In der Sackgasse des Linkssozialismus


Thumbnail image for otto bauer.jpgErnst Hanisch hat die erste große Biographie Otto Bauers geschrieben. Der Theoretiker des Austromarxismus ist bis heute der Säulenheilige der Sozialdemokratie. Aber wieso eigentlich? Er war bar jeder Tatkraft und hing realitätsfremden Doktrinen an
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Gäbe es in sozialdemokratischen Milieus die Usance, sich einen Herrgottswinkel einzurichten, sein Konterfei hätte dort bis heute einen fixen Platz: die Rede ist von Otto Bauer, dem intellektuellen Parteiführer der österreichischen Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit. Er war zwar nie Parteichef, aber er war auch mehr als bloßer Parteitheoretiker. Ob seines intellektuellen Prestiges lenkte er de facto die Partei. Dabei wissen die meisten, für die der Name Otto Bauer so etwas wie ein Marker ist für eine demokratische, intellektuelle linke Politik meist sehr wenig über den Mann. Kaum jemand kennt eines seiner Bücher. Noch weniger haben sich mit seiner Politik beschäftigt.


 

Jetzt hat der Historiker Ernst Hanisch die erste umfassende Biographie Bauers geschrieben, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Und Hanisch, obzwar selbst eher dem liberalen christdemokratischen Milieu entstammend, schreibt Bauers Lebensgeschichte aus der Position des Faszinierten heraus. Er ist, auf irgendeine Art, begeistert vom Objekt seines Studiums. Ist ja auch klar: Jemanden, dem man desinteressiert, oder auch nur neutral gegenüber steht, dem widmet man nicht Jahre seiner Arbeit. Und doch ist es eine eigentümliche Biographie geworden: Der Autor ist fasziniert, der Leser ist am Ende ziemlich desillusioniert.

Er würde Bauer, hätte er ihn im Herrgottswinkel hängen, wohl abnehmen.

Bauer stammte aus einer großbürgerlichen, jüdischen Familie. Er wuchs im Reichtum auf und im Umfeld der Wiener Moderne der Jahrhundertwende. Eine seiner Schwestern war eine berühmte Patientin Sigmund Freuds. Das wenige, was wir über die Familie Bauer wissen, wissen wir aus ihrer Analyse. Bauer studierte Jus, was damals aber ein noch breiter angelegtes Studium war, in Richtung „Staatswissenschaften“. Nationalökonomie und Soziologie gehörten ebenso zu dieser Studienrichtung. Bauer ist ein genialer junger Kopf, er sitzt bei den führenden Vertretern der Wiener Schule der Nationalökonomie im Seminar, bei Eugen Böhm-Bawerk, mit ihm Ludwig von Mises, Otto Neurath und Joseph Schumpeter. Parallel dazu entwickelt er sich zur Zentralfigur des „Austromarxismus“.

Dieser wird prägend für die österreichische Sozialdemokratie jener Jahre, deren positive Bilanz bekannt ist: Sie begründet die Erste Republik, gerät aber dann schnell in Opposition. Ihre Ideen verwirklicht sie im „Roten Wien“ mit dessen praktischer, ambitionierter Reformpolitik – mit guten Schulen für alle, sozialen Wohnungsbau. Die Partei setzt auf Demokratie und Wahlen statt auf Revolution, bleibt ansonsten aber links genug, um relevante Abspaltungen und die Entstehung einer nennenswerten kommunistischen Partei zu verhindern. 1934 stemmt sich die Partei in einen verzweifelten Aufstand gegen den Austrofaschismus, wird aber geschlagen und verboten. Aber anders als die deutsche SPD, die kampflos kapitulierte, bewahrte sie jedenfalls ihre Würde. Soweit die positive Geschichte, die in sozialdemokratischen Milieus bis heute gerne erzählt wird. Und sie ist ja auch wahr. Sie ist mit dem Namen Otto Bauers verbunden, sodass gesinnungsstarke Sozialdemokraten auf Kritik an Otto Bauer ähnlich unwirsch reagieren wie die al-Quaida auf Kritik am Propheten Mohammed.

