlechten Stil gerne verleiht. 
Die großen Emotionen, die mit dem Datum „1. Mai“ einst verbunden waren, sie sind natürlich verweht. Das ist der Lauf der Zeit. 
Aber dennoch ist er Gelegenheit einer Manifestation. Wer der Meinung ist, dass jeder seines Glückes Schmied sein soll und die Unglücklicheren selber sehen mögen, wo sie bleiben, wer der Meinung ist, dass Solidarität ein Blödsinn ist, weil die Menschen naturnotwendig gegeneinander konkurrieren, wer auf „Ausländer“ „abschieben“ reimt, der geht eher nicht zum Maiaufmarsch. Von den vielen anderen, die das nicht meinen, nützen viele den Feiertag zu einer Fahrt ins Grüne – und ein paar zehntausend gehen am 1. Mai auf die Ringstraße. 

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