Weltformel mit vielen Variabeln

Ian Morris zeigt in seiner ausladenden Universalgeschichte, die bei den Affenmenschen beginnt, dass demnächst die Chinesen herrschen. Oder auch nicht. Falter, 13. April 2011

Wenn Historiker einen großen Wurf mit weitausholender Perspektive landen wollen, dann schreiben sie eine „Universalgeschichte“ – etwa, von den ersten Zivilisationen bis zur Neuzeit. Unter diesen Ehrgeizigen ist Ian Morris der Ehrgeizigste: Mehr an Universalgeschichte, als jene, die der britische Archäologe und Historiker jetzt vorgelegt hat, geht überhaupt nicht mehr. Seine Geschichte der Weltgeschichte beginnt bei den affenähnlichen Frühmenschen und endet in der Zukunft – im Jahr 2103.

„Wer regiert die Welt?“ heißt das Buch und natürlich widmet es sich nicht „der Geschichte“ im allgemeinen, sondern einer spezifischen Frage: Warum haben manche Zivilisationen die Nase vorne, warum sind andere rückständig und werden beherrscht? Und das ist eine Frage, die längst nicht nur in Historikerzirkeln diskutiert wird: Ob China demnächst die USA überholt, ob Asien die Zukunft gehört, der Westen aber langsam abwirtschaftet, wird heute schon auf jeder zweiten Politologentagung diskutiert.

Morris blickt auf die Geschichte, um ein Muster zu finden, das ihm eine Antwort auf diese Frage gibt. Nichts weniger als die Weltformel möchte er finden.

An die rassische Überlegenheit einzelner Völker glaubt zwar heute ohnehin niemand mehr, aber Morris ist ein genauer Mann und beginnt deshalb bei den Affenmenschen. Die seien ausgestorben und haben sich nirgendwo mit dem frühen Homo Sapiens gepaart. Der ist von Afrika weggewandert, und habe zwei Wiegen der Zivilisation besiedelt: Den fruchtbaren Halbmond im Nahen Osten und kam bis nach Asien. Biologisch haben also Westler und Ostler den gleichen Ursprung, beide sind gleich geschickt und neugierig und ticken auch genauso.

Die vergangenen zehn-, fünfzehntausend Jahre hatte aber der Westen die Nase vorne. Wobei der Begriff „Westen“ für Morris all jene Gesellschaften meint, die aus den ursprünglichen Siedlungsgebieten des fruchtbaren Halbmondes entstanden: also, der Westen reicht von Europa bis in den Nahen Osten, vom Irak bis Amerika, von Russland bis nach Afrika. Der Osten ist ursprünglich Peking und Umgebung. Später China, Südostasien, Japan, Ozeanien.

Der Westen geht früh in Führung. Und der Grund dafür war simple Geographie. Der gesellschaftliche Fortschritt begann in den fruchtbarsten Regionen, in denen es auch noch das größte Angebot an kultivierbaren Pflanzen gab. Mit zunehmender Entwicklung spielte die Lage am Mittelmeer eine große Rolle. Noch später war die atlantische Lage von Vorteil. Also: Geographie ist über viele Jahrtausende das Entscheidende. Aber Morris hat natürlich noch ein paar Muster mehr gefunden: Wenn eine Zivilisation an die Grenze ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gelangte, weil etwa ihre Institutionen nicht mehr ausreichten, wachsende Aufgaben zu meistern, dann konnte sie den Stand der Entwicklung nicht einfach halten. Entweder gelang es ihr, sich durch institutionelle oder technologische Revolutionen an die neuen Aufgaben anzupassen, oder sie stürzte sehr schnell ab. Sehr oft hatten die peripheren Gegenden dann einen Vorteil gegenüber dem alten Zentrum. Weil sie nachahmten, was gut funktionierte, aber auch Neues dazu arrangierten. So rückte das „Zentrum“ des Westens von Peripherie zu Peripherie: Von den Griechen nach Rom, von Rom nach Kontinentaleuropa, dann nach England und zuletzt nach Amerika. Morris nennt das den „Vorteil der Rückständigkeit“.

Freilich, dass die Römer „fortschrittlicher“ waren als die Jäger und Sammler der Frühgeschichte, ist nicht schwer zu erraten. Aber wie misst man, wer die Nase vorne hat, wenn das nicht so klar ist? Morris führt hier eine Reihe von „harten“ Kategorien ein. Erstens, die Energieausbeute. Zweitens, den Grad der Verstädterung, vor allem vergleicht er, wo in welchem Zeitraum die größten Städte waren – und zwar nicht, weil es so viel angenehmer ist, in überfüllten Städten zu leben, sondern weil die Fähigkeit, Millionenstädte zu unterhalten, ein Hinweis auf die organisatorischen Fähigkeiten eines Gemeinwesens ist, usw. Anhand dieser objektiven Faktoren kommt Morris zu eindeutigen Tatbeständen: etwa, dass der Westen tausende Jahre einen Entwicklungsfortschritt hatte; zweitens, dass die Entwicklung in Ost und West etwa 1000 v.Chr. abgebrochen ist und deren Stand erst knapp vor der Zeitenwende wieder erreicht wurde. Dass der Westen nach dem Untergang des römischen Imperiums erst eineinhalb Jahrtausende später wieder das vorangegangene Entwicklungsniveau erreichte. Dass der Westen nicht „prinzipiell“ führend ist, weil rund tausend Jahre lang, bis ca. 1500 n. Chr., der Osten die Nase vorne hatte. Und dass, in Ost und West, die Kurve der gesellschaftlichen Entwicklung, die zuvor jahrtausendelang recht flach verlief, steil nach oben zeigte.

All das ist faktenreich, anekdotenstark und brillant geschrieben. Man liest es mit Gewinn. Gleichwohl hat man sich all das schon vorher irgendwie so gedacht. Manches, worauf der Autor insistiert, etwa, dass die Regierungsform, Demokratie oder Autokratie auf lange Sicht keinerlei Einfluss auf die Entwicklung habe, überzeugt nicht vollends. Vor allem aber macht uns Morris‘ Extrapolation seiner Weltformel in die Zukunft nicht wirklich schlau: Läuft alles weiter, hat der Osten den Westen spätesten 2103 überholt. Dann herrscht der Osten. Möglich ist aber auch, so der Autor, dass das Muster der Geschichte an sein Ende gekommen ist. Mit dem Aufstieg Chinas holt die letzte „Peripherie“ der Weltgeschichte auf, ab nun ist die ganze Welt Zentrum. Oder wir scheitern allesamt daran, dass wir an eine Decke stoßen und das Rearrangement nicht hinkriegen. Dann folgt wohl nicht Stagnation, dann droht ein rasanter Absturz. So zirka wie vor 3000 Jahren, nur ärger. Morris Universalgeschichte lehrt: So könnte es kommen. Oder anders. Na dann.

Ian Morris: Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden. Campus-Verlag, Frankruft, 2011, 656 Seiten, 25,60.- Euro

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