Die andere Seite der Geschichte ist auch nicht ganz neu und ist bisher vor allem von den linken Kritikern der Austromarxisten vorgetragen worden: dass zwischen Rhetorik und pragmatischer Politik ein tiefer Graben klaffte. Dass Bauer im linken Jargon daher schrieb, und mit marxistischen Phrasen eine nichtmarxistische Politik begründete. Wenn beherzte Linke von einer Revolution träumten, kam Bauer, und trug langatmige Ableitungen vor, die stets in dem Satz mündeten: „Unsere Aufgabe scheint mir vielmehr, abzuwarten.“

Er war der große Zauderer, der Hamlet der österreichischen Sozialdemokratie. Hanisch begründet das, gewiss mit Recht, in seinem Charakter. Charakterfragen, was für ein Typ einer ist, sind in der Politik eine wichtige Sache: Ist einer ein entschiedener, vitalistischer Willensmensch, oder ein, im Kern antriebsloser Zauderer? Ist einer eher ein Optimist oder ein Pessimist? Das kann soviel Einfluss auf die politischen Läufe haben wie Ideologie oder die Umstände der Zeit. Bauer war, so Hanisch, von einem „tiefen Pessimismus erfüllt, dem Grundzug seines Charakters, den er … öffentlich jedoch durch die marxistische Revolutionstheorie und durch einen forcierten Glauben an den Sozialismus überdeckte.“ Er hatte eine depressive Grundstimmung, neigte gerne zum Fatalismus und war voller Scheu, eindeutige Entschlüsse zu treffen. Er hatte, trotz aller Intellektualität, eine Abneigung gegen Streit in den eigenen Reihen und versuchte eher Differenzen zu überbrücken als klar auszutragen.

Das Verstörende an Hanisch‘ Buch ist nun, dass man diese Kritik nicht nur von einer linken, quasi KP-affinen Position aus äußern kann, wie das bisher gängig war, sondern letztendlich auch von einer sozialdemokratischen Position aus formulieren muss. Bauer war praktisch politikunfähig und modellierte seine Theorien so, dass sie seine Entschlussschwäche stets intellektuell begründeten, dass sie seine Sucht zum innerlinken Konsens argumentativ untermauerten. Dies gibt seinen Schriften dieses seltsam Weltfremde und Doktrinäre, eigentümlich Instrumentelle, dass schon sein Freund Otto Leichter, nachdem der einmal Bauer-Aufsätze ein paar Jahre nach ihrem Erscheinen las, konzedieren musste: „… aber bei den Bauer-Artikeln hat man eigentlich mehr als bei vielen das Gefühl, dass sie … doch unglaublich falsch und mehr noch als andere Arbeiten von der Geschichte widerlegt worden sind. Merkwürdig, diese Verbindung aus Genialität und praktischem Ungeschick.“

Der linke Sozialismus des Austromarxismus wollte keine Revolution machen – wie die Kommunisten -, aber er wollte auch nicht das Ziel des Sozialismus relativieren, wie das die „Revisionisten“ der Sozialdemokratie taten. Diese moderaten Sozialdemokraten formulierten, salopp gesagt, der Sozialismus ist uns egal, wir wollen uns um die Verbesserung unserer realen Welt, um konkrete Reformen kümmern und keine Chance dafür auslassen. Die linken Sozialdemokraten wie Bauer dagegen hatten den Sozialismus vor Augen und waren im Grunde gewiss, dass Reformen innerhalb des Kapitalismus letztlich bedeutungslose Petitessen wären und man mit dem „Klassenfeind“ nur ja nicht kooperieren dürfe. Aber damit ließ er Gelegenheiten aus, die andere beherzt ergriffen. Während sich die schwedischen Sozialdemokraten daran machten, aus ihrem Gemeinwesen einen kapitalistischen Wohlfahrtsstaat zu machen, verschwendeten Bauer und seine Mitstreiter auf solch häretische Ideen keine Gedanken. Kurzum: Seine Entschlussunfähigkeit hinderte ihn nicht nur daran, die Revolution zu machen – sie verhinderte auch eine ambitionierte Reformpolitik.

Nun muss man, gewiss, relativieren: In der österreichischen Bundespolitik stand der Sozialdemokratie ein verhärteter, autoritärer, katholischer Konservativismus gegenüber, der aggressiv mit dem Faschismus liebäugelte und deshalb eine Moderierung verhinderte, ganz zu schweigen davon, dass er als Partner für eine Reformkoalition kaum getaugt hätte. Und zweitens wurde in der Praxis die wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik auf kommunaler Ebene, im Roten Wien, ja betrieben, unabhängig von den Theorien, die Bauer und Freunde im Parlament oder in der „Arbeiterzeitung“ vertraten. Und dennoch leistete auch Bauers doktrinärer Linkssozialismus seinen Beitrag dazu, die Partei in die Sackgasse zu manövrieren.

Bauer war, und das begründet bis heute seinen Ruhm, eine sympathische Figur. Er hatte eine „fast arrogant anmutende Bescheidenheit“ (Bruno Kreisky) und seine intellektuelle Bedächtigkeit, gepaart mit theoretischer Ambition, hob ihn schon zu seiner Zeit vom praktischen Durchschnittspolitiker ab. Er war kein autoritärer Knochen, und kompromissfähig war er durchaus auch. Aber er blieb doch zu verstrickt in die marxistischen Kapitalismusanalysen, als dass er praktisch Sinnvolles zu egalitären Reformen der Marktwirtschaft selbst hätte sagen könne. Im Grunde hatte er diese Fragestellung nicht auf seinem Radar. Und das, obwohl in der Zeit, in der er wirkte, John Maynard Keynes seine Theorien entwickelte, die amerikanische Linke mit einem „New Deal“ auf die Weltwirtschaftskrise reagierte und in Schweden der Wohlfahrtsstaat aufgebaut wurde. Bauer war hier nicht im Takt mit den Notwendigkeiten, die sich schon zu seiner Zeit für eine moderne Sozialdemokratie stellten. Hätte er es sein können, wäre seine Partei nicht schon seit 1933 Verfolgungsdruck ausgesetzt gewesen, wäre er nicht in die Illegalität und ins Exil gedrängt worden? Man kann das nicht wissen, aber sein Charakter legt den Schluss nahe, dass es ihm auch dann an der Willenskraft gefehlt hätte, die nötig gewesen wäre, die Partei auf einen neuen Kurs zu setzen – wenn er es überhaupt gewollt hätte. Letztendlich mussten das dann seine Nachfolger nach 1945 tun, am entschlossensten Bruno Kreisky, der als junger Mann Bauer glühend verehrte und den dieser wiederum geradezu geliebt hatte.

Man rennt heute offene Türen ein, wenn man feststellt, dass Lenins revolutionärer Kommunismus in einer fürchterlichen Sackgasse geendet ist. Aber letztendlich blieben auch die Linkssozialisten wie Otto Bauer weit unter ihren Möglichkeiten zur Verbesserung der Welt. Sicherlich, sie haben wenigstens keinen Schaden angerichtet. Aber wer will sich mit einer solchen Bilanz schon zufrieden geben?  Dass ihre Theorien nicht auf der Höhe unserer Zeit sind, kann natürlich niemanden überraschen. Aber die Lektüre von Otto Bauers Biographie drängt den Leser zum bekümmernden Resumée, dass sie auch nicht auf der Höhe ihrer Zeit waren.

Ernst Hanisch: Der große Illusionist. Otto Bauer 1881 – 1938. Böhlau-Verlag, 2011. 478 Seiten, 40,10.- Euro.

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